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Full text of "Die Memoiren des letzten Königs von Polen, Stanisaw August Poniatowski. [Übers. von I. v. Powa, eingeleitet von A. von Guttry]"

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KATHLEEN  MADILL  BEQUEST 


POLNISCHE    BIBLIOTHEK 

BEGRÜNDET  UND  HERAUSGEGEBEN VON 

D  R.  A.  V.  GÜTTRY,  W.  V.  K  O  S  G  I  E  L  S  K  I 

ZWEITE  ABTEILUNG  /  ERSTER  BAND 

DIE  MEMOIREN  KÖNIG  PONIATOWSIUS 

ÜBERSETZT     VON    I.     v.     P  O  W  A 

EINGELEITET  VON  A.  v.GUTT  RY 

MIT  32   BILDBEIGABEN 


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in  2010  with  funding  from 

University  of  Toronto 


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DIE  MEMOIREN 

DES 
LETZTEN  KÖNIGS  VON  POLEN 

STANISLAW  AUGUST 

PONIATOWSKI 

ERSTER  BAND 


3 


GEORG  MÜLLER  VERLAG  MÜNCHEN 


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DK 

AUS 

Do,™  nC  ^ 


ffSITY 


INHALTSVERZEICHNIS 

ERSTER  TEIL 

ERSTES  KAPITEL         3 

Meine  Kindheit.  —  Ursachen  meiner  Gefangennahme. 

—  Charakter  meiner  Mutter.  —  Meine  Erziehung.  — 
Sliwicki.  —  Meine  erste  Reise.  —  Notwendigkeit  eines 
Feldzugs.  —  Mein  Eid.  —  Kaunitz.  —  Löwendal  —  Mo- 
ritz von  Sachsen.  —  Berg-Op-Zoom.  Seigneur  de  Court. 

—  Bouquet.  —  Breda.  —  Das  holländische  Lager.  — 
Begeisterung  der  Holländer  für  den  Prinzen  von  Ora- 
nien.  —  Aachen.  —  Meine  Erkrankung.  —  Rückkehr 
nach  Warschau.  —  Reichstag  unter  dem  Vorsitz  von 
Siemieriski  vom  Jahre  1748. 

ZWEITES  KAPITEL 19 

Porträt  des  Fürst-Kanzlers  Czartoryski.  —  Heirat  mei- 
ner jüngsten  Schwester.  —  Porträt  meines  Schwagers 
Branicki.  —  Porträt  des  Fürsten  Sapieha.  —  Porträt 
Sulkowskis  und  des  Grafen  Brühl.  —  Vervollkomm- 
nung meiner  Erziehung  durch  meinen  Onkel,  den 
Kanzler.  —  Beschreibung,  wie  zu  jener  Zeit  unsere 
Tribunale  zusammengesetzt  wurden.  Bericht,  was  im 
Jahre  1749  dabei  geschah.  —  Edle  Handlung  Mokro- 
nowskis.  —  Porträt  der  Kastellanin  von  Kaminsk.  — 
Porträt  Wielopolskis,  des  Kronfähnrichs.  —  Betrach- 
tungen über  seine  Gleichgültigkeit  gegenüber  Neuig- 


keiten.  —  Erste  Erwähnung  Kavserlings.  Sein  Ein- 
fluss  auf  meine  Bildung.  —  Sein  Rat.  —  Ich  werde 
nach  Berlin  geschickt.  —  Lieberkühn.  —  Bülow.  — 
Die  Frauen  in  Berlin.  —  Der  König  von  Preussen.  — 
Sans-Souci.  —  Erste  Erwähnung  des  Chevalier  Wil- 
liams.  —  Mniszech  heiratet  Brühls  Tochter. 

DRITTES  KAPITEL 5i 

Zum  erstenmal  Landbote.  —  Ursache  der  Auflösung 
des  ausserordentlichen  Reichstags  vom  Jahre  1750.  — 
Meine  Beziehungen  zu  Williams  werden  inniger.  — 
Meine  Reise  nach  Sachsen.  —  Reschreibung  des  Auf- 
enthalts in  Hubertusburg.  —  Erste  Erwähnung  der  Grä- 
fin Brühl.  —  Meine  erste  Reisenach  Wien.  —  Das  Haus 
Dietrichstein.  Das  Haus  Harrach.  —  Von  Zinzendorf.  — 
Graf  Firmian.  —  Prinz  Joseph  Wenzel  Lichtenstein.  — 
Luchesi.  —  Die  Prinzessin  von  Savoyen.  —  Fräulein 
Kotuliriska.  —  Rückkehr  nach  Polen.  —  Lubnice.  — 
Skizze  eines  Porträts  des  Fürsten  Czartoryski.  —  Seine 
ersten  Gunstbezeugungen.  —  Sein  Porträt  nach  den 
Aussagen  meiner  Mutter  und  meinen  eigenen  Beobach- 
tungen. —  Bild  meiner  Familie  bis  zum  Jahre  i"]Si. 

—  Porträt  meines  Vaters.  —  Als  Kommissar  in  Badom. 

—  Erste  Beise  nach  Fraustadt.   —  Mein  Landtag  von 
Lomza. 

VIERTES  KAPITEL 83 

Durchreise  des  Königs  in  Bialystok  im  Jahre  1752.  — 
Jagd  auf  Auerochsen.  —  Das  Abenteuer  von  Chorosz- 
cza.  —  Reichstag  von  Grodno  1752.  —  Reschrei- 
bung des  Lebens  in  Grodno.  —  Beschreibung  des  Hau- 
ses RadziwiH.  —  Heirat  des  Generalwachtmeisters  Prin- 
zen Lubomirski.  —  Umrisse  des  Porträts  der  Gross- 
marschallin.  —  Meine  Abreise  im  Jahre  1753.  —  Ich 
nehme  die  Przemvsler  Starostei  an.  —  Durchreise  durch 
Ungarn.  —  Zweiter  Aufenthalt  in  Wien.  —  Flemming, 
Kayserling,  Williams.  —  Krankheit  des  letzteren.  — 

VI 


Ankunft  und  Porträt  des  Fürsten  Kaunitz.  —  Porträt 
Maria  Theresias.  —  Meine  Ankunft  in  Sachsen.  Das 
Lager  von  Ibickau.  —  Mein  Streit  mit  Lichtenstein.  — 
Meine  Reise  mit  Williams.  Hannover.  —  Im  Haag.  — 
Sir  Yorke,  Gesandter  Englands.  Graf  Bentinck.  Prinz 
Ludwig  von  Braunschweig.  Das  Triumvirat.  —  Der 
Gerichtsschreiber  Fagel.  Der  Admiral  Shryver.  Diebei- 
den Bürgermeister  Hop  und  de  Dieu.  —  Kauderbach. 
Der  Jude  Svasso.   —  Cröning. 

FÜNFTES  KAPITEL 107 

Ankunft  in  Paris.  Madame  de  Bezenval.  —  Madame 
de  Broglie.  Ibr  Bruder,  Baron  de  Bezenval.  Graf 
Friese.  —  Mylord  Albemarle.  —  Herzogin  de  Brancas. 

—  Herzog  von  Richelieu.  —  Ludwig  XV.  Die  Kö- 
nigin. —  Madame  de  Pompadour.  Der  Dauphin,  Va- 
ter Ludwigs  XVI.  Seine  Frau.  Seine  Schwestern.  — 
Marschall  de  Noailles.  Seine  Fragen.  Mein  Abenteuer. 

—  Madame  Geoffrins   Rüge.   —  Reise  nach  Pontoise. 

—  Madame  de  la  Ferte-Imbault.  —  Porträt  von  Ma- 
dame Geoffrin.  —  Montesquieu.  —  Fontenelle.  — 
Der  Herzog  de  Gevres.  Französische  und  italienische 
Musik.  Exil  des  Parlaments.  —  Prinz  Conti.  —  Sein 
Sohn  und  seine  Schwester,  die  Herzogin  von  Orleans. 

—  Der  Herzog  von  Orleans.  —  Sein  Hof.  —  Abbe  Al- 
laire.  —  Marschall  de  Belle-Isle.  —  Herzog  de  Niver- 
nais  und  Graf  de  Gisors.  —  Mademoiselle  de  Charo- 
lais.  —  Mahnung  zur  Bescheidenheit  für  jene,  die 
nach  Paris  gehen.  —  Fontainebleau.  —  La  Chetardie 
und  Valory.  —  Jakubowski.  —  Vorstellung.  —  My- 
lord North.  Mylord  Dartmouth.  —  Versailles.  Der 
Louvre.  Die  Künste.  Madame  de  Pompadour.  Mon- 
sieur de  Marigny.  —  Allgemeine  Konversation  in  Pa- 
ris. Nationalcharakter.  —  Sympathie  der  Polen  für 
die  Franzosen.  —  La  Tour.  Abbe  Bartheiemi.  D'Alem- 
bert.  Präsident  Henault.  —  Der  Tanzmeister  Marcel. 

VII 


—  Herzog  de  Cboifeul.  —  Kapitän  Stanhope.  Meine 
Abreise.  —  Cbantilly. 

SECHSTES  KAP1TFI i47 

Überfahrt  nath  DoTfr.  Canterhury.  —  Ankunft  in 
London.  Chevalier  Scbaub.  —  Das  Oberhaus.  _  Der 
Kanzler  Yorke.  Lord  Hardwick.  —  Seine  Kinder  und 
sein  Schwiegersohn  Mylord  Anson.  —  Tragisches 
Ende  von  Charles  Yoike.  —  Lord  Slanley.  —  Seine 
Koteiie.  Dodingtcn.  —  Mylord  Strange.  ~  Hahnen- 
kampf.  —  Ich  werde  Georg  II.  vorgestellt.  Sein  Por- 
trät. —  I'ope  ist  ihm  iibel  gesinnt.  Die  daraus  fol- 
gende politische  Wii kurig.  —  Der  Herzog  von  Cum- 
berland.  Der  Herzog  von  Newcastle.  —  Sir  Walpole. 

—  Wahl  zu  Weslminster.  —  Pitt.  —  Meine  Tournee 
nach  Bath,  Wilton,  Oxford,  Stone-Hinge.  —  Sir  Al- 
len, dessen  Haus  Pope  bewohnt  hatte.  Mylord  Little- 
ton.  %—  Stow.  Mylord  Temple.  Sir  Grenville.  — 
Englische  Erziehung.  —  Pitts  Egoi.'mus.  —  Verände- 
rung der  englischen  Sitten.  —  Erziehung  der  Matro- 
sen.  —  Mylord  Chestcifield.   —  Myloid  Granville. 

SIEBENTES  KAP1TEI 1 8 1 

Meine  Abreise.  Aiikunft  in  Hollard.  Bangigkeit.  — 
Der  Jude  Tobias  Boas  kommt  mir  zu  Hilfe.  —  Wohl- 
wollender Empfang  meiner  Mutter.  —  Der  Ostrog- 
Eeichstag.  —  Frankreichs  Absichten.  —  Die  Woiwo- 
din  von  Smolerisk.  —  Die  Fürstin- Generalwachtmei- 
sterin.  —  Moralischer  und  politischer  Stand  meiner 
Familie.  —  Das  Tribunal  von  Wilno  unter  Flemming. 

—  Wilno  und  eine  Beassumption  in  Wilno.  —  Par- 
teigeist in  Litauen.  —  Flemmings  und  Sapiehas  Eifer- 
sucht. —  Fraustadt.  —  Ich  werde  Truchsess.  —  Mein 
Bruder  hält  mir  eine  Predigt.  —  Bendezvous.  Aben- 
teuer. —  Abi  eise  nach  Bussland. 


VIII 


ZWEITER  TEIL 

ERSTES  KAPITEL .      .    20.5 

Politische  Erziehung  bei  Williams.  —  Das  Abenteuer 
der  Unterschrift.  High  Displeasure.  —  Douglas  und 
Messonier.  —  Disput  über  den  freien  Willen.  Lehn- 
dorff.  —  Lew  Alexandrowitsch.  —  Erste  Zusammen- 
kunft. —  Porträt  der  Kaiserin  Katharina  II.  —  Ver- 
trauliche Mitteilung  an  Bestuschew.  Sein  Porträt.  Por- 
trät von  Madame  Bestuschew.  —  Porträt  der  Kaiserin 
Elisabeth.  —  Abriss  der  russischen  Geschichte  seit  dem 
Tode  Peters  I.  —  Porträt  von  Katharina  I.  —  Porträt 
von  Alexej  Razumowski.  —  Porträt  des  Hetmans  Cy- 
rill  Razumowski.  —  Erziehung  und  Porträt  Peters  III. 

—  Hörn.  —  Mein  Porträt.  —  Besuch  in  Oranien- 
baum.  Katharinas  Rivalität  mit  Ludwig  XIV.  —  Lek- 
türe der  Pucelle.  —  Windpocken.  —  Kanzler.  Ester- 
hazy.   Meine  Abreise.   Hörn.   Riga.  —  Die  Tabatiere. 

ZWEITES  KAPITEL 2 53 

Livländischer  Landtag.   —  Flemmings  Marschallsamt. 

—  Struppen.  —  Der  nicht  zustandegekommene  Reichs- 
tag. —  Meine  Mission.  —  Meine  Cousine.  —  Abreise. 
Porträt  von  Ogrodzki.  —  Riga.  Apraxin.  Peter  Panin. 

—  Meine  Ansprache.  —  Rührende  Worte  Williams'. 

—  Apraxins  Verhalten.  —  Unglück  Augusts  III.,  Sach- 
sens und  Polens.  —  Die  Verschlechterung  der  Mün- 
zen in  Polen.  —  Eifer  der  Juden  für  den  König  von 
Preussen. 

DRITTES  KAPITEL 277 

Ursachen  des  Krieges  von  1756.  Härten  der  preus- 
sischen  und  österreichischen  Kriegführung.  —  Ent- 
schädigungsansprüche Augusts  III.  —  Antwort  auf 
seine  Forderungen. 

VIERTES  KAPITEL 297 

Porträt  von  Monsieur  l'Hüpital.  —  Porträt  des  Grafen 

IX 


de  Broglie.  —  Brief  des  Kanzlers  Kaunilz  an  Esterhazy, 
meine  Person  betreffend.  —  Traktat  zwischen  dem 
Wiener  Hof  und  dem  Grossfürsten  vom  i  5.  Juli  1757. 

—  Memorial  Broglies  gegen  mich.  —  Meine  Abberu- 
fung.  Das  Schreiben  des  Königs.  —  Meine  Antwort-. 

—  Brief  meines  Vaters.  —  Brief  an  meine  Familie  vom 
2.  Dezember.  —  Rossbach.  —  Letzte  Zusammenkunft 
mit  "Williams.  —  Wiedereinsetzung  in  mein  Amt.  — 
Apraxin  in  Ungnade.  —  Billetts  der  Grossfürstin  un- 
ter Apraxins  Papieren.  —  Niederkunft  der  Grossfür- 
stin. —  Schlittenunfall. 

FÜNFTES  KAPITEL 317 

Note  ans  Ministerium  vom  1 3.  Februar  1708  über  die 
Ausnützung  der  Eroberung  Preussens  zugunsten  Sach- 
sens. —  Note  vom  17.  März  über  die  Approvisionie- 
rung  des  Heeres  und  über  die  Schonung  der  Bewohner 
Polens.  —  Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  7.  März 
über  Elbing  und  Danzig.  Bestuschew  in  Ungnade.  — 
Brief  an  Brühl  vom  1^.  März  wegen  einer  Verzöge- 
rung der  Reise  des  Prinzen  Karl.  Die  Okkupation  von 
Elbing.  —  Brief  an  Brühl  vom  17.  März.  Die  Reise  des 
Prinzen  Karl  soll  verschoben  werden.  Iwan  Tscherni- 
schew  wird  zu  seinem  persönlichen  Dienst  bestimmt. 
Meine  Erkrankung.  —  Brief  an  Brühl  vom  2 1 .  März. 
Besuch  "Woronzows.  Generalleutnant  Tschernischew 
an  Stelle  Saltykows  Befehlshaber  des  neuen  Korps. 
Russland,  Österreich  und  Frankreich  sollen  Polen  die 
Restitution  Elbings  und  seiner  Rechte  garantieren.  — 
Rrief  an  Brühl  vom  if\.  März.  Schreiben  des  Kanzlers 
Malachowski  und  des  Bischofs  von  Kiew  Soltyk.  Jeden 
Samstag  Audienztag  bei  Woronzow.  Die  Regimenter 
von  Ingermanland  und  Astrachan  marschbereit.  Rück- 
zug der  Franzosen  aus  Hannover.  Projekt  einer  Ver- 
teidigung der  Ostsee  gemeinsam  mit  Schweden.  Projekt 
mit  Dänemark  bezüglich  Holsteins.  Brockdorf  wird 
begünstigt. 

X 


SECHSTES  KAPITEL 335 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  28.  März.  Ankunft 
seines  Sohnes.  Elbing,  Danzig.  Der  König  soll  einen 
Brief  an  Elisabeth  schreiben.  —  Brief  an  Brühl  vom 
3i.  März.  Sequestration  der  Güter  der  abwesenden 
preussischen  Minister.  Beitritt  Schwedens  zur  grossen 
Allianz.  Elisabeth  will  keine  neuen  österreichischen 
Subsidien  und  will  die  Eroberungen  in  Deutschland  in 
eigenem  Namen  und  nicht  im  Namen  Österreichs  ma- 
chen. Olsuwjef  reist  dem  Prinzen  Karl  entgegen.  Ester- 
hazy  und  vor  allem  l'Höpital  verlangen  Gleichstellung 
mit  ihm.  —  Brief  an  Brühl  vom  4-  April.  Sequestra- 
tion der  Güter  der  preussischen  Minister.  General 
Yorke  soll  zum  König  von  Preussen  gesandt  wer- 
den. —  Brief  an  Brühl  vom  7.  April.  Erklärung 
Frankreichs,  der  Bückzug  aus  Hannover  bedeute  kei- 
nen Abfall.  Belagerung  von  Schweidnitz.  —  Brief  an 
Brühl  vom  1 4.  April.  Das  Zeremoniell  der  Gesandten. 
Schlimme  ünpässlichkeit  Elisabeths.  Langsamkeit  der 
militärischen  Hilfe  Russlands.  Die  Affäre  Bestuschew. 
—  Brief  an  Brühl  vom  19.  April.  Der  Prinz  macht 
Besuche.  Buturlin  und  Iwan  Tschernischew  Begleiter 
des  Prinzen.  Plätze  in  der  Karosse.  Streit  zwischen 
la  Chinal,  Lubomirski  und  Rzewuski.  Auswechslung 
der  schwedischen  Ratifikationen.  Abreise  des  jungen 
l'Höpital.  Stambke  ist  am  18.  abgereist.  Westphal 
kommt  nicht.  Brockdorf;  quod  tibi  hodie,  mihi  cras. 
Zwei  Beisebetten  für  Bestuschew. 

SIEBENTES   KAPITEL 353 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  2  1 .  April.  Der  Aus- 
tausch von  Ostfriesland  unmöglich.  Geheime  Feldzugs- 
pläne. —  Brief  an  Brühl  vom  22.  April.  Militärische 
Massnahmen  und  Projekte.  Ankunft  des  türkischen 
Gesandten.  _  Brief  an  Brühl  vom  20.  April.  Erhö- 
hung des  Rubelkurses  auf  19  Szostaks.  Eine  Kammer- 

XI 


frau  der  Grossfürstin  wird  arretiert.  Eine  Unterredung 
mit  der  Kaiserin  soll  alles  in  Ordnung  bringen.  — 
Brief  an  Brühl  vom  28.  April.  Die  Bussen  brauchen 
die  sächsische  Kavallerie.  Danzig.  Mir  wird  ein  Urlaub 
bewilligt.  Ich  erbitte  das  Amt  eines  Landboten  von 
Livland.  Ich  bedanke  mich  für  einen  Wechsel  über 
4ooo  Bubel.  —  Brief  an  Brühl  vom  2.  Mai.  Sächsische 
Kavallerie  soll  zur  russischen  Armee  stossen.  Danzig 
soll  nicht  mit  Gewalt  eingenommen  werden.  Der  Kö- 
nig soll  selbst  an  Elisabeth  schreiben.  Die  Danziger 
sollen  auf  der  Ablehnung  einer  Garnison  bestehen. 
Ankauf  von  Pferden  in  Preussen.  Verzögerung  der  Be- 
zahlung des  in  Polen  angekauften  Getreides.  Lob  des 
Prinzen  Karl.  Elisabeth  beschenkt  ihn.  —  Brief  an 
Brühl  vom  5.  Mai.  Danzig  könnte  eine  polnische  Gar- 
nison erhalten,  um  keine  andere  aufnehmen  zu  müs- 
sen. Versuch,  Brockdorf  das  blaue  Band  des  polnischen 
Ordens  zukommen  zu  lassen.  —  Brief  an  Brühl  vom 
9.  Mai.  Versöhnung  der  Generäle  Fermor  und  Browne. 
Küstrin  soll  nicht  belagert  werden.  Statt  des  Ordens 
soll  Brockdorf  eine  Pension  erhalten. 

ACHTES  KAPITEL 3;3 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  14.  Mai.  Differenz 
mit  dem  türkischen  Gesandten  wegen  der  Etikette. 
Iwan  Schuwalow  besucht  Keith.  Prinz  Karl  soll  den 
Austausch  von  Holstein  nahelegen.  —  Brief  an  Brühl 
vom  16.  Mai.  Die  Vereinigung  der  schwedischen  Es- 
kader  mit  der  russischen  gesichert,  ebenso  ein  neuer 
Transport  schwedischer  Truppen  nach  Pommern. 
L'Hopitals  Kredit  sinkt.  —  Brief  an  Brühl  vom  19.  Mai. 
Danzig.  Sächsische  Kavallerie.  Fürst  Wolkoriski  künf- 
tiger Armeeintendant.  Friedensaussichten.  Wiederauf- 
nahme des  Verfahrens  gegen  Apraxin.  Aufhebung  des 
Sequesters  von  den  Besitzungen  der  vier  preussischen 
Minister.  —  Brief  an  Brühl  vom  23.  Mai.  16  000  Bus- 
sen haben  die  Weichsel  passiert.  Elisabeths  Gewissens- 

XII 


bisse  wegen  Bestuschew.  Ich  beglückwünsche  Brühl 
zur  Kassation  der  Verwaltung  von  Ostrog.  —  Brief  an 
Brühl  vom  3o.  Mai.  KorfF Gouverneur  von  Königsberg. 
Wolkoiiski  übernimmt  ein  Kommando  bei  Smolensk. 
Der  türkische  Gesandte  besteht  auf  seiner  Weigerung. 
Olsufjew  im  Aufsteigen,  er  arbeitet  bereits  gegen 
Woronzow.  —  Brief  an  Brühl  vom  4-  Juni.  Danzig. 
Meine  Bemühungen  bei  Woronzow,  um  die  Bussen 
zum  Vorrücken  zu  veranlassen.  Seine  Versprechungen. 
Zweite  Unterredung  Elisabeths  mit  der  Grossfürstin. 

NEUNTES  KAPITEL 3  89 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  1  3.  Juni.  Das  Unter- 
nehmen gegen  Danzig  wird  fallen  gelassen.  Der  König 
von  Dänemark  widersetzt  sich  der  Aufstellung  der  ver- 
einigten russischen  und  schwedischen  Flotten  auf  der 
Beede  von  Kopenhagen.  Das  Motiv  des  sonderbaren 
Verhaltens  des  türkischen  Gesandten.  Abreise  des  jun- 
gen Hofes  nach  Oranienbaum.  —  Brief  an  Brühl  vom 
16.  Juni.  Der  Vorschlag  des  dänischen  Königs,  die 
Flotten  bei  Falsterbo-BifF  zu  stationieren,  wird  ange- 
nommen. Die  Pforte  erteilt  ihrem  Gesandten  den  Be- 
fehl, sich  in  seinem  Verhalten  ganz  nach  seinem  Vor- 
gänger zu  richten.  —  Brief  an  Brühl  vom  20.  Juni. 
Beginn  der  Belagerung  von  Olmütz.  Aufhebung  der  Se- 
questration von  den  Besitzungen  der  vier  preussischen 
Minister.  Alexej  Bazumowski  gibt  einen  Ball  für  den 
Prinzen  Karl.  —  Brief  an  Brühl  vom  23.  Juni.  24000 
Dänen  werden  nach  Holstein  geschickt,  um  es  vor  einer 
Invasion  zu  schützen.  Peter  SchuwaloW  gibt  einen 
Ball  zu  Ehren  des  Prinzen  Karl.  Stapellauf  eines  Schif- 
fes von  100  Kanonen.  —  Brief  an  Brühl  vom  27.  Juni. 
Der  türkische  Gesandte  wird  von  der  Pforte  zurecht- 
gewiesen. Mein  Streit  mit  l'Höpital  wegen  Danzig. 

ZEHNTES  KAPITEL 4o3 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  4-  Juli.  Ich  verlange 

XIII 


einen  Pass  für  mein  Silber.  Erster  Zusammenstoss  der 
Preussen  mit  den  Russen  Fermors.  Ratifikation  der 
Flottenkonvention  von  Elisabeth  unterzeichnet.  Prinz 
Karl  bei  der  russischen  Flotte  in  Kronstadt.  —  Brief 
an  den  Grafen  Brühl  vom  1 1 .  Juli.  Erneuerung  des 
Traktats  mit  Schweden.  Weigerung,  die  rückständi- 
gen Gelder  zu  zahlen.  Bestuschew  erhält  i5oo  Ru- 
bel und  5  Rubel  täglich.  —  Brief  an  Brühl  vom 
14.  Juli.  Aufhebung  der  Belagerung  von  Olmütz.  Die 
Schlacht  bei  Krefeld.  Ausfahrt  der  russischen  Flotte. 
Audienz  des  türkischen  Gesandten.  Abreise  des  Prin- 
zen Karl.  —  Brief  an  Brühl  vom  1  8.  Juli.  Iwan  Schu- 
walow  will  nicht  Vizekanzler  werden.  Rzewuski  und 
ich  gehen  noch  einmal  nach  Peterhof.  —  Brief  an 
Brühl  vom  2  5.  Juli.  Näheres  über  die  Auf hebung  der 
Belagerung  von  Olmütz.  Schwedische  Rekruten  wer- 
den von  den  Preussen  in  einer  Danziger  Vorstadt  auf- 
gehoben. —  Brief  an  Brühl  vom  28.  Juli.  General  Re-  • 
zanow  ist  an  der  Aufhebung  dieser  schwedischen  Re- 
kruten schuld.  Fermors  Langsamkeit.  Brockdorfs  und 
Narischkins  Kredit  im  Sinken.  —  Brief  an  Brühl  vom 
4.  August.  L'Hopital  gibt  Brockdorf  den  Bat,  sich  zu 
entfernen. 

ELFTES  KAPITEL 4i5 

Anekdoten  über  Bernardi  und  Bestuschew.  —  Hoch- 
zeit eines  Hoffräuleins.  —  Meine  Krankheit.  —  Boer- 
have.  —  Prinz  Karl  von  Sachsen.  —  Der  Chevalier 
d'Eon.  —  Einsiedel.  —  Die  Gerechtigkeit,  die  er  mir 
trotz  Prasse  widerfahren  Hess.  Das  Abenteuer  des 
Vizespions.  —  Rzewuski.  Zwischenfall  beim  Gesell- 
schaftsspiel „Sekretär".  Branicki.  Mein  Missgeschick 
vom  6.  Juli.   —  Meine  Rückkehr  nach  Polen. 


XIV 


VERZEICHNIS  DER  ABBILDUNGEN 


König  Stanislaw  August  Poniatowski  .  . 

Stanislaw  Poniatowski,  Vater  des  Königs 

Konstanzia  Poniatowska,  Mutter  des  Kö- 
nigs        

Jan  Klemens  Branicki 

Residenz  der  Branickis  in  Bialystok     .  .  . 

Andreas  Poniatowski,  Bruder  des  Königs 

August  II.,  König  von  Polen 

Alexander  Sulkowski 

August  Alexander  Gzartoryski 

Pulawy,  Residenz  der  Czartoryskis     .  .  . 

August  III.,  König  von  Polen 

Choroszcza,  Residenz  der  Branickis    .  .  . 

Stanislaw  Lubomirski 

Marie  Leszczyriska,  Königin  von  Frank- 
reich           .  .  . 

Madame  Geoffrin 

Mademoiselle  de  Charolais 

Josef  Potocki      

Franziskus  Salesius  Potocki       

Karl  Stanislaw  Radziwill      

Michael  Anton  Sapieha 

Grossfürstin  Katharina 

König  Friedrich  II 


Titelbild 
nach  Seite     8 


16 
24 

32 

40 
48 
56 
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72 
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1 12 
120 
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168 
184 
200 
216 
240 
264 

XV 


Kaiserin  Elisabeth  .  ... 
Alexej  Bestuschew  Riuniin 
Peter  Iwanowitsch  Panin 

Graf  Brühl      

Grossfürst  Peter  ... 

Prinz  Karl  von  Sachsen 

Michael  Woronzow 

Grossfürstin  Katharina 

Lew  Alexandrowitsch  Narischkin 

Schloss  Oranienbaum 


nach  Sei 


te   288 

3o4 
3a8 
336 
35a 
36o 
376 
392 
408 
424 


XVI 


0       R       W       O 


R 


Am  Tage  der  heiligen  Katharina,  am  2  5.  Novem- 
ber 1764  wurde  der  litauische  Truchsess  Stanis- 
law August  Poniatowski  als  König  von  Polen  ge- 
krönt,—  am  25.  November  179a  wurde  ihm  vom 
Fürsten  Repnin  die  Abdankungsurkunde  vorgelegt. 
Eine  schmerzliche  Ironie  der  Geschichte  und  eine 
raffinierte  Bosheit  des  Vertrauten  Katharinas. 

Ein  schweres  Erbe  trat  der  einfache  polnische 
Edelmann  an:  die  Erbschaft  der  Sachsen  auf  dem 
polnischen  Thron.  Ein  Land  und  ein  Volk  in  seiner 
tiefsten  Erniedrigung.  Die  „sächsische  Zeit"  war  die 
traurigste  Epoche  der  polnischen  Geschichte,  poli- 
tisch und  kulturell,  im  Inneren  und  nach  aussen. 
August  II.  der  Starke  (1697 — 1733)  und  sein  Sohn 
August  III.  (1734 — 1763)  hatten  das  Reich  an  den 
Rand  des  Verderbens  gebracht.  Politisch  war  das 
Volk  in  einen  sorgenlosen  Schlaf  verfallen,  moralisch 
in  einen  Rausch  versunken,  aus  dem  es  kein  Erwa- 
chen mehr  zu  geben  schien.  Nach  aussen  hin  war  es 
zu  Ohnmacht  und  Passivität  verdammt.  Der  Kultur 
wurde  jede  Entwicklungsmöglichkeit  genommen,  die 
Bildung  vernachlässigt  und  ignoriert. 

Reformen  an  Haupt  und  Gliedern  waren  nötig, 
sollte  das  Land  nicht  einem  sicheren  Untergange  zu- 

XVIII 


steuern  und  zur  leichten  Beute  der  lauernden  Nach- 
barn werden.  Das  begriffen  weitblickende  und  von 
wahren  Vaterlandsgefühlen  getragene  Männer,  raff- 
ten sich  auf  und  gingen  unbekümmert  um  die  An- 
feindung anders  gesinnter  und  in  ihren  zügellosen 
Freiheiten  sich  sonnender  mächtiger  Magnaten  mu- 
tig ans  Werk.  Befruchtend  wirkte  aus  der  Ferne  der 
Einflussund  die  Schriften  des  „philosophe  bienfaisant", 
des  zweimal  zum  polnischen  König  gewählten  und 
wieder  abgesetzten  Stanislaw  Leszczynski,  des  Schwie- 
gervaters Ludwigs  XV.  und  späteren  Herzogs  von 
Lothringen. 

Die  Morgenröte  einer  neuen  Rulturepoche  jedoch 
ging  mit  Stanislaw  Konarski  auf,  der  impulsiv  den 
Ausgang  jeglicher  Reform  in  der  Hebung  der  Bil- 
dung erkannte  und  zu  dessen  Ehren  später  König 
Stanislaw  August  eine  Gedenkmedaille  prägen  Hess 
mit  der  bezeichnenden  Aufschrift:  »sapere  auso" . 
Auf  einer  den  Jesuitenprinzipien  gerade  entgegenge- 
setzten Grundlage  baute  er  sein  grosses  Reformwerk 
des  Schulwesens  auf  und  fand  auch  den  Mut,  gegen 
dievin  Fleisch  und  Blut  des  polnischen  Adelsvolkes 
übergegangenen  aber  verderblichen  Staatseinrichtun- 
gen, vor  allem  gegen  das  unglückselige  „liberum 
veto"  vorzugehen,  an  den  Grundfesten  der  über  alles 
geschätzten  und  vom  Ausland  angestaunten  „golde- 
nen Freiheit"  des  polnischen  Adels  zu  rütteln.  Er 
weckte  das  in  der  Sachsenzeit  eingeschlafene  natio- 
nale Bewusstsein  und  lehrte  das  Volk  wieder,  die  na- 
tionale Ehre  und  Würde  über  alles  hochzuhalten. 

Nun  erkannten  auch  die  Magnaten  den  Marasmus 
der  Sachsenzeit,  erkannten  die  Gefahren  des  Rück- 
schritts und  der  Stagnation.  Es  fanden  sich  Männer, 

XIX 


die  aus  dieser  markzerfressenden  Zeit  hervorgegan- 
gen dennoch  weit  über  ihre  Epoche  hinausragten. 
Charaktere  und  Persönlichkeiten,  die  wohl  dazu  be- 
rufen sein  mochten  und  auch  die  Fähigkeiten  dazu 
besassen,  um  ein  ganzes  Volk  aus  den  Tiefen  zu  he- 
ben und  es  einer  glücklicheren  Zukunft  entgegen  zu 
führen,  Retter  des  Vaterlandes  zu  werden,  die  aber, 
im  Bewusstsein  und  in  der  Überzeugung  ihrer  geisti- 
gen und  auch  materiellen  Überlegenheit,  zu  ausge- 
prägte und  selbstbewusste  Individualitäten  waren,  um 
gemeinsame  Wege  einzuschlagen.  Sie  beschlossen, 
eigene  Wege  zu  gehen,  auf  eigene  Faust  Politik  zu 
machen,  selbst  wenn  es  darauf  ankam,  die  Gegner 
mit  Gewalt  niederzuzwingen,  um  nur  auf  dem  von 
ihnen  als  richtig  erkannten  Wege  zum  Ziele  zu  ge- 
langen. Wäre  der  Erfolg  nicht  ausgeblieben,  —  die 
Geschichte  hätte  ihnen  Recht  gegeben  und  ihre  Mit- 
tel gutgeheissen. 

Zwei  Geschlechter  waren  es  vor  allem,  die  im  da- 
maligen Polen  auf  den  ersten  Plan  hervortraten  und 
die  Rettung  des  Vaterlandes  sich  zur  Aufgabe  stell- 
ten. Beide  wollten  das  Reformwerk  durchführen,  aber 
von  ganz  anderen  politischen  Gesichtspunkten  aus- 
gehend, auf  anderen  Grundlagen  und  zu  stolz,  um 
sich  irgendwo  auf  den  Wegen,  die  sie  beide  zum  sel- 
ben Ziele  führen  sollten,  zu  treffen  und  der  salus 
publica  wegen  Kompromisse  zu  schliessen.  Der  Anta- 
gonismus dieser  beiden  Geschlechter  spitzte  sich 
immer  mehr  zu,  persönliche  Rachsucht,  verbissener 
Ehrgeiz  und  überschäumendes  Temperament  rissen 
sie  mit  sich  fort  und  verdunkelten  das  ersehnte  Ziel. 

Auf  der  einen  Seite  die  Potockis  und  ihr  Anhang, 
die  sogenannte  nationale  oder  patriotische  Partei,  mit 

XX 


dem  Primas  Theodor  und  dem  Grosskronhetman 
Josef  an  der  Spitze  —  später  übernahm  die  Führung 
dieser  Partei  der  Hetman  Jan  Riemens  Branicki  — , 
auf  der  anderen  Seite  die  Czartoryskis,  die  sogenannte 
„Familie",  deren  Häupter  der  litauische  Kanzler 
Michael  und  der  Woivvode  von  Ruthenien  August 
waren.  Zu  dieser  Partei  gehörte  auch  der  Vater  des 
späteren  Königs  Stanislaw  August,  der  begabte  und 
kluge  Stanislaw  Poniatowski,  Woiwode  von  Maso- 
wien  und  Kastellan  von  Krakau,  der  eine  Fürstin 
Czartorvska  zur  Frau  hatte,  also  durch  Verwandt- 
schaftsbande der  „Familie"  angehörte. 

Mit  dem  Einsatz  grosser,  weitgehender  Einflüsse 
und  gestützt  auf  unermessliche  materielle  Mittel  bra- 
chen sich  zwei  Strömungen  Bahn  und  steuerten  auf 
ein  Ziel  zu.  Die  Potockis  glaubten,  in  der  Erhaltung 
des  Status  quo  der  republikanischen  Einrichtungen 
und  lediglich  durch  Aufbesserung  der  zur  Zeit  der 
Sachsenkönige  entgleisten  Formen,  durch  Wiederer- 
weckung der  nationalen  Tugenden  und  des  Staats- 
bürgertums —  selbstredend  im  magnatisch-republi- 
kanischen Sinne  —  das  Heil  des  Vaterlandes  suchen 
zu  müssen,  während  die  politisch  und  kulturell  ihren 
Gegnern  weit  überlegene  „Familie",  deren  Häupter 
gewiegte  Staatsmänner  und  ungewöhnlich  geschickte 
Diplomaten  waren,  die  Staatsform  überhaupt  und 
gerade  die  von  den  Potockis  so  hoch  gehaltenen  Ein- 
richtungen verwarfen  und  nur  in  einer  völligen  Umge- 
staltung des  gesamten  Staatswesens  die  Rettung  des 
Vaterlandes  erblickten.  An  allen  Höfen  Europas  un- 
terhielten sie  ihre  Emissäre,  um  jene  für  ihre  Idee 
zu  gewinnen  und  sich  gegebenen  Falles,  wenn  nötig, 
deren  Unterstützung  zu  sichern.  Im  Lande  selber  pro- 

XXI 


tegierten  sie  die  Sachsen  auf  dein  polnischen  Thron, 
um  so  im  Augenblick  Einfluss  zu  gewinnen,  eine  mög- 
lichst grosse  Anhängerschaft  um  sich  zu  scharen  und 
gestützt  auf  die  Gunst  des  Königs  und  seines  Ministers 
Brühl,  den  der  König  in  Polen  schalten  und  walten 
liess,  alle  wichtigen  Stellen  und  Ämter  mit  ihren  Leu- 
ten zu  besetzen,  also  die  Macht  in  die  Hände  zu  be- 
kommen und  dann  an  das  grosse  Reformwerk  zu 
schreiten.  Dann  hätte  sich  der  Augenblick  ergeben 
müssen,  wo  sie  dem  Lande  ihre  Ideen  hätten  einpflan- 
zen und  sie  in  Tat  umsetzen  können,  das  heisst  ein 
mächtiges,  grosses,  nach  aussen  starkes  und  im  Inne- 
ren fest  gefügtes  und  gesundes  Reich  des  Nordens  er- 
richten. Tatsächlich  gelang  es  ihnen  sehr  bald,  eine 
äusserst  starke  Partei  straff  zu  organisieren.  Das  ge- 
nügte jedoch  nicht,  um  das  grosse  Ziel  zu  erreichen, 
und  zwar  angesichts  der  anarchischen  Zustände  und 
der  Gleichgültigkeit  des  Königs,  der  für  Polen  kein 
Interesse  hatte,  ausser  wenn  es  galt,  eigensüchtige 
Pläne  zu  verfolgen. 

Beide  Parteien  erkannten,  dass  sie  aus  eigenen 
Kräften  das  Vaterland  aus  dem  Marasmus  nicht  wür- 
den heben  können.  Nunmehr  suchten  die  Potockis 
Frankreich,  Schweden  und  die  Türkei  für  sich  zu 
gewinnen,  während  die  Czartoryskis  sich  Russland 
zuwandten,  in  der  Hoffnung,  vermöge  ihrer  geistigen 
Überlegenheit,  ihrer  staatsmännischen  und  diploma- 
tischen Künste,  sich  die  russischen  Politiker  und  Di- 
plomaten gefügig  zu  machen.  Russland  sollte  als  Werk- 
zeug zur  Ausführung  ihrer  Pläne  dienen.  Alle  Hoff- 
nungen setzten  sie  auf  den  Thronfolger  Peter  und 
dessen  Gattin  Katharina,  mit  der  ihr  Neffe  Stanislaw 
August  Poniatowski,  der  damals  als  Gesandter  am 

XXII 


russischen  Hofe  in  Petersburg  weilte,  ein  Liebesver- 
hältnis angeknüpft  hatte. 

Die  Weltgeschichte  schien  plötzlich  allen  Reform- 
plänen gewogen  zu  sein.  Es  brach  der  Siebenjährige 
Krieg  aus.  Für  den  neutralen  Staat  Polen  wäre  es 
der  gegebene  Moment  gewesen,  die  Zeit,  während 
der  die  Nachbarn  in  Kriegswirren  verwickelt  waren, 
zur  inneren  Gesundung  und  Aufrichtung  auszunützen. 
Das  tragische  Geschick  Polens  fügte  es  anders.  Obwohl 
unbeteiligt,  litt  Polen  furchtbar  unter  den  Lasten  des 
Krieges.  Russland  und  Preussen  scheuten  sich  nicht, 
es  rücksichtslos  auszusaugen  und  zu  verwüsten.  Die 
Czartoryskis,  die  sich  gerade  damals  mit  dem  Hofe 
arg  verfeindet  hatten,  waren  zu  schwach,  um  auf  ei- 
gene Faust  ihre  Pläne  auszuführen,  und  August  III. 
sowie  seiner  Anhängerschaft  war  die  in  der  polni- 
schen Geschichte  stets  so  hoch  gehaltene  salus  pu- 
blica, im  Grunde  genommen  also  auch  jede  Reform, 
völlig  gleichgültig. 

Nach  dem  Tode  der  Kaiserin  Elisabeth  wähnte 
sich  die  „Familie"  endlich  am  Ziele  ihrer  Hoffnungen. 
Als  vollends  Katharina  sich  zur  Zarin  gemacht  hatte, 
gewannen  sie  auch  im  Inneren  die  Oberhand  und  tri- 
umphierten über  ihre  Gegner.  Katharina  gewährte 
ihnen  die  verlangte  Hilfe  und  Unterstützung,  wenn 
auch  nur  mit  unangenehmen  Restrikten.  Nach  dem 
Tode  Augusts  III.  empfahl  sie  —  zum  Reweise  ihres 
besonderen  Wohlwollens  —  Stanislaw  August  Ponia- 
towski  als  König  von  Polen.  Das  bedeutete  eine 
schmerzliche  Enttäuschung  für  die  „Familie",  die 
den  Fürsten  August  Czartoryski  oder  dessen  Sohn, 
den  Fürsten  Adam,  auf  dem  Throne  sehen  wollte. 
Als  aber  Katharina  nach  dem  kurz  darauf  erfolgten 

XXIII 


Abschluss  eines  Bündnisses  mit  Friedrich  IL,  das  auf 
ein  gemeinsames  Vorgehen  in  den  polnischen  Ange- 
legenheiten und  auf  eine  energische  Verhinderung 
der  Reformen  hinauslief,  zusammen  mit  diesem  auf 
der  Wahl  Stanislaw  August  Poniatowskis  bestand, 
mussten  die  Czartoryskis  sich  fügen  und  sich  wohl 
oder  übel  mit  der  Erhebung  ihres  Neffen  zum  polni- 
schen König  abfinden.  Im  stillen  hofften  sie,  wenn 
auch  nicht  den  grossen  Reformator,  den  Erfüller  ih- 
rer Ideen,  so  doch  ein  Werkzeug  zur  Ausführung 
ihrer  Pläne  in  ihm  zu  finden.  Die  Gegenpartei  konnte 
im  entscheidenden  Moment  keine  Einigung  im  Schosse 
ihrer  Anhängerschaft  erzielen,  da  sowohl  das  dama- 
lige Haupt  der  Partei,  Hetman  Branicki,  wie  auch  ein 
Potocki  und  ein  Lubomirski  sich  auf  den  Königsthron 
schwingen  wollten. 

Die  Motive,  von  denen  Katharina  sich  leiten  Hess, 
waren  schlau  erdacht  und  weitsichtig.  Es  gab  Leute, 
die  in  ihrem  Vorgehen  die  übertriebene  Leidenschaft 
einer  Kaiserin  erblickten,  die  politische  Spielerei  einer 
Frau,  die  ihren  Geliebten  für  die  Stunden  der  Lust 
und  der  Liebe  kaiserlich  belohnen  wollte.  Das  war 
eine  absolute  Verkennung  ihrer  Persönlichkeit.  Sie 
kannte  Poniatowskis  Charakter,  sie  wusste  genau, 
dass  derjenige,  der  in  Polen  sich  weder  auf  die  Ver- 
ehrung und  Achtung  des  Volkes  stützen,  noch  die 
Gunst  der  stolzen-  Magnaten  erwerben  konnte,  dass 
derjenige,  den  weder  Ruhmestaten  umstrahlten,  noch 
ein  verdienstvoller,  den  polnischen  Adel  blendender 
alter  Name  über  die  Masse  emporhob,  ein  gefügiges 
Werkzeug  in  den  Händen  seiner  Begünstigerin  wer- 
den musste,  —  sich  ihr  in  allem  fügen  würde,  da  sie 
ihn  mit  Hilfe  ihrer  Bajonette  auf  den  Thron  erbo- 

XXIV 


ben  hatte.  Die  Antwort,  die  Katharina  Baron  de  Bre- 
teuil  gab,  als  dieser  ihr  vorschlug,  mit  Frankreich  ein 
Abkommen  über  die  bevorstehende  polnische  Köuigs- 
wahl  zu  treffen,  enthüllte  ihre  herrschsüchtigen  Pläne 
zur  Genüge:  „Tavenir  vous  apprendra,  sil  appartient 
ä  quelque  autre  que  moi,  de  donner  un  roi  aux  Po- 
lonais." 

Und  so  wurde  am  7.  September  1764  der  Truch- 
sess  von  Litauen  Stanislaw  August  Poniatowski  zum 
König  von  Polen  gewählt. 


Nach  den  bösen  Erfahrungen  mit  den  beiden  Sach- 
senkönigen wünschte  die  öffentliche  Meinung  Po- 
lens einen  Piastensohn  auf  dem  Thron  zu  sehen,  einen 
Polen.  Das  Volk  verlangte  nach  einem  einheimischen 
Herrscher.  Die  einzelnen  Parteien,  ja  selbst  einzelne 
Woiwodschaften  schoben  ihre  Kandidaten  vor,  ein- 
zelne Gruppen  des  Adelsvolkes  ihre  Brotherren,  Ma- 
gnaten, die  durch  Freigebigkeit  und  breite  Geste  eine 
zahlreiche,  ihnen  auf  Leben  und  Tod  ergebene  Kli- 
entel um  sich  zu  versammeln  verstanden.  Um  nur 
einen  Karl  Badziwill  zu  erwähnen,  der  im  Besitze 
eines  unermesslichen  Vermögens  war,  aber  ein  Drauf- 
gänger von  geringer  Bildung  und  abgesehen  von  sei- 
nem überschäumenden  Temperament,  seinen  Magna- 
tenallüren und  wahnwitzigen  Einfällen,  die  von  sei- 
ner Umgebung  mit  Begeisterung  aufgenommen  wur- 
den, von  zweifelhaften  ethischen  und  geistigen  Qua- 
litäten, der  sich  wohl  eignete,  bei  Gelagen  inmit- 
ten seiner  Kumpane  als  deren  König  den  Vorsitz  zu 
führen,  in  keiner  Weise  aber  zu  einem  Herrscher 
taugte. 

XXV 


Rief  nun  die  Stimme  des  Volkes  Poniatowski  auf 
den  Thron?  Wurde  er  doch  auf  dem  Wahlfeld  ein- 
stimmig als  König  ausgerufen.  Verdankte  er  also  der 
Volksmeinung  die  Krone? 

Nein.  Nur  die  Regie  funktionierte  beim  Konvoka- 
tionsreichstag  glänzend,  dank  den  russischen  Bajo- 
netten im  Hintergrund.  Die  fürstlichen  Regisseure 
bewiesen  auch  hierbei  ihre  grossen  Talente.  Freilich 
in  der  tiefsten  Überzeugung,  von  zwei  Übeln  das 
kleinere  erwählt,  und  im  festen  Glauben,  unter  den 
obwaltenden  Umständen  die  einzig  noch  mögliche 
Bahn  eingeschlagen  zu  haben.  Doch  bald  sollte  die 
Tragödie  der  „Familie"  ihren  Höhepunkt  erreichen, 
um  mit  furchtbarer  Wucht  die  Katastrophe  zu  be- 
schleunigen. Das  Geschick,  das  die  Czartoryskis  mei- 
stern zu  können  wähnten,  verstrickte  sie  in  unheil- 
volle Fäden,  aus  denen  es  kein  Entrinnen  mehr  gab. 
Es  sollte  ihnen  die  bitterste  Enttäuschung  bringen 
und  war  ihrem  Unterfangen  anscheinend  schon  von 
vorneherein  abhold.  Das  tragische  Schicksal  dieses 
Geschlechts,  das  wie  ein  nicht  abzuwendendes  Fa- 
tum  über  ihnen  schwebte  und  es  auf  Abwege  führte, 
das  die  nüchternen,  schlauen  und  hochbegabten  Köpfe 
im  Ranne  hielt,  bestimmte  sie  beinahe  zu  Büssern 
für  die  Sünden  einer  ganzen  Nation  und  stürzte  sie 
ins  Verderben.  Die  politisch  falsch  erwählte  Grund- 
lage, auf  der  sie  ihr  Werk  aufbauen  wollten,  rächte 
sich  bitter. 

Poniatowski  gehörte  durch  seine  Mutter  dieser 
„Familie"  an.  Seine  Laufbahn  war  also  sozusagen 
vorgezeichnet.  Ob  er  es  fühlte?  Ob  er  sich  ohnmäch- 
tig unter  der  Last  des  Geschickes  beugen  zu  müssen 
glaubte?  Ob  er  tatsächlich  zur  endgültigen  Expiation 

XXVI 


vorbestimmt  war?  Er,  der  letzte  König  auf  dem  pol- 
nischen Thron!  Oft  pflegte  er  resigniert  zu  sagen:  „es 
ist  meine  Bestimmung,  stets  das  Gute  zu  wollen  und 
stets  nur  Böses  dem  Lande  zuzufügen."  Zu  schwach, 
um  mit  dem  Geschick  zu  ringen,  zu  ohnmächtig,  um 
es  einmal  herauszufordern  und  die  Konsequenzen  zu 
ziehen,  schwankte  er  nach  allen  Seiten,  um  wenig- 
stens von  seiner  eigenen  Person  das  Fatum  abzuwen- 
den, den  sich  immer  enger  schliessenden  Maschen 
entschlüpfen  und  sich  auf  einen  Starken  schutzfle- 
hend stützen  zu  können.  Ein  schutzbedürftiger, 
schwacher  Fatalist  auf  einem  von  allen  Seiten  von 
Mächtigen  gerüttelten  Throne.  Die  Schicksalsfäden 
des  Landes  verwoben  sich  mit  den  Fatumsbanden, 
die  den  Herrscher  umstrickten. 

Die  Geschichte  urteilt  hart  über  König  Stanislaw 
August,  vergisst  den  Menschen  über  dem  König.  Und 
doch,  wäre  er  als  schlichter  Truchsess  von  Litauen 
aus  der  Welt  geschieden,  die  Nachwelt  hätte  ihm  das 
beste  Gedächtnis  bewahrt,  —  da  er  aber  als  letzter 
König  die  Geschichte  seines  Landes  schmählich  be- 
schloss,  ohne  eine  einzige  grosse  Heldentat  auf  das 
letzte  Blatt  verzeichnet  zu  haben,  wurde  er  verdammt. 

Er  hätte  die  Krone  ausschlagen  können,  hätte  we- 
nigstens seine  eigene  Person  aus  dem  festen  Ring, 
den  damals  Russland  und  Preussen  um  Polen  ge- 
schlossen hatten,  retten  und  aus  der  vampyrhaften 
Umklammerung,  die  ihn  auf  den  Thron  drängte, 
entweichen  können,  um  seinen  Namen  nicht  auf  die 
Wagschale  der  drohenden  Geschicke  werfen  zu  müs- 
sen. Vielleicht  hätte  sich  in  dieser  durch  ihn  neu  ge- 
schaffenen Lage  eine  andere  Lösung  ergeben.  War- 
um tat  er  es  nicht?  Er,  der  geistig  hoch  über  der 

XXVII 


Masse  und  seiner  Zeit  stand  und  die  ganze  Sachlage 
überblicken  inusste.  War  es  ein  Opfer,  das  er  aus 
seiner  eigenen  Person  auf  dem  Altar  des  Vaterlandes 
darbringen  wollte,  wenn  es  schon  sein  musste? 
Glaubte  er  doch,  sich  zum  Retter  des  bedrängten  Va- 
terlandes aufschwingen  zu  können.  Schon  von  frühe- 
ster Jugend  an  wurden  ihm  Horoskope  auf  das  kö- 
nigliche Szepter  gestellt.  Ein  Astrolog  hatte  es  ihm 
prophezeit,  und  seine  ganze  Erziehung  wurde  auf  die 
glanzvolle  Rolle  eingestellt,  die  er  einst  spielen  sollte. 
Aus  der  Umgebung  der  Verschwendung  und  Genuss- 
sucht des  Magnatentums  nach  Frankreich  verpflanzt, 
entfaltete  sich  die  schmiegsame,  für  Kunst  und  gei- 
stige Kultur  so  überaus  empfängliche  Seele  des  jun- 
gen Edelmannes  zur  vollen  Blüte  auf  dem  Boden  des 
verfeinerten  Geschmacks,  der  galanten  Erotik,  der 
geistreichen  Philosophie  und  der  leichten  vornehmen 
Formen,  inmitten  der  heiteren  Philosophen  und  der 
grossen  Lebenskünstler.  Mit  vollen  Zügen  atmete  er 
die  Luft  des  18.  Jahrhunderts  ein,  verkehrte  mit  Ge- 
lehrten und  Künstlern,  erfreute  sich  der  Gunst  der 
Frauen  und  blendete  sogar  die  verwöhnte  franzö- 
sische Gesellschaft  durch  die  Schönheit  seiner  Ge- 
stalt, durch  Geist  und  Grazie.  Der  junge  polnische 
Edelmann  wurde  zur  populären  Persönlichkeit  der 
französischen  Salons  und  war  ein  gern  gesehener 
Gast  am  französischen  Hofe  —  von  vielen  umschmei- 
chelt, von  vielen  geliebt. 

Auch  auf  seinem  weiteren  Lebenswege  war  ihm 
anfangs  das  Glück  hold.  Der  Stern,  von  dem  der 
Astrolog  sein  Horoskop  hergeleitet,  schien  ihm  ge- 
wogen zu  sein.  Glaubte  er  etwa  damals  an  diesen 
glücklichen  Stern,  der  ihn  im  Leben  begleitet  und 

XXVIII 


ihm  vorangeleuchtet,  ihm  die  Liebe  und  Zuneigung 
seiner  Zeitgenossen  verschafft  und  seinen  Namen 
schon  in  seiner  Jugend  mit  der  Aureole  eines  über- 
ragenden Geistes  umstrahlt  hatte?  Oder  vermochte 
er  nicht  mehr,  sich  aus  den  Schlingen  des  Geschicks 
herauszureissen?  Waren  es  vielleicht  doch  andere 
Motive,  die  ihn  geleitet  —  Motive,  die  menschlichen 
Schwächen  entsprangen? 

Die  Geschichte  hat  ein  hartes  Urteil  über  ihn  ge- 
fällt. Sicherlich  war  einer  seiner  ausgeprägtesten 
Charakterzüge  der  Ehrgeiz.  Und  zwar  nicht  jenes 
grosse  Streben  einer  Herrschernatur  nach  Machtfülle 
und  Machtentfaltung  und  Volksbeglückung,  sondern 
jene  Ambition,  die  sich  mit  Eigenliebe  und  Eitelkeit 
paart  und  rein  persönlicher  Erhöhung  und  Überlegen- 
heit zusteuert.  Bei  Stanislaw  August  waren  es  in  erster 
Linie  geistige  Ambitionen.  Als  König  standen  ihm 
so  viele  Pforten  offen,  die  dem  Privatmann  vielleicht 
stets  verschlossen  geblieben  wären.  Eifrigst  bemühte 
er  sich,  den  Namen  eines  Mäzens  und  Protektors  der 
Künste  und  Wissenschaften  sich  zu  erwerben,  einen 
Titel,  der  im  Zeitalter  der  Enzyklopädisten  von  bes- 
serem Klang  und  ehrenvoller  vielleicht  als  der  eines 
Herrschers  war. 

Der  auf  französischer  Kultur  aufgewachsene  und 
in  ihrem  Geiste  erzogene  Edelmann,  der  in  seiner 
Person  einen  Romanhelden  seines  Zeitalters  mit  einem 
von  Voltaireschen  Ideen  durchdrungenen  Menschen 
vereinen  wollte,  war  ein  vollkommener  Typ  dieses 
Zeitalters.  Tatsächlich  eine  glänzende  Romanfigur, 
aber  kein  Herrscher  über  ein  Volk,  dessen  innerstes 
Wesen  ihm  fremd  und  dessen  Sitten  und  Gebräuche 
ihm   widerlich   waren.    Dabei   darf  nicht   vergessen 

XXIX 


werden,  dass  dieses  We?en  so  ursprünglich  und  bo- 
denständig war,  wie  kaum  bei  einem  anderen  Volke, 
und  dass  dieses  trotzige  und  stolze  Volk  von  jedem 
und  selbstverständlich  in  erster  Linie  von  seinem 
König  unbedingte  Achtung  seiner  Eigenart  ver- 
langte. 

Mit  reichen  Gaben  ausgestattet,  von  tiefer,  um- 
fassender Bildung,  voller  Verständnis  für  die  Kunst, 
über  ein  grosses  Wissen  auf  allen  Gebieten  der 
Wissenschaften  verfügend,  ein  Kenner  fremder  Kul- 
turen wie  der  des  eigenen  Volkes,  hatte  er  wohl 
einen  klaren  Blick  für  öffentliche  Dinge,  wusste  ge- 
nau, wo  die  Mängel  und  Fehler  der  polnischen  Ge- 
sellschaft und  des  polnischen  Staatswesens  lagen,  er- 
kannte auch  die  Notwendigkeit  grundlegender  Refor- 
men und  Hess  sich  von  den  besten  Absichten  der  Ab- 
hilfe und  der  Wiederaufrichtung  des  Zertrümmerten 
und  brach  Darniederliegenden  tragen,  begeisterte  sich 
sogar  für  grosse,  segensreiche  Pläne,  die  er  selbst 
entwarf  und  die  wirklich  von  staatsmännischer  Klug- 
heit zeugten  und  der  Weltweisheit  entsprungen  zu 
sein  schienen,  —  doch  es  mangelte  ihm  die  Kraft  zur 
Ausführung,  es  mangelte  die  ungebeugte  Willens- 
stärke, die  männliche  Charakterfestigkeit,  die  sich 
durch  Hindernisse  nicht  betören  lässt,  die  vor  keiner 
Schwierigkeit  zurückschreckt,  darin  gerade  einen 
Ansporn  und  Anreiz  findet,  die  ungeachtet  der  An- 
feindung seitens  andersgesinnter  Machthaber  dem 
vorleuchtenden  Ziele  zustrebt,  die  unerschrocken 
den  ganzen  Menschen  einsetzt,  wenn  es  gilt,  Rettung 
aus  der  Not  zu  finden. 

Es  fehlte  ihm  Seelengrösse  und  jene  schöpferische 
Kraft,  die  nie  erlahmt,  wenn  es  darum  geht,  neue 

XXX 


Wege  zu  finden,  neue  Mittel  zu  ersinnen,  um  das 
Erstrebenswerte  zu  erreichen. 

Seine  Begeisterung,  die  jedes  Erfolg  verheissende 
Vorhaben  stets  begleitete,  schwand,  sobald  sich  der 
Ausführung  Hindernisse  in  den  Weg  legten,  wenn 
Opfer  zu  bringen  waren.  Der  geistig  so  hoch  stehende 
und  wirklich  überlegene  Mensch  versagte  immer, 
wenn  es  galt  einen  Kampf  zu  wagen.  Und  doch,  so 
wie  die  Dinge  damals  innerpolitisch  und  erst  recht 
ausserpolitisch  lagen,  konnte  ohne  Kampf,  ohne  ge- 
waltsames Zugreifen  nichts  erreicht  werden.  In  jener 
Epoche,  in  der  mehr  denn  je  Schwierigkeiten  sich 
auf  Schwierigkeiten  auftürmten.  Das  mag  in  man- 
cher Beziehung  zu  seiner  Entschuldigung  gelten. 
Russland  und  Preussen  wachten  an  den  Grenzen  und 
im  Lande  selbst  darüber,  dass  der  König  nur  ihren 
Willen  tat,  und  waren  bereit,  jederzeit  ihren  Wün- 
schen und  Forderungen  mit  Gewalt  Geltung  zu  ver- 
schaffen; der  grössere  Teil  des  polnischen  Adels 
kehrte  sich  von  dem  hin  und  her  schwankenden 
Schwächling  ab,  und  ein  grosser  Teil  der  Magnaten 
versagte  dem,  der,  obwohl  gekrönt  und  gesalbt,  sei- 
ner Abstammung  nach  doch  nicht  einmal  ihresglei- 
chen war,  jede  Unterstützung. 

Ohne  moralischen  Halt  und  ohne  Hemmungen, 
die  bei  einer  derart  angelegten  Natur  auch  kaum  zu 
erwarten  waren,  sank  Stanislaw  August  zum  Schat- 
tenkönig herab,  zum  Spielball  der  an  dem  Zustand 
der  inneren  Erkrankung  Polens  höchst  interessier- 
ten angrenzenden  Mächte,  deren  Pläne  die  Gesun- 
dung des  polnischen  Staatsorganismus  zuschanden 
gemacht  hätte,  zum  Spielball  der  sich  befehdenden 
Parteien  und  immer  mehr  zum  gefügigsten  Werk- 

XXXI 


zeug  der  ihre  Chancen  kühl  herechnenden  Katha- 
rina. 

Allmählich  verlor  er  auch  alles  Interesse  für  Land 
und  Volk,  blieb  stumm  auf  die  dringendsten  Vor- 
schläge und  politischen  Pläne  seiner  Oheime,  der 
Fürsten  Czartoryski,  raffte  sich  vielmehr  infolge  der 
Einflüsterungen  Katharinas  und  ihrer  Parteigänger 
in  Polen  nur  dazu  auf,  die  Obhut  und  Bevormun- 
dung seiner  Oheime  abzuschütteln,  und  geriet  jetzt 
nur  noch  tiefer  in  die  Abhängigkeit  seiner  früheren 
Geliebten  und  indirekt  in  die  ihrer  Ambassadeurs 
und  Vertrauten,  eines  Kayserling,  Repnin,  Stackel- 
berg,  Siewers  und  anderer.  Diese  russischen  Vertre- 
ter wurden  auch  zu  den  eigentlichen  Machthabern 
der  polnischen  Republik,  regierten  darin,  als  ob  sie 
Herrscher  im  Lande  wären,  verstanden  es  last  stets, 
den  König  sich  gefügig  zu  machen  und  sich  auch  mit 
Hilfe  der  in  Russland  erprobten  Mittel  ergebene  und 
einflussreiche  Parteien  zu  schaffen. 

Gramerfüllt  und  verzweifelt  mussten  sich  die  Czar- 
toryskis  zurückziehen.  Ihrer  von  Vaterlandsliebe  er- 
füllten Politik  wurde  der  letzte  Schlag  versetzt.  Po- 
litisch waren  sie  erledigt.  Jäh  war  über  sie  die  Kata- 
strophe hereingebrochen.  Katharina  triumphierte. 
War  es  doch  ihr  Werk.  Der  König  in  der  Gewalt 
seiner  Oheime  und^in  der  Politik  von  ihnen  umgarnt, 
von  jenen  schlauen  und  mächtigen  polnischen  Ma- 
gnaten, die  einsichtig  und  politisch  genug  geschult 
waren,  um,  wenn  sie  auf  der  einmal  eingeschlagenen 
Bahn  nicht  zum  Ziele  gelangen  konnten,  kurzerhand 
und  unverfroren  die  entgegengesetzte  Bahn  zu  be- 
schreiten und  die  auf  dieser  Bahn  vielleicht  das  ganze 
Volk   mit  sich  reissen  und   alle  Parteien   unter  das 

XXXII 


nationale  Banner  scharen  konnten,  —  dieser  König 
bedeutete  eine  nicht  zu  unterschätzende  Gefahr  für 
die  von  Katharina  von  vornherein  gefassten  Pläne 
und  Entschlüsse.  Das  stolze  Geschlecht  hatte  seine 
Partie  verspielt,  zur  Freude  und  zum  Hohngelächter 
der  Gegner.  Und  während  dieser  auch  für  die  Ge- 
schicke der  ganzen  Nation  so  entscheidenden  Augen- 
blicke brachte  der  König  seine  Nächte  damit  zu,  glü- 
hende Liebesbriefe  an  Katharina  zu  schreiben  .  .  . 

Ein  zarter,  edelmütiger,  aber  vom  Leben  und  den 
ihn  umgebenden  Schmeichlern  verdorbener  Charak- 
ter; eine  grossmütige  Natur,  ein  Mann,  der  sich  nur 
von  Leidenschaften  leiten  liess,  seine  Gefühle  nicht 
zähmen  konnte  und,  sich  seiner  Schwäche  bewusst, 
ohnmächtig  zusah,  wie  sie  Gewalt  über  ihn  bekamen, 
immer  wieder  in  neue  Liebesabenteuer  und  Intrigen 
verstrickt,  ohne  die  Kraft  aufbringen  zu  können,  mit 
starker  Hand  das  von  Frauen  und  Höflingen  eng  ge- 
zogene Netz  zu  zerreissen;  ein  Herrscher,  der  sich 
vor  Ohnmacht  im  Staube  wälzte  und  verzweifelt  die 
Hände  rang,  —  oft  fanden  ihn  die  Diener  nach  einem 
frohen  Feste  oder  nach  einem  Reichstag  am  anderen 
Morgen  zerknirscht,  mit  wilden  Augen  und  wirrem 
Haar  vor  seinem  Bette  liegen;  ein  „Präsident"  dieser 
polnischen  Adelsrepublik,  der  sich  nicht  ein  einzi- 
ges Mal  ermannen  und  aufraffen  konnte,  vor  versam- 
meltem Reichstag  sein  Elend  und  des  Vaterlandes 
Not  offen  zu  bekennen,  das  Volk  angesichts  des  klaf- 
fenden Abgrunds  aus  dumpfer  Erstarrung  aufzurüt- 
teln und  machtvoll  aufzurufen,  kühn  in  die  Geschicke 
der  Nation  zu  greifen,  das  innere  Feuer  und  den  so 
leicht  zu  weckenden  Enthusiasmus  der  Polen  in 
Flammen   zu  setzen   und   das   ganze  Volk   mit   sich 

XXXIII 


fortzureissen.  Und  doch  hätte  er  die  Nation,  getra- 
gen von  dem  Aufschwung  und  der  Begeisterung  des 
im  Herzensgrunde  opferfreudigen,  heldenmütigen, 
nur  unter  der  Last  der  Sachsenzeit  gebeugten  und 
zersprengten  polnischen  Volkes,  im  Namen  der  glor- 
reichen, grossen  Vergangenheit  um  die  nationale  Idee 
scharen,  die  ruhmbedeckten  Banner  der  Vorfahren 
aufrollen  und  sie  einer  dieser  Vergangenheit  würdi- 
gen Zukunft  entgegen  führen  können. 

Es  ist  falsch,  dass  es  zu  spät  gewesen  wäre.  Es  ist 
falsch,  dass  sich  während  seiner  Regierungszeit  keine 
politisch  günstige  Gelegenheit  hierzu  geboten  hätte. 
Es  fehlte  nur  der  Mann,  der,  über  allen  stehend,  mit 
einem  Machtwort  und  einer  königlichen  Geste  das 
zersprengte  Gefüge  zusammengeschweisst  hätte.  Dass 
er  nicht  der  Mann  war,  den  die  Gesamtseele  des 
Volkes  herbeisehnte,  dass  er  nicht  der  Mann  war, 
den  Polen  in  diesem  Augenblick  brauchte,  —  das 
trug  ihm  die  Abwendung  des  Volkes  zu  und  das 
harte  Geschichtsurteil. 

Und  als  dann  sich  Einzelne  zu  übermenschlicher 
Kraft  emporschwangen,  als  dann  in  der  fürchter- 
lichsten Zeit  der  polnischen  Geschichte  Einzelne,  von 
höchsten  Idealen  beseelt  und  bereit,  alles  für  das  arg 
bedrängte  Vaterland  hinzugeben  und  lieber  umzu- 
kommen, als  dem  allmählichen  Verfall  zuzusehen,  die 
Führung  an  sich  rissen,  —  da  zeigte  es  sich,  dass 
das  Volk  wirklich  seiner  Vorfahren  und  seiner  Vergan- 
genheit würdig  war;  stets  bereit,  Leben,  Hab  und 
Gut  freudigen  Herzens  auf  dem  Altar  des  Vaterlandes 
darzubringen,  stets  bereit,  um  der  Idee  willen  tau- 
sendfacher Übermacht  entgegenzutreten. 

Diese  Einzelnen  standen  aber  nicht  über  allen.  Ver- 

XXXIV 


schiedene  Magnaten  hielten  sie  nicht  für  die  Auser- 
wählten  und  sprachen  ihnen  das  Recht  der  Führung 
des  Volkes  ab,  der  König  unterstützte  sie  nicht.  Des- 
halb misslangen  ihre  Versuche. 

Diesmal  schien  sich  das  Geschick  nicht  mehr  wen- 
den zu  wollen,  die  Weltgeschichte  schien  dem  Volke 
und  seinen  Helden  ein  furchtbares  „zu  spät"  ent- 
gegen zu  rufen.  Und  nur  die  für  alle  Zeiten  verewig- 
ten Heldennamen  der  Kämpfer  für  Freiheit  und 
Selbständigkeit,  für  Vaterland  und  Volk  zeugen,  dass 
es  der  Nation  in  entscheidender  Stunde  nie  an  Män- 
nern gefehlt  hat,  die  die  nationale  Idee  hochzuhalten 
verstanden  haben.  Sie  haben  denn  auch  den  Namen 
Polens  der  Nachwelt  ruhmbedeckt  hinterlassen,  den 
einzelnen  Epochen  aber  den  Stempel  des  Heroismus 
als  höchsten  Ausdruck  des  Lebens  aufgedrückt.  Trotz 
des  Zusammensturzes  des  polnischen  Reichs  hat  das 
polnische  Volk  ein  unbestrittenes  Recht,  vor  der  Welt 
und  vor  der  Geschichte  auf  seine  Vergangenheit  stolz 
zu  sein. 

1772,  1793,  1795.  Die  Wellen  brandeten  unter 
Stanislaw  August  Poniatowski.  Die  Pfeiler  barsten 
und  das  Reichsgebäude  stürzte  ein.  Die  Krone  fiel 
vom  Haupte  des  letzten  Königs. 


Für  die  Kulturgeschichte  Polens  bedeutet  die  Re- 
gierung Stanislaw  Augusts  eine  Epoche.  Der  Kö- 
nig leitete  sie  ein,  baute  die  schon  vorhandenen  An- 
sätze aus,  stellte  seinen  Geist  und  reiche  Mittel  in 
ihren  Dienst,  drückte  ihr  seinen  Stempel  auf  und 
lebt  im  Gedächtnis  der  Nachwelt  als  Träger  derselben. 

XXXV 


Den  politischen  Tod  des  Reiches  begleitete  die 
Wiedergeburt  der  Geister. 

Die  im  Inneren  so  notwendigen  Reformen  wurden 
endlich,  nach  langen  Kämpfen,  durchgesetzt.  Die 
Konstitution  vom  3.  Mai  1791  als  Abschluss  des  vier- 
jährigen Reichstags  verlieh  ihnen  erhabensten  Aus- 
druck. Der  „Regierung  veraltete  Fehler"  wurden  er- 
kannt, das  Volk  schwang  sich  aus  sich  heraus  zum 
grossen  Reformwerk  auf.  Auf  modernsten  Ideen  und 
Prinzipien  wurde  eine  Verfassung  aufgebaut,  welche 
die  alten  hochgehaltenen  Institutionen  mit  den  radi- 
kalen Doktrinen  und  freiheitlichen  Tendenzen  der 
französischen  Revolution  harmonisch  verband.  Wohl 
war  es  zu  spät.  Doch  bedeutet  die  Konstitution  einen 
machtvollen  Aufschwung,  eine  Hebung  aus  den  Nie- 
derungen der  Eigensucht,  bedeutet  den  Sieg  der 
Staatsklugheit  über  Verblendung,  liefert  den  Beweis, 
dass  in  der  Gesamtseele  des  Volkes  die  edlen  Regun- 
gen stets  die  Oberhand  behalten  hatten,  dass  die 
Vaterlandsliebe  nie  erloschen  war. 

Die  Ehre  des  Volkes  war  gerettet.  Den  Namen  und 
die  heiligen  Traditionen  Polens  verewigten  die  Hel- 
den der  letzten  Epoche,  allen  voran  Tadeusz  Kos- 
ciuszko.  Die  gewaltige  geistige  Wiedergeburt  errettete 
die  ganze  Nation,  schuf  in  wenigen  Jahren  Werte  und 
trug  Früchte,  wie  sie  andere  Völker  nur  in  Jahr- 
hunderten hervorzubringen  vermögen. 

Die  Keime  zu  neuem  Gedeihen  und  neuem  Auf- 
blühen hatte  der  Piarist  Konarski  gelegt.  Die  Wir- 
kung seiner  Tätigkeit  und  seiner  Reformen  hielt  die 
nächsten  Jahrzehnte  an  und  äusserte  sich  in  Anre- 
gungen aller  Art.  In  seinen  Bahnen  fortfahrend, 
gründete  König  Stanislaw  August  unter  anderem  die 

XXXVI 


erste  polnische  Staatsschule,  eine  Ritterschule,  in  der 
nicht  nur  der  Geist  und  der  Körper,  sondern  auch 
die  Seele  ausgebildet  wurde;  Wissenschaft  und  Va- 
terlandsliebe wurden  der  Jugend  eingeimpft.  Diese 
sogenannte  Kadettenschule,  die  der  König  selbst  oft 
besuchte  und  in  der  er  mit  den  Schülern  in  persön- 
licher Fühlung  stand,  hat  Männer  hervorgebracht, 
deren  Namen  der  Geschichte  angehören.  Kosciuszko, 
Niemcewicz  und  viele  andere. 

Als  erstes  Land  in  Europa  schuf  Polen  ein  beson- 
deres, dem  gesamten  Unterricht  dienendes  Unter- 
richtsministerium, daneben  wurde  aus  den  reichen 
Jesuiten fonds  die  sogenannte  Edukationskammer  be- 
gründet, die,  in  modernstem  Geiste  geleitet,  zur  Re- 
formierung des  Unterrichts vvesens  und  zur  Organisa- 
tion der  Mittel-  und  Volksschulen,  sowie  zur  Umge- 
staltung und  Hebung  der  Universitäten  diente.  „Sie 
war  der  Anker,  der  das  Schiff  des  Vaterlandes  über 
den  Abgründen  hielt." 

Die  Bildung  und  Aufklärung  der  grossen  Masse 
war  eine  Grundlage,  auf  der  gedeihlich  weiter  gear- 
beitet werden  konnte.  Bald  erblühten  Literatur  und 
Kunst,  Handel  und  Gewerbe,  die  Sitten  verfeinerten 
sich  sichtlich.  Überall  tritt  der  König  als  feinsinniger 
Mäzen  auf,  überall  regt  er  an  und  spart  nicht  mit 
Geldmitteln.  Die  französische  Zivilisation,  die  sich 
bereits  im  17.  Jahrhundert  in  Polen  einzubürgern 
begann,  wird  von  Stanislaw  August  in  jeder  Weise 
gefördert;  er  schickt  die  polnische  Jugend  nach  Frank- 
reich, lässt  französische  Lehrer  und  Künstler  nach 
Polen  kommen.  Der  Zivilisation  folgt  die  französische 
Kultur,  die  zunächst  als  rein  äusserliche  Nachahmung 
erscheint,  bald  aber  von  der  polnischen  Kultur  auf- 

XXXVII 


genommen  und  innerlich  verarbeitet  sich  organisch 
mit  der  heimischen  Kultur  verbindet,  um  nunmehr 
selbständig  eigene  schöpferische  Werte  hervorzu- 
bringen. 

Das  ganze  geistige  Schaffen  in  Kunst  und  Wissen- 
schaft findet  in  dem  König  den  empfänglichen  und 
befruchtenden  Mittelpunkt.  Er  fördert  jedes  Talent, 
weist  Zweifelnde  und  Ungereifte  in  die  richtigen 
Bahnen,  versammelt  die  führenden  Geister  des  ganzen 
Landes  um  sich.  Der  Hof  wurde  zur  blühendsten 
Stätte  des  Geistes. 

Ebenso  umgab  sich  der  König  in  seiner  Sommer- 
residenz, dem  anmutig  reizenden  und  mit  Kunstschät- 
zen aller  Art  reich  ausgeschmückten  Schlosse  Lazienki 
mit  Vertretern  der  Kunst  und  der  Wissenschaft. 

Jeder,  den  der  Funken  der  Begabung  zum  Schaf- 
fen drängte,  fand  beim  König  Zutritt  und  konnte, 
wenn  das  verständnisvolle  und  abgeklärte  Urteil  zu 
seinen  Gunsten  ausfiel,  freundlichster  und  gastlich- 
ster Aufnahme  gewiss  sein.  Zu  den  berühmten  Don- 
nerstagsdiners des  Königs  fanden  sich  an  der  könig- 
lichen Tafel  Künstler,  Dichter  und  Gelehrte  ein,  so- 
wohl Vertreter  der  alten  Richtung,  wie  die  Jungen 
aus  seiner  Schule.  Literarische,  künstlerische,  wissen- 
schaftliche, soziale  und  politische  Probleme  wurden 
hier  diskutiert,  auf  jedem  Gebiet  war  der  König  be- 
wandert, jedem  brachte  er  wahres  und  grosses  Inter- 
esse entgegen ;  er  regte  die  Gespräche  durch  geistreiche 
Bemerkungen  an,  und  oft  löste  er  ganz  verstrickte, 
fachmännische  Kenntnisse  erheischende  Fragen  mit 
der  ihm  angeborenen  Leichtigkeit  seines  Geistes.  Er 
war  es,  der  die  Initiative  zu  einem  der  berühmtesten 
polnischen  Werke  des  18.  Jahrhunderts  gab,  zu  der 

XXXVIII 


„Geschichte  des  polnischen  Volkes",  die  einer  seiner 
Freunde  und  Genossen,  Naruszewicz,  verfasste.  Auch 
auf  so  manches  Werk  des  Fürstbischofs  von  Erme- 
land  Krasicki,  des  glänzendsten  polnischen  Fabeldich- 
ters und  witzigen  Satirikers,  dessen  geistreicher,  geis- 
selnder  Spott  keine  Hemmungen  kannte  und  der 
durch  seine  graziösen  Fabeln  und  Episteln  auch  den 
nüchternen  und  in  dieser  Hinsicht  recht  verwöhnten 
Friedrich  II.  ergötzte,  —  mochte  wohl  der  König  un- 
bewusst  anregend  gewirkt  haben. 

Der  Einfluss  seiner  Persönlichkeit  war  so  tiefgehend, 
dass  sie  nirgends  zu  verkennen  war.  Dabei  muss  her- 
vorgehoben werden,  dass  er  selbst  bei  denjenigen, 
die  er  sich  zu  Hofpoeten  erwählte  und  zu  Kammer- 
herren machte,  die  Entwicklung  des  Talents  nie  nach 
irgend  einer  ihm  sympathischeren  Richtung  umzubeu- 
gen  versuchte,  sondern  es  stets  nach  seiner  Art  sich 
ausleben  Hess,  voller  Ehrfurcht  vor  dem  Genie.  Zu 
seinen  Hofpoeten  gehörten  Trembecki,  ein  glänzender 
Meister  der  Form,  der  an  Reichtum  der  Sprache, 
Reinheit  des  Reimes,  Fülle  der  Einfälle  in  seinem 
Zeitalter  keinesgleichen  hatte,  der  Satiriker  We,- 
gierski,  der  hervorragende  Komödiendichter  Zabloc- 
ki,  der  Lyriker  Karpinski  und  so  viele  andere.  Zur 
Poniatowski-Epoche  gehörte  auch  Niemcewicz,  der 
Dichter  der  von  Vaterlandsliebe  durchdrungenen 
Lieder  und  Gesänge.  Die  wissenschaftliche  Prosa  ver- 
traten hochbegabte  Schriftsteller  und  Politiker  vom 
Range  eines  KoII^taj,  eines  Staszic.  Das  vom  König 
1765  in  Warschau  gegründete  erste  nationale  Thea- 
ter leitete  der  berühmte  Boguslawski. 

Die  polnische  Literatur  dieser  Epoche  gewinnt  all- 
mählich  ein   bestimmtes  Gesicht  von  charakteristi- 

XXXIX 


schein  Gepräge  und  bietet  treu  den  Ausdruck  eines 
geschlossenen  Zeitalters,  das  wohl  von  Rousseau  und 
Voltaire  beeinflusst,  aber  doch  bodenständig  und 
durchaus  völkisch  war.  Auch  für  die  Malerei,  die 
Bildhauerkunst  und  die  Architektur  bedeutet  die  Ära 
Stanislaw  Augusts  einen  Höhepunkt.  Auch  hier  war 
der  Einfluss  des  kunstfreudigen  Ästheten  und  des 
Epikuräers  vom  feinsten  Geschmack  richtungge- 
bend. 

Die  unvergänglichen  Werte  der  polnischen  natio- 
nalen Kunst  haben  zum  grossen  Teil  ihren  Ursprung 
im  Schaffen  jener  Künstler,  die  den  Hof  Stanislaw 
Augusts  zierten,  sich  seiner  Freundschaft  rühmten 
und  die  Entwicklung  ihres  Talents  seiner  Person  mit- 
verdankten. Die  Werke  Bacciarellis,  Canalettos,  Al- 
bertrandis,  Lessueurs,  Czechowicz1,  Smuglewicz',  Fon- 
tanas, Orlowskis,  Norblins,  Grassis,  Marteaus,  Cho- 
dowieckis,  Vogels,  Lampis,  Aigners,  Merlinis  u.  a. 
legen  Zeugnis  ab  vom  künstlerischen  Erlebnis  der 
Epoche  und  bedeuten  einen  Wendepunkt  in  der  Kul- 
tur der  heimischen  Kunst.  Die  Gründung  von  Aka- 
demien, Schulen  und  Ateliers,  die  Anlegung  von  Bi- 
bliotheken und  Sammlungen,  die  Förderung  der  Stu- 
dien der  polnischen  Jugend  im  Ausland  und  die  fi- 
nanziellen Unterstützungen  für  Reisen  nach  Griechen- 
land, Rom  und  Paris,  wo  Kenntnisse  erworben,  Ein- 
drücke und  Anregungen  gesucht  und  gesammelt, 
wo  die  grossen  Werke  antiker  und  zeitgenössi- 
scher Kultur  geoffenbart  werden  sollten,  sind  Ver- 
dienste, die  dem  König  nicht  abgesprochen  werden 
können.  In  allen  Hauptstädten  Europas  standen  ne- 
ben den  diplomatischen  Vertretern  spezielle  Agenten 
im  Dienste  des  Königs,  die  den  Auftrag  hatten,  Kunst- 
XL 


werke  jeder  Art  für  die  königlichen  Sammlungen  zu 
erwerben. 

Und  so  wurde  das  von  Stanislaw  August  umge- 
baute und  mit  wahren  Schätzen  ausgeschmückte  kö- 
nigliche Schloss  in  Warschau  zu  einem  Kulturzen- 
trum, das  seine  Strahlen  über  das  ganze  Land  aus- 
sandte und  wie  die  Morgenröte  geistiger  Kultur  über 
den  polnischen  Landen  leuchtete.  So  wurde  der  kö- 
nigliche Hof  im  vollsten  Sinne  des  Wortes  zu  einem 
polnischen  Versailles. 

Der  historische  Glanz  erblasste  am  politischen  Ho- 
rizont immer  mehr,  —  die  Sonne  der  Kunst  und  des 
Wissens  erstrahlte  in  um  so  üppigerem  Licht.  Der 
junge  Tag  der  neu  erweckten  Kultur  brach  an,  der 
Geist  feierte  seine  höchsten  Triumphe.  „Ge  ne  sont 
pas  les  lois,  c'est  lesprit  qui  gouverne  ce  pays,"  sagt 
Ruiniere. 

Auch  die  polnischen  Magnaten  schufen,  dem  Bei- 
spiel des  Königs  und  dem  Zeitgeist  folgend,  aus  ihren 
Schlössern  richtige  Kulturstätten,  zogen  begabte 
Künstler  an  ihre  Höfe,  führten  Prachtbauten  auf, 
legten  riesige  Sammlungen  an,  unterhielten  ständige 
Hoftheater,  warfen  jährlich  unermessliche  Summen 
aus,  um  sie  in  kulturelle  Werte  umzusetzen.  Jeder 
bemühte  sich,  in  seiner  Gegend  im  Umkreis  seiner 
Besitzungen,  die  an  Umfang  manches  heutige  Her- 
zogtum übertrafen,  und  weit  und  breit  über  diese 
hinaus  die  Blüte  der  Kultur  zu  erhalten  und  der 
Nachwelt  neben  diesen  aufgestapelten  kostbaren 
Schätzen  auch  den  Namen  eines  hochherzigen  För- 
derers der  Kunst  und  der  Wissenschaft  zu  hinterlassen. 
Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  die  führenden  polni- 
schen Geschlechter,  um  nur  die  Czartoryskis  und  ihre 

XLI 


königliche  Residenz  Pulawy  zu  erwähnen,  sich  um  die 
polnische  Kultur  unschätzbare  Verdienste  erworben 
haben,  dass  ihr  Wirken  weit  über  ihr  Zeitalter  hin- 
aus bis  in  die  heutige  Zeit  hineinragt  und  Früchte 
trägt.  Die  reichen  polnischen  Museen  und  Samm- 
lungen legen  Zeugnis  davon  ab  —  leider  auch  zahl- 
reiche Museen  und  Sammlungen  Petersburgs.  So 
wurde  unter  anderem  auch  die  3ooooo  Bände  um- 
fassende Bibliothek  Zaluskis,  die  dazumal  grösste 
Privatbibliothek  Europas,  auf  Geheiss  Katharinas  von 
Warschau  nach  Petersburg  geschafft. 

In  dem  mit  echtem  Prunk  und  künstlerischem  Ver- 
ständnis üppig  ausgeschmückten  Königshof  in  War- 
schau, inmitten  der  endlosen  Galerien,  Bibliotheken, 
Marmorsäulen,  Gobelins,  Arazzis,  inmitten  der  sel- 
tensten Kunstwerke  der  Welt,  in  den  prachtvollen 
Warschauer  Palästen  der  Grossen  des  Landes  und 
auf  den  Magnatenschlössern  spielte  sich  das  bunt  be- 
wegte, der  Zeit  entsprechend  von  feinen  Intrigen- 
fäden umsponnene,  geistig  verfeinerte  Leben  des  18. 
Jahrhunderts  ab. 

Der  König  und  die  Elite  der  Nation  gaben  den 
Ton  an.  Ein  Leben  in  Schönheit  und  breiter,  slawi- 
scher Pracht.  Literarische  Diners,  Diskussionen  über 
Kunst,  Wissenschaft  und  Politik,  heiteres  Philoso- 
phieren wechselten  ab  mit  Festen  und  Gelagen  — 
bei  denen  man  es  an  Temperament,  Geist,  Wein  und 
Geld  nicht  fehlen  liess  — ,  mit  Duellen  und  galanten 
Stelldicheins. 

Doch  das  Bild  wäre  nicht  vollkommen,  würde  man 
die  soziale  Wiedergeburt  ausser  acht  lassen.  Das,  was 
im  Westen  in  Strömen  von  Blut  und  Hekatomben 
von  Menschenopfern  erreicht  wurde,  vollzog  sich  in 

XLII 


Polen  ohne  Opfer  an  Menschenleben,  ohne  gewalt- 
same Umwälzungen,  durch  das  schöpferische  und 
von  einem  erstaunlich  freiheitlichen  Geist  getrage- 
ne Werk  der  Konstitution  vom  3.  Mai.  Das  festge- 
fügte, auf  Jahrhunderte  sich  stützende  Gebäude  der 
Vorurteile  und  der  althergebrachten  morschen  Ein- 
richtungen stürzte  in  Trümmer,  die  klaffenden  Ab- 
gründe der  Standesunterschiede  wurden  überbrückt. 
Ein  enges  Band  verknüpfte  die  französische  Revolu- 
tion mit  dem  Geist  der  Hauptstadt  Polens. 

Und  nun  setzte  der  letzte  Akt  der  Tragödie  ein. 
Seelenstarke  Patrioten,  tatkräftige  Männer,  schöpfe- 
rische und  überragende  Geister  hatte  die  Epoche 
hervorgebracht,  den  Atem  der  Zukunft  in  der  heili- 
gen polnischen  Sehnsucht  erhalten,  so  viel  Energie 
und  erneuernde  Kraft  geweckt  und  gezeugt,  den 
Willen  der  Selbstbehauptung  geläutert  und  gestärkt 
und  das  Bewusstsein  sittlicher  Pflichten  gehoben,  die 
geistige  und  soziale  Wiedergeburt  des  ganzen  Volkes 
in  sich  geschlossen,  den  Höhepunkt  der  Kultur  er- 
klommen und  in  den  fruchtbaren  Heimatsboden 
Keime  für  Jahrhunderte  gelegt,  das  Reichsgebäude 
im  Inneren  festgefügt  und  ausgebaut,  —  da  barsten 
die  Fundamente  und  jäh  folgte  der  Einsturz. 

Doch  selbst  aus  den  Trümmern  sprossen  Blumen 
und  bezeugten  vor  Welt  und  Menschheit  die  Unver- 
sehrtheit des  polnischen  Elements,  die  Lebensfähig- 
keit und  die  Lebensberechtigung  des  untergegange- 
nen Reiches.  Und  wahrlich,  „fallen  kann  auch  ein 
grosses  Volk,  elend  untergehn  nur  ein  gemeines". 

Stolz  und  unverwüstlich  erhob  sich  auf  den  zer- 
fallenen Mauern  die  polnische  Idee,  machtvoll  stieg 
der  nationale  Gedanke  auf  und  wuchs  zur  Ideologie 

XLIII 


des  Patriotismus  empor,  um  Jahrhunderte  zu  über- 
dauem,  um  auf  das  nationale  Banner  in  glühender 
Schrift  das  »contra  spem  spero"  zu  setzen  und  der 
Nation  in  den  bittersten  Tagen,  die  sie  erwarteten, 
voranzuleuchten,  alle  Säfte  und  Kräfte  in  sich  aufzu- 
nehmen und  das  Volk  einer  besseren  Zukunft,  einer 
neuen  Wiedergeburt,  sicher  entgegenzuführen,  — 
der  Auferstehung,  wenn  diese  auch  in  noch  so  weiter 
Ferne  liegen  sollte. 


Unter  der  Last  der  Pflichten  und  den  von  allen  Sei- 
ten auf  ihn  einstürmenden  Anforderungen  fühlte 
sich  König  Stanislaw  August  Poniatowski  bewogen, 
im  Jahre  1 767  vor  versammeltem  Reichstag  die  Ideen 
und  die  Absichten,  von  denen  er  sich  bei  Übernahme 
der  Krone  leiten  liess,  kund  zu  tun.  Sollten  die  Zeit- 
genossen ihn  verkannt  haben,  so  könnte  er  mit  ruhi- 
gem Gewissen  das  gerechte  Urteil  der  Nachwelt  ab- 
warten und  über  sich  ergehen  lassen.  Nur  das  Wohl 
des  Vaterlandes  sei  stets  und  überall  die  Triebfeder 
seines  Handelns  gewesen  und  werde  es  auch  in  Zu- 
kunft sein.  Davon  würden  einst,  wenn  sich  das  Grab 
über  ihm  schliessen  und  sein  Mund  verstummen 
werde,  die  authentischen  Dokumente  und  Schriften 
vor  Polen  und  aller  Welt  Zeugnis  ablegen. 

Damit  kündigte  der  König  seine  Aufzeichnungen 
an,  die  eine  Analvse  seiner  Seele  und  seines  Fiihlens 
im  Rahmen  der  Zeitgeschichte  offenbaren  sollten. 

Am  12.  Februar  1798  verschied  Stanislaw  August 
Poniatowski  im  Marmorpalais  zu  Petersburg,  —  nach 
seiner  Abdankung  hatte  er  sich  nach  Grodno  zurück- 
gezogen, das  letzte  Jahr  seines  Lebens  brachte  er  in 

XLIV 


dem  ihm  von  Paul  I.  zur  Verfügung  gestellten  Mar- 
morpalais in  Petersburg  zu. 

Sofort  wurden  alle  Wohnräume,  Schränke  und 
Schatullen  von  dem  früheren  Kronmarschall  und 
Verwandten  des  Königs  Michael  Mniszech  und  dem 
russischen  Kanzler  Bezborodko  sorgfältigst  versiegelt. 
Welchen  Wert  der  russische  Hof  dem  geistigen  Nach- 
lass  des  verstorbenen  Königs  beimass,  erhellt  aus  dem 
Befehl  des  Zaren,  der  Feldmarschall  Fürst  Repnin, 
der  Kanzler  Bezborodko,  die  Geheimräte  Bezborodko 
und  Rumianzow  sollten  sofort  die  angelegten  Siegel 
nachprüfen,  sie  dann  entfernen,  die  hinterlassenen 
Papiere  durchsehen  und  was  ihnen  als  besonders 
wertvoll  oder  besonders  —  verdächtig  vorkommen 
würde  herausnehmen,  um  es  der  genauesten  Prü- 
fung zu  unterziehen. 

Fürst  Repnin  entnahm  der  geschichtlichen  Erb- 
schaft zwei  ungebundene  Bände,  welche  die  Auf- 
schrift „Memoires  du  roi  Stanislas  Auguste"  trugen. 
Einer  der  ehemaligen  Sekretäre  des  Königs,  dem  die- 
ser seine  Memoiren  teilweise  diktiert  hatte,  Christian 
Wilhelm  Friese,  überreichte  dem  Fürsten  acht  in 
Maroquin  gebundene  Bände  der  Aufzeichnungen. 
Auf  ausdrücklichen  Wunsch  des  Zaren  wurden  diese 
acht  Bände  im  kaiserlichen  Kabinett  verwahrt,  wäh- 
rend die  beiden  anderen  von  Rumianzow  im  Archiv 
des  Kollegiums  für  auswärtige  Angelegenheiten  hin- 
terlegt wurden.  (Zwei  Bände  befinden  sich  in  dem 
Museum  der  Fürsten  Czartoryski  in  Krakau,  die 
einst  in  den  Besitz  des  Fürsten  Adam  Czartoryski 
gelangt  waren  und  deren  Text  mit  den  vorliegenden 
ersten  zwei  Bänden  des  handschriftlichen  französi- 
schen Originals  bis   auf  unwesentliche  Änderungen 

XLV 


und  neu  eingefügte  Notizen  des  Königs  überein- 
stimmt.) 

Tm  Jahre  i832  befahl  Zar  Nikolaus  I.,  die  versie- 
gelten Bücher  im  Staatsarchiv  unterzubringen.  Nach 
neun  Jahren  Hess  sie  sich  der  Zar  nochmals  vorlegen. 
Es  ist  anzunehmen,  dass  er  in  den  Papieren  geblät- 
tert, vielleicht  nach  Aufschlüssen  und  Enthüllungen 
gesucht  und  vielleicht  auch  welche  gefunden  hat.  Als 
er  sie  nämlich  dem  Reichskanzler  zur  Verwahrung 
wieder  zurückgab,  bestanden  sie  nur  aus  einem  Pa- 
ket, während  derselbe  Kanzler  i832  noch  zwei  Pa- 
kete in  Empfang  genommen  hatte.  Das  Paket  war 
sorgfältigst  versiegelt,  darauf  ein  vom  Zaren  eigen- 
händiger Vermerk,  die  Memoiren  sollten  gut  ver- 
wahrt und  die  Siegel  dürften  keinesfalls  ohne  seinen 
Befehl  entfernt  werden. 

Nun  schien  es,  als  sollte  den  vergilbten  Bänden  der 
ewige  Schlaf  vergönnt  sein,  als  scheuten  sich  die  rus- 
sischen Herrscher,  in  den  Bekenntnissen  des  Königs 
zu  wühlen  und  vergessene  Erinnerungen  wachzu- 
rufen. Denn  ein  halbes  Jahrhundert  rührte  keines 
Menschen  Hand  an  dem  Vermächtnis.  Erst  1891  ver- 
langte Zar  Alexander  III.  wieder  nach  ihnen.  Und 
wieder  wanderten  sie,  neu  versiegelt  und  mit  dem 
neuen  Vermerk,  sie  ohne  ausdrückliches  Geheiss 
nicht  anzurühren,  zurück  zu  ihrer  Ruhestätte. 

Bis  endlich  1907  der  Direktor  des  Petersburger 
Staatsarchivs  Sergius  Goriainow  mit  Genehmigung 
des  Zaren  Nikolaus  II.  die  Siegel  erbrechen  durfte. 
Er  übergab  die  Memoiren  der  kaiserlichen  Akademie 
der  Wissenschaften  zur  Veröffentlichung,  um  jetzt 
erst  die  von  russischen  Herrschern  so  streng  bewach- 
ten Geheimnisse  vor  der  Nachwelt  zu  enthüllen  und 

XL  VI 


die  Weltgeschichte  um  ein  Werk  zu  bereichern,  das 
schon  deshalb  besondere  Beachtung  verdient,  als  es 
von  einem  Manne  stammt,  der  als  einziger  von  den 
konstitutionellen  Monarchen  vor  der  Revolution  den 
Mut  gehabt  hat,  die  Geschichte  seines  Zeitalters  selbst 
niederzuschreiben.  Die  vier  ersten  Teile  des  hand- 
schriftlichen Originals  wurden  191 4  im  französischen 
Urtext  herausgegeben.  —  Der  hier  in  deutscher 
Übertragung  vorliegende  Band  besteht  aus  den  bei- 
den ersten  Teilen,  das  Gesamtwerk  wird  fünf  bis 
sechs  Bände  umfassen. 

Begonnen  hat  König  Stanislaw  August  die  Nieder- 
schrift seiner  Memoiren  im  Jahre  1771,  wie  er  es 
selbst  in  einer  Notiz  sagt.  Den  zweiten  Teil  schrieb  er 
zehn  Jahre  nach  dem  ersten,  den  Rest  später,  führte 
aber  sein  Tagebuch  bis  ans  Lebensende.  Im  Winter 
des  Jahres  1797  überraschte  den  entthronten  Kö- 
nig oft  sein  Neffe,  Fürst  Adam  Czartoryski,  am  frü- 
hen Morgen  am  Schreibtisch,  mit  wirrem  Haar  und 
blassem  Gesicht.  Er  schriebe  seine  Memoiren,  hiess 
es.  Kurz  vor  seinem  Tode  fügte  er  noch  eigenhändig 
einige  Korrekturen,  Notizen  und  Anmerkungen  ein. 

Welche  Motive  den  König  zur  Niederschrift  ver- 
anlasst haben  mögen:  ob  das  Gefühl  der  Notwendig- 
keit einer  Rechtfertigung  seiner  selbst  vor  der  Ge- 
schichte oder  das  Gefühl  der  Notwendigkeit  eines 
Dokuments  für  sein  Wollen  und  Streben,  ob  der 
Drang  nach  einer  Klärung  seines  Verhältnisses 
zum  polnischen  Volke  und  zur  polnischen  Republik 
oder  das  Verlangen,  die  Schuld,  die  das  Geschick  auf 
ihn  geladen,  von  seinen  Schultern  abzuwälzen,  ob 
der  heisse  Wunsch,  das  Urteil  der  Geschichte  aufzu- 
halten, dessen  Ungerechtigkeit  er  vielleicht  befürch- 

XLVIf 


ten  zu  müssen  glaubte,  ob  tiefe  Selbsterkenntnis  oder 
das  Geschick  ihm  die  Feder  in  die  Hand  gedrückt 
haben,  ob  er  ein  Vermächtnis  und  ein  politisches 
Testament  zur  Warnung  für  die  Nachkommen  hin- 
terlassen wollte  oder  ob  es  nur  eine  pro  domo  Schrift 
sein  sollte,  —  bleibe  dahingestellt.  Sicher  ist,  dass 
nicht  überall  die  Objektivität  und  Vollständigkeit 
des  gewissenhaften  Historikers  zu  finden  ist,  dass 
vielfach  die  Dinge  rein  subjektiv  beurteilt  und  durch 
das  Prisma  des  mit  grossen  Teilen  des  Volkes  und 
mit  zahlreichen  Parteien  des  Landes  nicht  einigen 
Königs  gesehen  sind.  Das  aber  macht  gerade  den  be- 
sonderen Wert  dieser  Memoiren  aus;  historiogra- 
phisch  liegen  viele  einwandfreie  Darstellungen  dieser 
Epoche  vor,  jedoch  die  subjektive,  individuelle  Auf- 
fassung und  Beurteilung  eines  so  überragenden  Gei- 
stes, den  das  Schicksal  vom  einfachen  Truchsess  zum 
König  machte,  um  ihm  dann  brutal  Krone  und  Szep- 
ter wieder  zu  entreissen,  eines  Geistes,  der  eine 
ganze  Epoche  befruchtet  und  zugleich  sein  Reich 
dem  Verderben  entgegengeführt  hat,  der  Träger 
eines  Kulturzeitalters  war,  —  ist  von  besonderem 
Wert.  Und  es  muss  betont  werden,  dass  die  Memoi- 
ren, abgesehen  von  dem  subjektiven  Stempel,  abge- 
sehen davon,  dass  sie  manches  wohlweislich  ver- 
schweigen und  manches  unnötig  her  vorheben,  keinerlei 
Fälschungen  der  geschichtlichen  Ereignisse  enthalten. 
Deshalb  sind  die  Aufzeichnungen  des  letzten  pol- 
nischen Königs,  die  sich  erst  nach  über  hundert  Jah- 
ren ans  Tageslicht  haben  wagen  dürfen,  ein  grosses 
kulturhistorisches  Dokument. 

Dr.  A.  v.  Guttry 
XL  VIII 


Hoc  enim  est  sors  hominum  in  primis  reipublicae  officiis 
constitutorum,  ut  non  solum  nihil  in  ea  contingat  quoil  eos 
non  afhciat,  sed  ut  neque  illis  quidquani  feie  eveniat  quud 
non  simul  ipsam  rempublicam  afHcere  possit.  Unde  et  pri- 
vata  eoruiu  vita  posteris  tradenda  est  exwraplo  vel  monitioui. 


l/yenn  jene  Geschichte  die  beste  ist,  die  den  Leser 
mit  grösster  Wahrhaftigkeit  über  die  Rechte  und  Bei- 
spiele belehrt,  welche  die  Vorfahren  ihm  überliefert 
haben;  wenn  der  wirkliche  Verlauf  der  Ereignisse  von 
niemandem  so  genau  gekannt  werden  kann,  als  von  den 
daran  Beteiligten,  welche  nicht  nur  die  Tatsachen  ken- 
nen (sonst  wären  sie  den  Zeugen  gleichzustellen),  son- 
dern als  die  einzigen  auch  die  Motive  wissen,  so  genügt 
es,  bei  dem  Autor  seiner  eigenen  Lebensgeschichte  Wahr- 
haftigkeit und  Exaktheit  vorauszusetzen,  um  seine  Er- 
zählung jeder  anderen  vorzuziehen.  Und  diese  Voraus- 
setzung gehört  nicht  ins  Bereich  des  unmöglichen.  Gleich 
jeder  anderen  Tugend  ist  die  Aufrichtigkeit  eine  Gabt' 
Gottes;  wer  von  Geburt  an  grössere  Befähigung  zu  die- 
ser Tugend  zeigt,  wird  sie  um  so  leichter  üben,  auch  bei 
seiner  eigenen  Lebensgeschichte,  wenn  die  Zufälle  seines 
Lebens  den  Lauf  der  öffentlichen  Ereignisse  beeinßusst 
haben,  wenn  er  sein  Vaterland  und  die  Menschheit  liebt 
und  schliesslich  wenn  er  der  Meinung  ist,  dass  sogar 
jene  Verfehlungen,  die  das  Selbstbewusstsein  am  tief- 
sten demütigen,  schoti  halb  gesühnt  sind,  sobald  man 
Mut  hat,  sie  einzugestehen  und  durch  dieses  Geständnis 
dem  Leser  dienlicli  zu  sein,  —  so  wie  die  Trümmer 
eines  zerschellten  Scläffes  noch  jenen  als  Warnung  die- 
nen können,  die  auf  ihrer  Fahrt  dieselben  Gestade  auf- 
suchen. 


ERSTER      TEIL 


ERSTES     KAPITEL 

MEINE  KINDHEIT.  —  URSACHEN  MEINER  GE- 
FANGENNAHME. —  CHARAKTER  MEINER  MÜT- 
TER. —  MEINE  ERZIEHUNG.  —  SLIWICKI.  — 
MEINE  ERSTE  REISE.  —  NOTWENDIGKEIT  EINES 
FELDZÜGS.  —  MEIN  EID.  —  KAüNITZ.  —  LÖ- 
WENDAL.  —  MORITZ  VON  SACHSEN.  —  BERG- 
OP-ZOOM.  SEIGNEUR  DE  COURT.  —  BOGQUET.  — 
RREDA.  —  DAS  HOLLÄNDISCHE  LAGER.  —  BEGEI- 
STERUNG DER  HOLLÄNDER  FÜR  DEN  PRINZEN 
VON  ORANIEN.  —  AACHEN.  —  MEINE  ERKRAN- 
KUNG.—RÜCKKEHR  NACH  WARSCHAU.— REICHS- 
TAG UNTER  DEM  VORSITZ  VON  SIEMIENSKI  VOM 
JAHRE    1748. 


Ich  bin  am  17.  Januar  1782  zu  Wolczyn  in  der 
Woiwodschaft  Brzesc  Litewski  geboren,  welcher 
Besitz  damals  meinem  Vater  gehörte,  —  ein  Jahr  vor 
dem  Ableben  Augusts  II. 

Bei  den  darauf  folgenden  Unruhen  wurde  ich  der 
Wiege  entrissen  und  von  dem  Woiwoden  von  Kiew 
Potocki  (dem  nachmaligen  Grosshetman  und  Kastel- 
lan von  Krakau)  als  Geisel  nach  Kamieniec  entführt; 
er  wollte  auf  solche  Weise  seine  Anhänglichkeit  an 
den  König  Stanislaw  Leszczyriski  beweisen,  obgleich  er 
unter  der  Hand  sein  Übereinkommen  mit  August  II F. 
von  Sachsen,  dessen  Mitbewerber,  vorbereitete,  lange 
noch  bevor  mein  Vater,  nach  der  Übergabe  Danzigs 
an  die  Russen,  zugleich  mit  dem  Primas  Potocki  und 
allen  anderen  polnischen  Fürsten,  die  sich  zu  jener 
Zeit  in  der  Stadt  befanden,  gezwungen  war,  sich  den 
Gesetzen  des  Siegers  zu  beugen. 

Potocki  befriedigte  durch  diese  Tat,  wie  auch  durch 
manche  andere,  den  eifersüchtigen  Hass,  den  er  ge- 
gen meinen  Vater  hegte  und  der  zur  Ursache  vieler 
Ereignisse  unter  der  Regierung  Augusts  II.  und  Au- 
gusts III.  wurde.  Seine  Folgen  äusserten  sich  noch 
unter  meiner  Regierung  durch  eine  unausgesetzte  Ri- 
valität zwischen  dem  Hause  der  Potockis  und  dem 
meinigen,  welche  Gefühle  und  Interessen  einerseits 

5 


die  Fürsten  Czartoryski,  die  Brüder  meiner  Mutter, 
mit  ihrem  zahlreichen  Anhang,  andererseits  die  Rad- 
ziwills,  Mniszechs  und  so  viele  andere  teilten. 

Nach  beendeter  Belagerung  Hessen  meine  Eltern  mich 
nach  Danzig  kommen.  Ich  war  damals  drei  Jahre  alt; 
von  jetzt  ab  begann  meine  Mutter  sich  um  meine 
Erziehung  zu  bekümmern,  und  zwar  mit  derselben 
überlegenen  Intelligenz,  durch  die  sie  sich  schon  bei 
der  Erziehung  meiner  älteren  Geschwister  ausgezeich- 
net hatte,  aber  mit  noch  erhöhter  Sorgfalt.  Die  wirk- 
lich aussergewöhuliche  Frau  gab  mir  nicht  nur  selbst 
Unterricht  in  den  meisten  Dingen,  die  man  sonst 
ganz  den  Lehrern  überlässt,  sondern  bemühte  sich 
vor  allem,  meiner  Seele  strenge,  erhabene  Grund- 
sätze einzupflanzen,  die  mich  tatsächlich  ihren  Ab- 
sichten gemäss  auch  bald  von  der  gewöhnlichen  We- 
sensart anderer  Kinder  entfernten,  zugleich  aber  auch 
die  Ursache  einiger  meiner  Fehler  wurden;  ich  glaubte 
mich  meinen  Kameraden  überlegen,  weil  ich  viele 
Dinge  nicht  tat,  die  bei  ihnen  Fehler  genannt  wur- 
den, und  weil  ich  Verschiedenes  wusste,  was  man  sie 
noch  nicht  gelehrt  hatte.  Ich  wurde  zu  einem  sehr 
stolzen  kleinen  Wesen. 

Die  in  Polen  im  allgemeinen  wirklich  unzuläng- 
liche nationale  Erziehung  sowohl  in  wissenschaftli- 
cher als  auch  in  moralischer  Hinsicht  veranlasste 
meine  Mutter,  mich  vor  jedem  Verkehr  zu  bewahren, 
von  dem  sie  ein  schlechtes  Beispiel  für  mich  befürch- 
tete; das  brachte  mir  in  einer  Hinsicht  so  viel  Gutes 
als  Böses  in  der  anderen.  Auf  der  fortwährenden 
Suche  nach  vollkommenen  Menschen  sprach  ich  fast 
mit  niemandem,  und  die  beträchtliche  Anzahl  jener, 
die  sich  von  mir  verachtet  glaubten,  brachte  mir  die 


missliche  Auszeichnung,  dass  ich  bereits  in  meinem 
fünfzehnten  Lebensjahr  Feinde  hatte;  dagegen  muss 
ich  bekennen,  dass  die  Richtung,  die  man  mir  gege- 
ben, mich  vor  allem  behütet  hat,  wodurch  eine 
schlechte  Gesellschaft  jungen  Leuten  gefährlich  wer- 
den kann.  Ich  gewann  und  bewahrte  mir  eine  Anti- 
pathie gegen  jede  Falschheit,  aber  auch  eine  (im  Ver- 
gleich zu  meinem  Alter  und  meiner  Stellung)  zu  grosse 
Antipathie  gegen  alles,  was  man  mir  als  niedrig  und 
mittelmässig  bezeichnet  hatte.  Man  hat  mir  sozusagen 
niemals  die  Zeit  gelassen,  Kind  zu  sein;  als  würde 
man  dem  Jahr  den  Monat  April  wegnehmen.  Heute 
empfinde  ich  das  als  eine  nicht  wieder  gutzuma- 
chende Entbehrung  und  ich  beklage  sie,  denn  ich  bin 
der  Ansicht,  dass  meine  so  oft  schmerzlich  empfun- 
dene Neigung  zur  Melancholie  eine  Frucht  dieser 
künstlich  und  frühzeitig  grossgezogenen  Weisheit  ist, 
die  mich  doch  nicht  verhindern  konnte,  alle  mir  vor- 
herbestimmten Fehler  zu  begehen,  hingegen  mich 
bereits  in  meinem  zartesten  Alter  zu  einem  Enthusi- 
asten zu  machen  gedachte. 

Mit  zwölf  Jahren  schon  fühlte  ich  ganz  ernsthafte 
theologische  Beunruhigungen  über  die  Freiheit  des 
Willens  und  die  Prädestination,  über  die  Täuschung 
der  Sinne,  den  absoluten  Phvrrhonismus  usw.,  so  dass 
ich  beinahe  krank  wurde.  Ich  werde  mich  stets  mit 
Dankbarkeit  erinnern,  auf  welch  kluge  Weise  Pater 
Sliwicki l)  damals  meine  Beängstigungen  beschwich- 
tigte. „Mein  liebes  Kind,"  sagte  er,  „ist  es  wirklich 
wahr,  dass  Sie  an   allem,  was  Sie  sehen  und  hören, 

*)  Anm.  des  Königs:  Er  war  in  Polen  Chef  der  Kongrega- 
tion, die  man  dort  „Missionäre"  nennt,  und  die  in  Frank- 
reich unter  dem  Namen  der  „  Lazaristen "  bekannt  war. 


durchaus  zweifeln?  Könnten  Sie  wirklich  nicht  daran 
glauben,  dann  wäre  es  nicht  Ihre  Schuld;  Gott  jedoch 
ist  zu  gütig,  um  Sie  in  dieser  Unruhe  und  diesen  Lei- 
den zu  belassen,  wenn  Sie  ihn,  den  Schöpfer  Ihres 
Wesens,  von  dessen  notwendiger  Existenz  Ihr  eigenes 
Dasein  Ihnen  doch  Gewissheit  geben  muss,  vertrauens- 
voll darum  bitten."  Diese  wenigen  Worte,  der  herz- 
liche Ton,  in  dem  sie  gesprochen  wurden,  und  offen- 
bar auch  der  innere  Drang,  einen  Ausweg  für  meine 
Qualen  zu  finden,  beruhigten  mich  wieder. 

Meine  Mutter  hatte  zwar  nicht  den  Fehler  began- 
gen, mich  in  diesem  Alter  in  der  Metaphysik  zu  un- 
terweisen ;  da  sie  mich  jedoch  beständig  von  der  kind- 
lichen Sorglosigkeit  fernhielt  und  mich  daran  ge- 
wöhnte, jedem  Wort,  das  in  meiner  Anwesenheit 
gesprochen  wurde,  Aufmerksamkeit  zu  schenken, 
hatte  ich  viele  Gedanken  erfasst  und  durchdacht,  bei 
denen  ich  mich  noch  nicht  hätte  aufhalten  sollen. 
Mein  sanftes  Naturell  und  meine  lebhafte  Phantasie 
verführten  mich,  alles,  was  mir  an  Menschen  und 
Dingen  der  Achtung  und  des  Lobes  wert  erschien, 
mit  geradezu  überschwenglicher  Neigung,  ja  Leiden- 
schaft aufzunehmen,  indes  ich  anderei'seits  im  Ton 
eines  Zensors  und  mit  Abscheu  fast  alles  verurteilte, 
was  ich  als  tadelnswert  erachtete. 

So  beendete  ich  denn  mein  sechzehntes  Lebensjahr; 
ich  besass  eine  für  mein  Alter  ungewöhnliche  Bildung, 
grosse  Wahrheitsliebe,  hatte  grosse  Ehrfurcht  vor  den 
Tugenden  meiner  Eltern,  denen  mir  nichts  gleichzu- 
kommen schien,  und  die  Überzeugung,  dass  man 
mindestens  ein  Aristides  oder  ein  Cato  sein  müsse, 
um  etwas  zu  bedeuten.  Ich  war  klein  und  von  ge- 
drungener Gestalt,    ungeschickt,    kränklich    und  in 

8 


Stanislaw  Ciolek  Poniatowski,  Kastellan  von  Krakau, 
Vater  des  Königs 


mancher  Beziehung  ein  wilder  Arlekin.  In  dieser  Ver- 
fassung Hess  man  mich  meine  erste  Reise  antreten. 
Sechsunddreissigtausend  Russen  unter  dem  Ober- 
befehl des  Fürsten  Repnin  marschierten  durch  Polen, 
um  Maria  Theresia  Hilfe  zu  bringen.  Mein  Vater,  der 
bisher  meine  Erziehung  fast  gänzlich  meiner  Mutter 
überlassen  hatte,  gab  mir  eine  Empfehlung  an  den 
General  Lieven  mit,  den  zweiten  Befehlshaber  dieser 
Armee  und  seinen  alten  Bekannten.  Mein  Vater  war 
der  Ansicht,  dass  eine  mitgemachte  Kampagne  die 
Erziehung  eines  jungen  Mannes  besser  vollenden 
könnte,  denn  irgend  eine  Akademie  der  Welt;  meine 
Mutter  hatte  den  Mut,  derselben  Ansicht  zu  sein;  zu 
meinem  grössten  Bedauern  Hessen  sich  ihre  Absichten 
in  diesem  Punkte  nicht  erfüllen.  Ein  Mann,  der  be- 
rufen ist  Staaten  zu  lenken  und  der  nicht  Krieg  zu 
führen  versteht,  ist  wie  ein  Mann,  dem  die  Natur 
einen  der  fünf  Sinne  versagt  hat;  wenn  er  im  Verlauf 
seines  Lebens  gezwungen  ist,  durch  seine  Stellvertre- 
ter und  nur  durch  Stellvertreter  Krieg  zu  führen, 
wenn  diese  dann  fühlen,  dass  er  nicht  nur  gezwungen 
ist,  durch  ihren  Arm  zu  handeln,  sondern  auch  einzig 
und  allein  mit  ihren  x\ugen  zu  sehen,  werden  sie  es 
sich  übermässig  zu  Nutzen  machen ;  und  die  Soldaten 
lieben  nur  ihre  wirklichen  Führer  und  gehorchen 
den  Fürsten  nur  dann,  wenn  ihre  Führer  es  wollen. 
Meiner  Meinung  nach  soll  jeder  Mann  von  hoher  Ge- 
burt (vor  allem  in  einem  freien  Staat)  und  jeder  Sohn 
eines  Herrschers  einen  Feldzug  mitmachen,  wenn  sich 
die  Gelegenheit  bietet,  und  soll  sogar  während  einer 
gewissen  Zeit  in  irgend  einem  Korps  dienen.  Man 
soll  die  kleinen  Details  des  Dienstes  nicht  als  Pedan- 
terie verrufen;  nur  durch   Übung  kann  man  sie  er- 

9 


lernen,  und  sie  sind  die  notwendige  Grundlage  jedes 
grossen  Manövers  und  dessen,  was  wir  die  hehre 
Kriegskunst  nennen.  Der  einzige  Unterschied  zwischen 
dem  einfachen  Offizier  und  dem  grossen  Führer  be- 
steht darin,  dass  die  Fähigkeiten  des  Offiziers  sich  auf 
die  Kenntnis  und  Ausführung  dessen  beschränken 
müssen,  was  dem  Führer  nur  als  Instrument  dient. 
Kehren  wir  jedoch  zu  meiner  Geschichte  zurück. 

Kaum  war  meine  Kriegsausrüstung  beendet,  da 
wurde  die  Unterzeichnung  der  Präliminarien  von 
Aachen  bekannt.  Mein  Vater  sagte:  „Diesmal  wirst 
du  noch  nicht  einen  Krieg  sehen,  reise  jedoch  sogleich 
ab,  um  wenigstens  die  versammelten  Armeen  zu  se- 
hen." 

Er  gab  mir  Briefe  mit  für  den  Marschall  von  Sach- 
sen, den  Marschall  von  Löwendal  und  einige  seiner 
Freunde  in  den  verschiedenen  Ländern,  die  ich  un- 
terwegs berühren  sollte.  Als  Begleiter  gab  man  mir 
Major  von  Königfels  mit,  den  ehemaligen  Adjutanten 
des  berühmten  Marschalls  Münnich;  seit  dieser  in  Un- 
gnade gefallen  war,  hatte  sich  Königfels  in  das  Haus 
meines  Vaters  zurückgezogen.  Im  Dienste  Russlands 
erzogen,  war  er  ganz  besonders  geeignet,  mit  mir  als 
Freiwilligen  einen  russischen  Feldzug  mitzumachen. 
Da  er  nun  schon  einmal  zu  meinem  Begleiter  auser- 
sehen war,  blieb  es  dabei,  obgleich  der  Zweck  meiner 
Reise  ein  anderer  geworden.  Er  konnte  nicht  Franzö- 
sisch und  sein  ganzes  Wesen  eignete  sich  wenig  für 
das  Land  und  die  Leute,  die  ich  aufsuchen  sollte;  sein 
gesunder  Menschenverstand  und  seine  Rechtschaffen- 
heit kompensierten  jedoch  alles. 

Meine  Eltern  nahmen  mir  damals  das  Ehrenwort 
ab,  mich  niemals  an  irgend  einem   Hasardspiele  zu 

io 


beteiligen,  weder  Wein  noch  starken  Likör  zu  verko- 
sten, noch  vor  dem  dreissigsten  Lebensjahr  zu  heira- 
ten; dasselbe  hatten  sie  auch  von  meinen  Brüdern 
gefordert.  Ich  habe  diesen  Schwur  gehalten;  meine 
Eltern  dachten,  sie  könnten  mich  auf  diese  Weise  von 
der  allgemein  üblichen  Unsitte  des  übermässigen 
Trinkens  bewahren;  denn  sowohl  bei  unseren  Ver- 
sammlungen wie  fast  in  allen  Privathäusern  musste 
man  sich  ihr  unterwerfen,  wollte  man  nicht  missfal- 
len, indem  man  sich  weigerte,  jedesmal  den  Becher 
zu  leeren,  so  oft  man  zum  Trinken  aufgefordert  wurde, 
es  sei  denn,  dass  man  nachweisen  konnte,  man  habe 
noch  nie  mit  irgendjemand  getrunken.  Das  nützliche 
Beispiel  meiner  Erziehung  hat  durch  —  wenn  auch 
nicht  ganz  so  strenge  —  Nacheiferung  in  anderen 
fürstlichen  Häusern  vielleicht  mit  dazu  beigetragen, 
dass  dieses  in  Polen  durch  August  II.  so  übermässig 
geförderte  Laster  erheblich  nachliess. 

Endlich  reiste  ich  ab,  nahm  meinen  Weg  über 
Czenstochau,  Troppau,  Königgrätz,  Prag,  Eger,  Bay- 
reuth, Frankfurt  und  den  Rhein  abwärts  bis  Köln 
und  traf  am  io.  Juni  in  Aachen  ein,  wo  Kauderbach, 
dazumal  sächsischer  Minister,  einst  Instruktor  meines 
Vaters  und  meiner  älteren  Brüder  im  Haag,  mich  den 
Ministern  der  anderen  Höfe  vorstellte,  die  zum  Kon- 
gress  versammelt  waren.  Fürst  —  damals  noch  Graf 
—  Kaunitz,  der  Gesandte  und  spätere  Minister  des 
Wiener  Hofes,  empfing  mich  trotz  unseres  grossen 
Altersunterschiedes  und  der  Schrullenhaftigkeit,  die 
ihm  nachgesagt  wurde,  auf  das  liebenswürdigste  und 
Hess  sich  herab,  beinahe  eine  ganze  Stunde  mit  mir 
zu  plaudern. 

Drei  Tage  später  gelangte  ich  nach  Maastricht,  wo 

l  i 


sieh  damals  das  Hauptquartier  des  Marschalls  von  Lö- 
wendal  befand.  Der  General  empfing  mich  freundlich, 
Königfels  gegeuüber,den  er  in  Russland  kennen  gelernt, 
zeigte  er  sich  sehr  wohlwollend  und  verschaffte  uns 
jede  Möglichkeit  —  damals  hing  dort  alles  von  ihm 
ab  — ,  in  Maastricht  und  Umgebung  alles  zu  sehen, 
was  einen  jungen  Reisenden  vernünftigerweise  inter- 
essieren konnte.  Eines  Tages  sagte  er  zu  Königfels  in 
meiner  Gegenwart: 

„Der  kleine  Poniatowski  rnuss  nicht  schlecht  er- 
staunt sein,  statt  hier  die  Strenge  des  schwedischen, 
russischen  und  deutschen  Dienstes  vorzufinden,  von 
dem  sein  Vater  und  Sie  ihm  vorgefaselt  haben  mö- 
gen, einen  französischen  Marschall  zu  sehen,  der  in- 
mitten seiner  Armee  jeden  Abend  zum  Schauspiel 
geht  und  seinen  Tag  mit  den  Damen  vom  Theater 
verbringt." 

In  jenem  Augenblick  füblte  ich,  wie  leicht  ein  auf 
hohem  Posten  stehender  Mann  sich  vor  allem  die 
Herzen  der  Jugend  gewinnen  kann,  wenn  ihm  nur 
daran  liegt,  den  Eindruck,  den  er  auf  sie  macht,  zu 
beobachten  oder  zu  erraten,  und  wie  leicht  ein  Grosser 
sich  Popularität  erringen  kann.  Trotzdem  Löwendal 
einen  so  bedeutenden  militärischen  Ruf  genoss  und 
mich  so  freundlich  empfangen  hatte,  war  ich  durch 
die  Erzählungen  der  von  ihm  geplünderten  Flamlän- 
der über  seine  Zuchtlosigkeit  gegen  ihn  eingenom- 
men; nun,  durch  diese  seine  Bemerkung  gewann  er 
sich  meine  Neigung,  die  ich  nicht  unterdrücken 
konnte,  obgleich  ich  sie  verdammte.  Als  er  sich  nach 
Brüssel  begab,  folgte  ich  ihm,  und  er  stellte  mich 
dem  Marschall  von  Sachsen  vor. 

Ich  glaubte,  den  ersten  Menschen  der  Welt  vor 

i  2 


mir  zu  haben:  gross,  gebaut  wie  ein  Athlet,  stark  wie 
Herkules,  den  mildesten  Blick  und  die  männlichsten 
Züge,  den  edelsten  Gesichtsausdruck;  der  Ton  seiner 
Stimme  wie  Orgelklang;  er  ging  langsam,  jedoch  mit 
grossen  Schritten;  jedes  Wort  seines  Mundes  (er 
sprach  nie  viel  auf  einmal)  und  die  geringste  seiner 
Bewegungen  machten  auf  alle,  die  ihn  umgaben, 
grossen  Eindruck.  Dreihundert  bis  vierhundert  fran- 
zösische Offiziere  waren  jeden  Tag  bei  ihm  anwe- 
send, und  ich  war  tief  ergriffen  zu  sehen,  wie  die 
Träger  berühmtester  Namen  dieser  Nation,  die  sonst 
gewöhnt  war,  überall  den  Ton  anzugeben,  unterwür- 
fig und  ehrfurchtsvoll  sozusagen  von  jedem  Atemzug 
dieses  Fremden  abhingen,  der  sie  erst  wieder  zu  sie- 
gen gelehrt  hatte1).  Er  war  dazumal  General-Gouver- 
neur der  Niederlande,  die  er  für  Frankreich  erobert 
hatte;  die  Soldaten  und  die  subalternen  Offiziere  ver- 
götterten ihn,  die  höheren  Offiziere  beneideten  und 
bewunderten  ihn,  doch  hassten  sie  ihn  nicht,  wie  sie 
Löwendal  hassten,  der  sie  mit  weniger  Rücksicht  be- 
handelte; sogar  die  Flamländer  beklagten  sich  nicht 
über  ihn;  die  besiegten  Generale  jedoch  verkündeten 
laut  sein  Lob,  und  der  Fürst  von  Cumberland  hing 
sogar  in  seinem  Zimmer  zu  Windsor  sein  Porträt  auf. 
Er  empfing  mich  gütig,  äusserte  sich  liebenswürdig 
über  meine  Familie  und  hauptsächlich  über  meinen 
ältesten  Bruder,  der  1 74 1  und  I742  die  Kampagne 
unter  ihm  mitgemacht  hatte.  Ich  erinnere  mich,  dass 
er  sagte: 

*)  Anra.  des  Königs:  Man  wird  sich  erinnern,  dass  wäh- 
rend des  ganzen  Krieges  nach  dem  Tode  Kaiser  Karls  VI.  die 
französischen  Armeen  kein  Glück  hatten  und  erst  unter  der 
Führung  des  Marschalls  von  Sachsen  wieder  siegreich  wurden. 

i3 


„Ich  hätte  ihn  gerne  hier  bei  mir  gehabt,  ich  habe 
nie  einen  jungen  Menschen  getroffen,  der  zum  Krieg- 
führen befähigter  schien;  er  hätte  es  weit  gebracht, 
wäre  er  so  fortgefahren;  ich  hatte  ihn  gern,  und  auch 
er  hatte  mich  gern." 

Da  der  Friede  so  gut  wie  geschlossen  war,  hatten 
die  Franzosen  das  Lager  aufgelöst  und  ihre  Truppen 
beinahe  vollständig  in  Kantonnements  verstreut;  ich 
habe  nur  wenige  und  nur  an  einzelnen  Orten  gese- 
hen; ich  erinnere  mich,  in  Maastricht  mit  einem 
jungen  Artillerieoffizier  gesprochen  zu  haben,  der 
einige  Jahre  früher  als  neunjähriger  Knabe  bei  der 
Belagerung  dieser  Stadt  verwundet  worden  war. 

Je  weniger  militärisch  der  Zweck  meiner  Reise 
wurde,  um  so  begieriger  wurde  ich,  alles  zu  sehen, 
was  dieses  schöne  Land  an  Schätzen  der  Kultur,  der 
Kunst  und  hauptsächlich  der  Malerei  besitzt.  Wie 
fühlte  ich  mich  erhoben  beim  Anblick  eines  Rubens, 
eines  Van  Dyck;  mein  Mentor  war  so  erfreut,  dass 
ich  nur  den  Malereien  nachlief,  dass  er  mir  trotz  sei- 
ner Sparsamkeit  erlaubte,  in  Brüssel  meinen  ersten 
Einkauf  dieser  Art  zu  machen ;  ich  dachte  einen  Schatz 
zu  besitzen,  als  ich  ein  kleines  Bild  erworben. 

Von  Brüssel  ging  es  über  Mecheln  und  Antwerpen 
nach  Berg-op-Zoom,  wo  damals  ein  Schweizer,  Che- 
valier de  Court,  das  Kommando  für  Frankreich  hatte; 
sein  Entgegenkommen  und  seine  Bemühungen,  mir 
alles  zu  zeigen,  was  durch  jene  Belagerung  so  inter- 
essant geworden,  liessen  mich  hier  wieder  wie  später 
noch  oft  erkennen,  welches  Glück  es  ist,  der  Sohn  eines 
berühmten  und  in  vielen  Ländern  persönlich  bekann- 
ten und  beliebten  Mannes  zu  sein.  Der  Chevalier  de 
Court  kannte  und  liebte   meinen  Vater;  er  gab  mir 

i4 


einen  Brief  mit  für  seinen  Landsmann  Cornabe,  Ge- 
neral in  holländischem  Dienste,  der  dazumal  in  Roo- 
seodaal  befehligte,  dem  ersten  Soldatenposten  der 
Republik  zwischen  Berg-op-Zoom  und  Breda.  Die- 
ser vermittelte  mir  die  Bekanntschaft  eines  anderen 
Schweizers  namens  Bouquet,  damals  Generalquartier- 
meister, der  mir  nicht  nur  das  Lager  der  dreissigtau- 
send  Holländer  bei  Breda  zeigte,  sondern  sich  sogar 
die  Mühe  nahm,  mir  eine  kurze  Direktive  niederzu- 
schreiben, die  mir  bei  meiner  Rundreise  in  Holland 
als  Führer  dienen  sollte;  ich  konnte  es  diesmal  nur 
ganz  flüchtig  bereisen,  denn  man  hatte  mir  wenig 
Zeit  hierfür  bestimmt. 

Obgleich  noch  ein  Rind,  hatte  ich  doch  Gefallen 
an  den  Ausbrüchen  des  Enthusiasmus,  der  sich  da- 
mals in  den  untersten  Volksschichten  jenes  Landes  in 
der  lächerlichsten  Weise  für  den  Prinzen  von  Ora- 
nien  offenbarte,  trotz  der  Niederlagen,  welche  die 
Republik  seit  seiner  Erhebung  zur  Statthalterschaft 
erlitten  und  für  die  man  ihn  verantwortlich  machte, 
weil  er  durch  ungerechte  Protektionen  Fehler  be- 
gangen hatte.  Die  Begeisterung  des  Pöbels  war  zu  je- 
ner Zeit  aufs  neue  entfacht,  denn  das  Volk  hatte  ge- 
rade die  Verpachtung  einiger  öffentlicher  Einkünfte 
gewaltsam  abgeschafft. 

Am  5.  August  kehrte  ich  nach  Aachen  zurück,  um 
die  Badekur  zu  gebrauchen;  meine  Eltern  meinten, 
sie  könnte  auf  die  Entwicklung  meiner  Gestalt  ein- 
wirken und  mein  Wachstum  fördern.  Ich  war  schon 
einmal  unter  Erscheinungen  krank  gewesen,  die  in 
meiner  Konstitution  etwas  Rheumatisches  vermuten 
Hessen.  Man  wähnte,  ich  hätte  von  meinem  Vater  die 
Gicht  geerbt.  Jeder  Wunsch  meiner  Eltern  war  für 

i5 


mich  gleich  einem  höchsten  Gesetz.  In  Aachen  gab 
es  einen  Arzt  namens  Cappel,  der  seinerzeit  meinen 
Vater  behandelt  hatte;  er  setzte  sich  sehr  für  die 
Quelle  jenes  Ortes  ein,  doch  offenbar  taugten  die 
Wasser  nicht  für  mich,  denn  am  gleichen  Tage,  an 
dem  ich  die  Kur  begonnen,  fühlte  ich  einen  überaus 
schmerzhaften  Krampf  in  den  Eingeweiden,  der  so 
heftig  war,  dass  er  mir  den  Magen  gegen  die  Knie 
drückte  und  ich  fast  erstickt  wäre.  Ehe  noch  andere 
Hilfe  kommen  konnte,  schüttete  mir  Königfels  einen 
Löffel  Lavendelwasser  in  die  Gurgel;  jetzt  konnte  ich 
wenigstens  wieder  atmen  und  blieb  am  Leben,  bis  der 
Arzt  kam,  der  mich  einige  Wochen  behandeln  und 
mir  Duschen  und  Dampfbäder  applizieren  musste, 
um  mich  wieder  auf  die  Beine  zu  bringen.  Die  Flasche 
mit  dem  Lavendelwasser,  die  mir  das  Leben  rettete, 
war  meinen  Leuten  einige  Stunden  früher  von  einem 
Diener,  der  aus  Hannover  gekommen  war,  übergeben 
worden;  ich  kannte  ihn  nicht,  und  er  verschwand 
gleich  darauf,  so  dass  ich  dieses  Qui-pro-quo  nicht 
aufklären  konnte.  Dieser  Zufall  ist  um  so  auffälliger, 
als  ich  damals  weder  Lavendelwasser  gebrauchte  noch 
welches  besass,  aus  Rücksicht  auf  meine  Mutter,  die 
diesen  Geruch  nicht  vertragen  konnte. 

Als  ich  wieder  leidlich  hergestellt  war,  ging  ich 
nach  Eyndhoven  und  Ruzemonde,  um  mir  die  dort 
noch  versammelten  österreichischen  und  englischen 
Truppen  anzusehen.  In  Ruzemonde  sah  ich  den  Che- 
valier Faulkener,  dem  Voltaire  seine  Zaire  gewid- 
met hat. 

Über  Kassel  und  Dresden  kehrte  ich  nach  War- 
schau zurück,  zu  Beginn  des  Oktobers  1748-  Gleich 
am  ersten  Tage  wurde  mit  ziemlicher  Leichtigkeit 

16 


Ronstanzia  Poniatovvska,  Mutter  des  Königs 


der  Referendar  Siemieriski  zum  Marschall  gewählt. 
Bestuscheff,  damals  Gesandter  Russlands  und  Bruder 
des  russischen  Grosskanzlers,  glaubte  in  diesem  De- 
büt die  Ankündigung  eines  für  seinen  Hof  gefährli- 
chen Unternehmens  zu  sehen  und  erkaufte  die  Auf- 
lösung dieses  Reichstags. 


2    Poniatowski 


ZWEITES     KAPITEL 

PORTRÄT  DES  FÜRST-KANZLERS  CZARTORYSKL— 
HEIRAT  MEINER  JÜNGSTEN  SCHWESTER.  —  POR- 
TRÄT MEINES  SCHWAGERS  BRANICKI.  —  POR- 
TRÄT DES  FÜRSTEN  SAPIEHA.  —  PORTRÄT  SÜL- 
KOWSK1S  UND  DES  GRAFEN  BRÜHL.  —  VERVOLL- 
KOMMNUNG MEINER  ERZIEHUNG  DURCH  MEI- 
NEN ONKEL,  DEN  KANZLER.  —  BESCHREIBUNG, 
WIE  ZU  JENER  ZEIT  UNSERE  TRIBUNALE  ZUSAM- 
MENGESETZT WURDEN.  RERICHT,  WAS  IM  JAHRE 
i749  DABEI  GESCHAH.  —  EDLE  HANDLUNG  MO- 
KRONOWSKIS.  —  PORTRÄT  DER  KASTELLA- 
NIN VON  KAMINSK.  —  PORTRÄT  WIELOPOLSKIS, 
DES  KRONFÄHNRICilS.  —  BETRACHTUNGEN  ÜRER 
SEINE  GLEICHGÜLTIGKEIT  GEGENÜBER  NEUIG- 
KEITEN. —  ERSTE  ERWÄHNUNG  KAYSERL1NGS. 
SEIN  EINFLUSS  AUF  MEINE  RILDUNG.  —  SEIN 
RAT.  —  ICH  WERDE  NACH  BERLIN  GESCHICKT.  — 
LIEBEBKÜHN.  — BÜLOW.  —  DIE  FRAUEN  IN  BER- 
LIN. —  DER  KÖNIG  VON  PREUSSEN.  —  SANS- 
SOUCI. —  ERSTE  ERWÄHNUNG  DES  CHEVALIER 
WILLIAMS.  —  MNISZECH  HEIRATET  BRÜHLS 
TOCHTER. 


Hl,  !■.  IllillMUll  1,,, II1.IM  IM  I 


Zu  jener  Zeit  brachte  man  mich  hei  meinem  Onkel, 
dem  Fürsten  Czartoryski,  Vizekanzler  von  Litauen 
unter.  Seine  Stellung  und  sein  Charakter  hatten  ihn 
zu  einem  Mann  gemacht,  dem  als  wichtigste  Auf- 
gabe die  Erlangung  der  grössten  Popularität  im  gan- 
zen Reich  vorleuchtete  und  der  daher  besonders  ge- 
eignet schien,  den  Charakter  eines  jungen  Mannes  zu 
formen.  Mit  zwanzig  Jahren  hatte  er  sich  die  Gunst 
des  sächsischen  Feldmarschalls  Flemming  gewonnen, 
der  dazumal  auch  der  wirkliche  erste  Minister  Au- 
gusts II.  für  Polen  war,  obgleich  er  nicht  diesen  Titel 
führte.  Durch  Flemmings  Vermittlung  wurde  mein 
Onkel  mit  fünfundzwanzig  Jahren  Vizekanzler  von 
Litauen,  erlangte  dadurch  eine  Stimme  bei  der  Er- 
nennung zu  den  Ämtern  der  Provinz  und  als  Folge 
hiervon  grossen  Einfluss. 

Von  überragender  Bildung  und  Kultur  und  einer 
gewissen  Neigung  zur  Spottsucht,  gewöhnte  sich  der 
Fürst  Czartoryski  unter  dem  allmächtigen  Minister, 
der  ein  witziges  Wort  und  Originalität  zu  schätzen 
wusste,  daran,  seine  Meinung  jedem  ganz  offen 
zu  sagen.  Viele  Leute,  die  seiner  Vermittlung  bei 
Flemming  bedurften,  liessen  sich  dies  gefallen,  und 
bald  glaubte  er,  ein  Privileg  als  Zensor  und  Richter 
zu  haben ;  da  er  während  der  langen  Zeit  seiner  Ver- 

20 


waltung  sich  wirkliche  Verdienste  erwarb,  gewöhnte 
sich  das  Publikum  an  seinen  Ton,  der  bald  von  vie- 
len, am  meisten  jedoch  von  ihm  selbst,  als  Catonische 
Tugend  angesehen  wurde,  besonders  wenn  sich  die 
Gelegenheit  bot,  sie  gegen  die  Fehler  und  Schwach- 
heiten der  Regierung  und  des  Hofes  Augusts  III.  aus- 
zuspielen. Sein  wirkliches  Verdienst  offenbarte  sich 
am  meisten  darin,  dass  er  beharrlich  die  besten  Un- 
tertanen Litauens  zu  den  Ämtern  und  Starosteien  be- 
rief, manchmal  sogar  die  Gunst  des  Hofes  Leuten 
verschaffte,  die  durch  ihre  Geburt  und  ihre  Verbin- 
dungen als  Anhänger  seiner  Gegenpartei  angesehen 
wurden ;  solche  Ernennungen  machte  er  häufig  ge- 
nug, um  seine  Unparteilichkeit  zu  bekunden,  und  sel- 
ten genug  —  und  zwar  nur  für  gewisse,  ganz  beson- 
dere Verdienste  — ,  um  auf  diese  Weise  seinen  Plä- 
nen nicht  zu  schaden. 

Da  sich  der  Einfluss  eines  Mannes  am  deutlichsten 
bei  der  jährlichen  Zusammensetzung  unserer  Tribu- 
nale zeigt,  gewann  er  sich  das  Lob  und  die  Dankbar- 
keit seiner  Mitbürger,  indem  er  sich  bemühte,  stets 
ehrlichere  und  befähigtere  Männer  zum  Richteramt 
zu  berufen,  als  es  gewöhnlich  die  Kreaturen  der  litaui- 
schen Herren,  seiner  Rivalen  um  den  Einfluss,  waren. 

Auch  gehörte  er  zu  jenen  polnischen  Magnaten  sei- 
ner Zeit,  die  durch  ihre  Kritik  und  ihre  Ratschläge 
am  meisten  dazu  beitrugen,  dass  die  Jesuiten  und  die 
Piaristen  das  Joch  des  Rarbarismus  abschüttelten, 
welches  in  ihren  Schulen  noch  dominierte. 

Während  der  zehn  letzten  Jahre  der  Regierung 
Augusts  II.  und  zwei  Drittel  der  Regierungszeit  Au- 
gusts III.  hatte  er  das  Glück,  jeweils  nur  einem  Hof 
oder  einem  Günstling  unterstellt  zu  sein,  welche  die 

21 


Angelegenheiten  Litauens  unbedingt  nur  durch  seine 
Augen  sehen  wollten,  und  als  Nebenbuhler  in  dieser 
Provinz  bloss  Männer  zu  haben,  die  durch  ihre  Feh- 
ler und  Laster  tief  unter  ihm  standen.  Ferner  eignete 
ihm  die  Gabe  unerschöpflicher  Geduld  beim  Anhö- 
ren der  Plaidoyers  und  der  Prozess  führen  den,  wobei 
er  mit  Scharfsinn  und  der  erforderlichen  Gerechtig- 
keit die  Klagen  zu  verstehen  trachtete,  fast  immer 
eine  gerechte  Entscheidung  traf  und  beide  Parteien 
befriedigte. 

Anfänglich  stützte  er  sich  auf  den  Einfluss  und  die 
Verbindungen  meines  Vaters.  Zu  jener  Zeit,  von  der 
ich  spreche,  war  jedoch  sein  Einfluss  in  Litauen  be- 
reits gefestigt,  und  in  Polen  genoss  er  das  Ansehen 
und  sogar  die  Anhänglichkeit  fast  all  jener,  die 
von  dem  Woiwoden  von  Ruthenien,  seinem  Bruder, 
in  gewisser  Abhängigkeit  standen;  von  ihnen  wurde 
er  sogar  als  Gesetzesorakel  angesehen.  Da  er  oft  und 
viel  über  die  Reform  der  nationalen  Erziehung  sprach, 
durch  seine  Reden  und  sein  Beispiel  den  Fleiss  an- 
eiferte, eine  zahlreiche  Korrespondenz  mit  dem  gan- 
zen Reich  unterhielt  und  da  er  vor  allem  es  liebte, 
sozusagen  beständig  über  alle  öffentlichen  Angelegen- 
heiten zu  sprechen  und  auch  über  alle  privaten  An- 
gelegenheiten, die  jene  in  irgend  einer  Weise  beein- 
flussten,  glaubte  man,  mich  in  keine  bessere  Schule 
bringen  zu  können,  um  mir  ein  umfassendes  Wissen 
vom  Stand  der  Nation  zu  verschaffen,  um  mich  im 
Schreiben  und  in  den  Kunstgriffen  der  Popularität 
zu  üben. 

In  diesem  Jahre  schien  das  Ansehen  meiner  Fa- 
milie den  Höhepunkt  zu  erreichen:  meine  jüngste 
Schwester  heiratete  den  Grafen  Branicki,  Woiwoden 

11 


von  Krakau  und  Feldhetman  der  Krone,  und  meine 
Cousine,  die  Tochter  des  Fürst-Vizekanzlers,  den  Woi- 
woden  von  Podlesien,  Sapieha;  beide  Hochzeiten  fan- 
den am  selben  Tage,  dem  19.  November  statt. 

Der  Marquis  des  Issarts,  der  Gesandte  Frankreichs 
am  polnischen  Hofe,  sprach  meiner  Familie  die  bei 
solcher  Gelegenheit  üblichen  Glückwünsche  aus,  be- 
merkte jedoch,  er  müsste  seinen  Hof  benachrichtigen, 
dass  diese  Verbindungen  uns  ein  entscheidendes  Über- 
gewicht verschafften,  und  er  müsste  die  Aufmerksam- 
keit seines  Staates  auf  die  Vorgänge  in  unserem  Lande 
lenken;  er  glaubte,  meine  Familie  sei  den  Absichten 
seines  Hofes  durchaus  ungünstig  gesinnt.  In  der  Folge 
jedoch  enttäuschten  diese  vielversprechenden  Verbin- 
dungen, und  zwar  sowohl  durch  die  persönlichen 
Eigenschaften  wie  durch  die  Konnexionen  der  beiden 
Männer. 

Branicki,  der  einzige  Erbe  eines  alten  Geschlechts, 
war  sehr  reich  und  verstand  es,  seinen  Reichtum  so 
zu  gemessen,  dass  er  zu  seiner  Zeit  mit  Recht  als  ein 
polnischer  Magnat  berühmt  war,  in  dessen  Hause  der 
beste  Geschmack  und  die  grösste  Üppigkeit  herrsch- 
ten. In  seiner  Jugend  war  er  der  Gefährte  aller  Ver- 
gnügungen Augusts  II.  In  den  Jahren,  wo  der  Reichs- 
tag in  Grodno  tagte,  waren  sowohl  der  König  als  auch 
sein  Sohn  August  III.  wiederholt  in  Bialystok,  der 
Residenz  der  Branickis,  zu  Gaste;  der  König  und  sein 
ganzer  Hofstaat  wurde  dort  mit  solchem  Prunk  und 
solcher  Ungezwungenheit  aufgenommen,  dass  alle 
staunten.  Die  ländlichen  Residenzen  in  Bialystok  und 
Choroszcza  und  ihre  Gärten  sind  Denkmäler  von  Bra- 
nickis Geschmack,  die  Polen  zur  Zierde  gereichen. 

Von  kleiner  Gestalt,  hatte  er  doch  das  Aussehen 

13 


eines  grossen  Herrn;  er  besass  all  jene  notwendigen 
Gewandtheiten,  durch  die  man  der  Menge  imponiert, 
war  auch  geschickt  genug,  sich  in  kein  bedenkliches 
Abenteuer  verwickeln  zu  lassen  und  sich  nicht  den 
Hass  einer  der  beiden  gegnerischen  Parteien  des  Rei- 
ches zuzuziehen,  die  dazumal  Polen  in  zwei  grosse 
Lager  teilten.  Gegenwärtig  war  er  Woiwode  von  Kra- 
kau  und  Feldhetman  der  Krone;  man  versprach  sich 
von  ihm,  er  würde  sowohl  aus  wirklicher  Neigung 
wie  auch  aus  Eitelkeit  an  der  Vervollkommnung  der 
Armee  und  somit  auch  des  Staates  arbeiten,  sobald 
man  ihm  den  Feldherrnstab  übertrug,  den  der  acht- 
zigjährige Potocki  bald  abgeben  musste  und  der  ihm 
durch  die  Gunst  des  Hofes  gesichert  schien;  deshalb 
wurde  er  schon  von  beiden  Parteien  umworben.  Sol- 
ches waren  seine  Vorzüge.  Seine  Mittelmässigkeit  in 
allen  Dingen,  die  für  einen  Staatsmann  wesentlich 
sind  (er  war  sich  ihrer  durchaus  bewusst,  und  sie  war 
zum  grossen  Teil  durch  seine  gefällige,  jedoch  ober- 
flächliche Erziehung  verschuldet),  warnten  seine 
Eitelkeit  vor  all  jenen,  die  ihn  übertrafen. 

Der  Fürst- Woiwode  von  Ruthen ien  hatte  trotz  sei- 
ner angeborenen  Vorsicht  ihm  nie  verhehlt,  wie  ge- 
ring er  ihn  achtete  und  wie  wenig  geneigt  er  ihm 
war.  Der  Fürst- Vizekanzler  hatte  ihm  gegenüber  zu 
sehr  den  Ton  des  Richters  und  Pädagogen  angeschla- 
gen, und  so  war  es  den  Feinden  meiner  Familie  ein 
leichtes  ihn  zu  überzeugen,  er  würde  als  Verbünde- 
ter meiner  Oheime  doch  stets  nur  ihr  Untergebener 
und  ihr  Werkzeug  sein;  indessen  versicherten  die 
Potockis  durch  unterwürfige  Schmeicheleien,  sie  wür- 
den ihn  nach  dem  Tode  des  Grosshetmans,  ihres 
Oberhauptes,  als  Protektor  ihres  Hauses  ansehen.  Zu 

24 


Jan  Klemens  Branicki,  Woiwode  von 
Krakau,  Grosshetman  der  Krone 

(Phot.  Anderle,  Krakau) 


ihren  Einflüsterungen  gesellten  sich  die  Anstiftungen 
der  Franzosen  und  oftmals  auch  die  Subsidien  ihres 
Hofes,  wodurch  Branicki  in  fortgesetzte  Opposition 
gegen  die  Czartoryskis  geriet.  All  diese  Einflüsse 
machten  sowohl  die  persönliche  Anhänglichkeit  an 
meinen  Vater,  die  er  ehemals  bekundet,  zunichte 
wie  auch  die  Anhänglichkeit  an  seine  Gattin,  um  de- 
ren Hand  er  sich  doch  ihrer  Reize  wegen  beworben, 
deren  Tugend  und  engelhafte  Milde  jedoch  diesen  sech- 
zigjährigen Libertin  nicht  genügend  fesseln  konnten. 

Prunkliebend,  dabei  jedoch  wenig  wählerisch  in 
den  Mitteln,  war  er  stets  darum  bemüht,  den  Glanz 
seines  Hauses  aufrechtzuerhalten;  als  Staatsmann 
äusserst  beschränkt  und  faul,  war  er  doch  listig  und 
eifrig  bestrebt,  seine  besonderen  Zwecke  zu  erreichen ; 
selbst  Falschheit  war  ihm  nicht  fremd.  Sein  Haus 
erschien  als  eine  vollkommene  Miniatur  eines  grossen 
Hofes,  voller  Intrigen,  Ränke  und  tief  korrumpier- 
ter, jedoch  wohlgezügelter  Gunstbewerbungen,  wo 
fast  alle  (mit  Ausnahme  Mokronowskis)  von  Brühl, 
dem  Günstling  Augusts  IIP.,  erkauft  waren,  um  ihren 
Patron  davon  abzuhalten,  ihm  zu  schaden. 

Da  nicht  Ehrgeiz,  sondern  viel  eher  Eitelkeit  und 
Bequemlichkeit  die  Motive  von  Branickis  Handlungen 
waren,  da  ihm  nur  daran  lag,  an  der  Oberfläche  zu 
bleiben,  den  äusseren  Apparat  seines  Ansehens  beizu- 
behalten, nichts  von  seinen  Vergnügungen  und  seinen 
Vorteilen  einzubüssen,  so  kümmerte  er  sich  wenig  um 
die  Interessen  des  Staates,  ja  nicht  einmal  um  jene 
Angelegenheiten,  zu  denen  seine  eigenen  Günstlinge 
ihn  antrieben,  die  er  der  Reihe  nach  täuschte  und 
denen  gegenüber  er  sich  nur  in  seinem  Testament 
grossmütig  zeigte.  Das  war  also  jener  Mann,  der  durch 

25 


die  Üppigkeit  und  durch  den  verschwenderischen 
Glanz  und  Luxus  seines  Auftretens  zu  einer  hervor- 
ragenden Gestalt  der  europäischen  Höfe  wurde,  wie 
es  aus  den  Berichten  der  Fremden,  hauptsächlich  der 
Franzosen,  hervorgeht,  die  in  seinem  Hause  manche 
Annehmlichkeit  und  eine  zweite  Heimat  fanden. 

Sapieha,  Branickis  leiblicher  Vetter,  schien  dage- 
gen meinem  Onkel  völligen  Einfluss  in  Litauen  zu 
sichern.  Oberhaupt  der  Familie,  Erbe  eines  berühm- 
ten und  in  jener  Provinz  noch  sehr  geachteten  Na- 
mens, reicher  Witwer  (seine  Frau  hatte  ihm  ein  an- 
sehnliches Vermögen  zugebracht),  zu  eigener  Arbeit 
fähig,  liebte  und  verstand  er  alle  Ränke  der  Land- 
tage, verstand  es  auch,  mit  Würde  populär  und  zu 
diesem  Zwecke  auch  freigebig  zu  sein;  er  liebte  es, 
den  Söhnen  der  Edelleute,  die  sich  ihm  anschlössen, 
seine  Bildung  mitzuteilen  (und  es  mangelte  ihm  nicht 
so  sehr  an  Bildung,  wie  den  meisten  seiner  Zeitge- 
nossen), auch  war  er  für  seine  Zeit  ziemlich  redege- 
wandt. Er  hatte  einen  Bruder:  Koadjutor  des  Bistums 
von  Wilno,  ausgesprochener  Protektor  der  Literatur, 
grosser  Intrigant;  sie  beide  waren  gebürtige  Feinde 
der  Radziwills,  die  hinwieder  Feinde  der  Czartoryskis 
waren.  Diese  Feindschaft  hielt  jedoch  nicht  zugun- 
sten meines  Onkels  stand  und  nicht  unter  den  Ränken 
des  Grafen  von  Brühl,  dem  es  einige  Jahre  später  ge- 
laug, den  Samen  der  Zwietracht  zwischen  Schwie- 
gervater und  Schwiegersohn  zu  säen. 

Es  ist  jetzt  an  der  Zeit,  ein  Bild  dieses  berühmten 
Günstlings  zu  entwerfen,  der  vierundzwanzig  Jahre 
lang  im  Namen  seines  Herrschers  allmächtig  regierte. 

Unter  August  II.  in  die  Staatsgeschäfte  eingeweiht 
—  er  war  sein  Page,  später  sein  Minister  — ,  wurde 

26 


ihm  nach  dem  Tode  dieses  Fürsten  bis  zum  Jahre 
1739  der  Weg  zum  Glück  und  Erfolg  durch  den  da- 
maligen Günstling  Sulkowski  versperrt,  der  ihn  nicht 
ausstehen  konnte.  Sobald  jedoch  dieser  in  Ungnade 
fiel  und  er  an  dessen  Stelle  treten  konnte,  wurde  es 
das  Streben  seines  ganzen  weiteren  Lebens,  sich  an 
diesem  Platz  zu  erhalten  und  alles  zu  vermeiden, 
wodurch  Sulkowski  gestürzt  war. 

Auch  Sulkowski  hatte  als  Page  gedient  und  zwar 
unter  August  III.,  zu  einer  Zeit,  wo  dieser  bloss  Kur- 
fürst war;  er  war  ein  guter  Reiter  und  leidenschaft- 
licher Jäger  und  setzte  sich  durch  diese  beiden  Eigen- 
schaften bei  seinem  Herrn  in  Gunst;  später  liebte 
August  III.  ihn  mit  einer  Art  Leidenschaft,  die  um 
so  auffälliger  war,  als  man  keinen  Zweifel  an  der 
Sittenreinheit  des  Königs  hegte;  so  heftig  war  diese 
Leidenschaft,  dass  jede  seiner  Launen  und  Neigungen 
von  ihr  abhing.  Sulkowski  wiegte  sich  in  Sicherheit 
und  wagte  sogar,  lange  Zeit  abwesend  zu  sein,  ja  er 
beleidigte  sogar  die  Königin  rücksichtslos  und  behan- 
delte jeden,  der  ihm  missfiel,  verächtlich  und  weg- 
werfend; er  verwehrte  niemandem  den  Zutritt  zum 
König,  dem  er  ganz  öffentlich  seinen  Willen  auf- 
drängte und  den  er  so  oft  misshaodelte  oder  mit  ihm 
schmollte,  dass  es  wirklich  schien,  als  trachte  er  da- 
nach, ihm  lästig  zu  werden ;  es  ging  so  weit,  dass  der 
König  gezwungen  war,  ihn  zu  verabschieden.  Er 
war  sehr  beschränkt  und  gestand  oft  und  ganz  auf- 
richtig, er  fürchte  nur  geistreiche  Leute;  man  konnte 
ihm  jedoch  weder  eine  Schurkerei  noch  Unredlich- 
keit nachsagen.  Die  sächsischen  Finanzen  verschlech- 
terten sich  nicht  zu  jener  Zeit,  wo  er  in  Gunst  stand, 
und  seine  Reichtümer  rührten  nur  von  freiwilligen 


Geschenken  seines  Herrn  her,  den  er  in  keiner  Weise 
von  den  Staatsgeschäften  fernzuhalten  suchte. 

Obgleich  er  keinem  bekannten  Geschlecht  ent- 
stammte, betonte  er  gerne,  dass  er  ein  Pole  sei,  und 
versuchte,  den  König  für  die  polnischen  Interessen 
und  den  Aufenthalt  im  polnischen  Lande  zu  ge- 
winnen. 

Brühl  dagegen  machte  es  sich  zum  Prinzip,  den 
König  zu  isolieren,  und  da  ihm  das  Wesen  der  Re- 
gierung dies  in  Sachsen  leichter  machte,  bekräftigte 
er  ihn  in  seiner  natürlichen  Abneigung  gegen  Polen, 
in  welchem  Lande  sich  König  August  III.  immer 
nur  auf  der  Durchreise  wähnte.  Stolz  und  Faulheit 
waren  die  beiden  Hauptfehler  Augusts  III.;  Brühl 
bediente  sich  ihrer,  um  ihm  einzureden,  er  würde  in 
seinen  Erblanden  leichter  Gehorsam  finden;  auch 
müssten  alle  seine  Wünsche  durch  einen  einzigen 
Mann  gehen,  der  es  verstünde,  ihm  endlose  Diskussio- 
nen zu  ersparen,  und  dessen  Gesundheit  es  erlaubte, 
gleichzeitig  Minister  in  allen  Departements  zu  sein, 
Arrangeur  seiner  Vergnügungen  und  ständiger  Beglei- 
ter seiner  Reisen,  Jagden  und  Spaziergänge,  kurz  der 
Begleiter  eines  jeden  seiner  Schritte;  den  Zutritt  zu 
ihm  würde  er  allein  in  seinem  Namen  gestatten. 

Dieser  Mann  war  nun  Brühl;  ohne  hervorragende 
Bildung,  weder  Finanzmann,  noch  Soldat,  noch  gu- 
ter Reiter,  Jäger,  Musiker  oder  Kunstkenner,  ver- 
stand er  es  dennoch,  durch  seine  Anpassungsfähig- 
keit, Geschicklichkeit  und  Freigebigkeit  in  den  Augen 
seines  Herrn  all  diesen  Anforderungen  zu  genügen. 

Die  Natur  hatte  ihn  mit  einer  eisernen  Konstitu- 
tion und  einem  angenehmen  Äusseren  ausgestattet; 
weder  schlaflose  Nächte  noch  die  grössten  Anstren- 

28 


gungen  und  Sorgen  liesseu  die  geringste  Veränderung 
an  ihm  erkennen.  Stets  lächelnd,  stets  frisch,  stets 
ausserge  wohnlich  höflich,  machte  er  allen  Kompli- 
mente und  sagte  nie  irgend  etwas  Verletzendes;  er 
entzückte  die  Durchschnittsmenschen  und  verstand  es, 
den  Leuten,  die  ihm  schaden  konnten,  den  Zutritt 
zum  Monarchen  so  zu  erschweren  und  so  unange- 
nehm zu  gestalten  —  denn  Brühl  wusste,  der  König 
würde  ihn  niemals  desavouieren  noch  im  Stiche  las- 
sen — ,  dass  endlich  fast  alle,  des  Kampfes  müde,  sich 
ihm  unterwarfen. 

Er  hatte  keinen  auserwählten  Geschmack,  doch 
eine  natürliche  Vorliebe  für  jedweden  Prunk,  für 
kostbare  Juwelen  und  prachtvolle  Gewänder,  die  ihn 
zu  einem  märchenhaften  Aufwand  trieb.  Seine  gere- 
gelten und  offenkundigen  Ausgaben  beliefen  sich  auf 
eine  Million  Taler  jährlich,  und  sein  Herr  schien 
darin  nur  ein  Abbild  und  eine  Ausstrahlung  seiner 
eigenen  Grösse  zu  erblicken.  Doch  gewöhnten  sich 
der  Günstling  und  alle  seine  Verwandten,  Unterge- 
benen, Spione,  Favoriten  und  Mätressen  mit  ihrem 
ganzen  Anhang  so  sehr  daran,  jeden  ihrer  Wünsche 
als  ein  Recht  anzusehen,  dass  bald  alle  Wohltaten 
des  Herrn  nicht  ausreichten  und  die  Finanzen  des 
Kurfürstentums  Sachsen,  die  Brühl  völlig  unterstan- 
den, es  zu  verspüren  begannen. 

Freilich  dienten  der  ausserordentliche  Prunk  der 
königlichen  Tafel,  der  Jagden  und  Schaustellungen 
Augusts  III.  und  ferner  seine  erstaunlichen  Erwer- 
bungen an  Diamanten  und  Gemälden  dem  Minister 
lange  als  Vorwand  für  die  leeren  Truhen  des  Königs. 
Die  Wahrheit  brach  sich  jedoch  endlich  Bahn;  man 
wusste,  dass  trotz  all  der  oben  erwähnten  Ausgaben 

29 


die  Gelder  für  den  Unterhalt  der  Armee  nicht  vom 
König  aufgebraucht  worden  waren,  und  trotzdem 
war  die  Armee  nicht  bezahlt.  Pater  Ligeritz,  der 
Beichtvater  des  Königs,  wagte  ihm  dies  mitzuteilen. 
Brühl  legte  die  Quittungen  des  letzten  Quartals  vor, 
ohne  die  vorherigen  bezahlt  zu  haben,  und  Hess  so- 
fort den  Beichtvater  verabschieden,  dem  eine  Konfron- 
tation mit  seinem  Herrn  nicht  mehr  gestattet  wurde; 
die  Indolenz  des  Königs  selbst  fürchtete  die  Mühen 
einer  Erklärung,  der  Berufung  eines  neuen  Ministers 
und  scheute  die  Notwendigkeit,  seine  Befehle  ver- 
schiedenen Persönlichkeiten  erteilen  zu  müssen  und 
sich  an  neue  Gesichter  zu  gewöhnen. 

Endlich  gaben  zwei  preussische  Einfälle  (die  Sach- 
sen wirklich  schwer  schädigten)  Brühl  die  Gelegen- 
heit, alle  Irrtümer  und  Missstände  seiner  Verwaltung 
mit  dieser  offensichtlichen  Schädigung  zu  entschul- 
digen. Jetzt  wurde  der  König  für  jede  Beschwerde 
und  Anschuldigung  gegen  Brühl  völlig  unzugänglich; 
einige  Jahre  nach  Sulkowskis  Sturz  beherrschte  Brühl 
den  Geist  seines  Herrn  ganz  ausschliesslich,  sowohl 
in  Sachen  des  polnischen  Beichs  wie  in  denen  Sach- 
sens. Eine  beträchtliche  Anzahl  der  verschiedensten 
Aufseher  und  Spione  wurde  von  Brühl  freigebig  ent- 
lobnt,  der  auf  diese  Weise  nicht  nur  alles  erfuhr, 
was  die  Person  des  Königs  zu  jeder  Tageszeit  betraf, 
sondern  auch  von  jedem  gegen  ihn  gefassten  Plan. 
Da  er  wirklichen  Buhm  weder  kannte  noch  nach 
ihm  strebte,  vielmehr  nur  seine  Stellung  und  die  da- 
mit verbundenen  Annehmlichkeiten  nicht  verlieren 
wollte  und  seine  ganze  Geschicklichkeit  allein  dar- 
auf abzielte,  war  er  weder  ausserordentlich  gut,  noch 
gross,  noch  grausam,  sondern  nur  korrumpiert,  mit- 

3o 


telmässig  und  oft  sogar  ganz  kleinlich.  Die  Regierung 
seines  Herrn  nahm  völlig  das  Merkmal  seines  Cha- 
rakters an,  was  nur  zu  sehr  dazu  beitrug,  den  Cha- 
rakter der  ganzen  Nation  zu  verderben. 

Ungefähr  ein  Jahr   verbrachte    ich    an    der  Seite 
meines  Onkels,  des  Vizekanzlers,  und  hatte  genügend 
Gelegenheit  mich  zu   überzeugen,  welche  Rolle  oft 
sowohl  im  Kleinen  wie  im  Grossen  ein  angemasster 
Ruf  spielt.   Die  politische  Erziehung,  die  mir  in  die- 
sem  Hause   so   sicher    zuteil   werden  sollte,  sank  in 
nichts  zusammen;  niemals  war  ich  untätiger,  mein 
Onkel  gab  mir  keine  Aufgaben  und  erkundigte  sich 
nur  selten,  ob  ich  seinen  ersten  Sekretär  um  eine  Ar- 
beit gebeten  hatte;  ich  hätte  in  jeder  Beziehung  kor- 
rumpiert werden  können,  ohne  dass  er  es  gemerkt 
hätte.   Er  bildete  sich  ein,  mich  zu  erziehen,  indem 
er  mir  von  Zeit  zu  Zeit  über  Gemeinplätze  Vorträge 
hielt.    Der  einzige  wirkliche  Nutzen,  den  mir  diese 
Schule  brachte,  war  die  hier  erworbene  Kenntnis  der 
Beziehungen  und  Grundlagen  der  Popularität,  die  er 
vor  allem  in  Litauen  genoss.  Dieses  Beispiel  gab  mir 
folgendes  zu  bedenken:  Eltern,  die  um  die  Erziehung 
ihrer  Kinder  besorgt  sind  und  diese  fern  von  sich  er- 
ziehen lassen  —  selbst  bei  Leuten,  von  denen  sie  die 
höchste  Meinung  haben  — ,  sollen  ihnen  dennoch  eine 
gewisse  Lektüre  und  gewisse  Arbeiten,  wie  Auszüge, 
Analysen,  Bemerkungen  usw.  vorschreiben  und  diese 
sich  vorlegen  lassen,  um  sie  vom  Müssiggang  fernzu- 
halten  und  sie  an    Arbeit  zu  gewöhnen,  es  sei  denn, 
dass  sie  die  Gewissheit  haben,  die  Persönlichkeit,  bei 
der  sie  untergebracht  wurden,  trage  Sorge  hierfür. 
Aber  bald  bot  sich  meinen  Augen  ein  neues  Schau- 
spiel. 

3i 


Man  schickte  mich  nach  Piotrkövv,  um  dort  der 
Bildung  des  Tribunals  beizuwohnen, 

Um  das,  was  sich  damals  dort  ereignete,  zu  be- 
greifen, muss  man  vorausschicken,  was  diese  jähr- 
liche Neubildung  unserer  Tribunale  war,  was  sie  sein 
sollte  und  warum  meine  Familie  an  der  diesjährigen 
besonderen  Anteil  nahm. 

Seit  König  Stefan  Bathory  diesen  obersten  Gerichts- 
hof, bei  uns  kurz  Tribunal  genannt,  gegründet  und 
das  Gesetz  vom  Jahre  1726  einige  Beformen  einge- 
führt hatte,  waren  alle  Woiwodschaften  der  Krone 
verpflichtet,  um  den  i5.  September  herum  (nach  dem 
Wortlaut  des  Gesetzes  am  ersten  Montag  nach  Maria 
Geburt)  je  zwei  oder  drei  Deputierte  zu  wählen,  die  sich 
anfangs  Oktober  in  Piotrköw  versammeln  sollten 
(nach  dem  Wortlaut  des  Gesetzes  am  ersten  Montag 
nach  dem  heiligen  Franziskus),  um  dort  gemeinsam 
den  obersten  Gerichtshof  zu  bilden,  an  den  in  letzter 
Instanz  alle  Gerichtsentscheidungen  des  ganzen  Beichs, 
sowohl  die  ländlichen  wie  die  städtischen,  verwiesen 
wurden. 

Bevor  die  Deputierten  ihre  Plätze  im  Bathause 
zwecks  Ausübung  dieser  Amtshandlung  einnehmen 
durften,  mussten  sie  ihre  Wahl  von  Zensoren  legalisie- 
ren lassen ;  diese  Zensoren  waren  der  Landrichter  und 
der  Landnotar  von  Sieradz,  oder  in  ihrer  Vertretung 
der  Starost  von  Piotrköw  oder  seine  Gerichtsbeamten. 
Die  Gültigkeit  der  Deputierten  wähl  war  von  der  Ein- 
stimmigkeit aller  wahlberechtigten  Anwesenden  ab- 
hängig. Zur  Bestätigung  der  Wahl  oder  zur  Verhin- 
derung der  Eidesleistung  durch  die  Prätendenten  (die 
Eidesformel  sollte  ihnen  von  den  oben  erwähnten 
Zensoren   erst  dann  diktiert  werden,  wenn   sie   die 

32 


O 


Wahl  geprüft  und  als  rechtmässig  anerkannt  hatten) 
bediente  man  sich  eines  der  folgenden  Mittel:  ent- 
weder brachte  man  erneu  Protest  (ein  sogenanntes 
Manifest)  vor,  der  sich  gegen  den  Landtag  des  frag- 
würdigen Prätendeuten  richtete.  In  diesem  Protest 
musste  gesagt  werden :  dieser  oder  diese  in  dem  frag- 
lichen Distrikt  begüterten  Edelleute  hatten  laut  und 
deutlich  auf  dem  Landtag  der  Wahl  jenes  Deputierten 
widersprochen ;  oder  sie  hätten  durch  ihren  Einspruch 
sämtliche  Handlungen  dieses  Landtags  hinfällig  ge- 
macht, oder,  wie  man  damals  sagte,  gebrochen,  und 
das  bezügliche  Manifest  sei  im  zuständigen  Gerichts- 
ort fgrodj  verfasst  worden.  Die  zweite  Art,  die  Wahl 
eines  Deputierten  umzustürzen,  war  die  Vorbringung 
(stets  vor  denselben  Zensoren)  eines  Kondemnals  gegen 
den  Prätendenten,  das  heisst  eines  gegen  ihn  in  con- 
tumaciam erlassenen  Dekrets  bei  irgend  einem  Ge- 
richtshof des  Reiches  vor  seiner  Wahl  zum  Depu- 
tierten. 

Die  Verteidigungsmittel  gegen  derlei  Einwände 
waren:  i.  das  Vorweisen  des  Laudums,  das  heisst 
eines  Attests  der  in  jeder  Woiwodschaft  dafür  be- 
stellten adligen  Beamten,  durch  welches  sie  beteuer- 
ten, ein  gewisser  N.  N.  sei  zu  Recht  erwählt;  i.  die 
Erbringung  des  Nachweises,  dass  die  gegen  den  Prä- 
tendenten vorgebrachten  Manifeste  nicht  von  Leuten 
verfasst  wurden,  die  beim  Landtag  anwesend  waren; 
3.  oder,  dass  sie  zwar  anwesend  waren,  aber  nicht 
mit  lauter  Stimme  an  dem  Wahlorte  ihre  Opposition 
kund  getan  hatten;  4-  dass  jene  Edelleute,  welche  die 
Manifeste  vorbrachten,  nicht  in  jenem  Distrikt  be- 
gütert waren;  5.  dass  sie  selbst  unter  einem  Kon- 
demnat  standen;  6.  endlich,  dass  sie  einen  Verzicht 

3   Poniatowski  33 


auf  das   Kondemnat    seitens    desjenigen    vorweisen 
konnten,  der  es  seinerzeit  erwirkt  hatte. 

Die  oben  erwähnten  Zensoren  fällten  hierüber  end- 
gültig ihr  Urteil.  Sie  waren  es,  die  entscheiden  muss- 
ten,  ob  ein  gewisser  N.  N.  zum  Deputierteneid  zuge- 
lassen werden  durfte,  ob  er  völlig  zurückgewiesen 
oder  seine  Ernennung  nur  suspendiert  werden  sollte, 
bis  dieVersammlung  der  bereits  rechtlich  anerkannten 
Deputierten  den  Fall  diskutiert  und  entschieden  hätte. 

Das  war  der  rechtliche  Vorgang,  der  durch  folgende 
Missbräuche  gestört  wurde:  jeder,  der  in  Polen  einen 
Prozess  vor  diesem  Tribunal  zu  führen  hatte  oder 
sich  Einfluss  im  Lande  erwerben  wollte,  versuchte, 
unter  den  Männern,  aus  denen  die  Deputiertenver- 
sammlung  sich  zusammensetzen  sollte,  genügend 
Freunde  zu  gewinnen,  um  die  Mehrheit  für  sich  zu 
haben;  man  bemühte  sich  daher,  auf  so  vielen  Land- 
tagen als  es  nur  möglich  war  die  Wahl  von  Leuten 
durchzusetzen,  auf  die  man  sich  verlassen  konnte, 
und  all  jene,  wo  man  seinen  Einfluss  nicht  durch- 
setzen konnte,  zu  annullieren;  da  Einstimmigkeit  da- 
mals ein  unentbehrliches  rechtliches  Requisit  der 
Landtage  war  und  ein  einziges  Manifest  sie  bereits 
brechen  konnte,  mochte  es  vorkommen  (und  es  kam 
in  Anbetracht  der  Aktion  der  Gegenparteien  in  Polen 
auch  in  der  Tat  oft  vor),  dass  bei  der  Versammlung 
in  Piotrköw  sich  nicht  einmal  sieben  weltliche  Depu- 
tierte einfanden,  gegen  die  kein  rechtlicher  Einwand 
erhoben  werden  konnte;  da  jedoch  sieben  die  kleinste 
bei  diesem  Rechts  verfahren  notwendige  Zahl  war,  so 
wäre  das. Reich  oft  ohne  Tribunal  geblieben,  hätten 
nicht,  um  diesem  Missstand  zu  begegnen,  die  er- 
wähnten Zensoren  und  andere  Personen  jeden  Stan- 

34 


des,  die  sich  in  Piotrköw  zur  Zusammensetzung  eines 
jeden  neuen  Tribunals  einfanden,  sich  darum  be- 
müht, diejenigen,  die  hier  eintrafen,  um  Manifeste 
und  Kondemnate  gegen  verschiedene  Prätendenten 
einzubringen,  davon  abzuhalten. 

Das  alles  war  noch  kein  eigentlicher  Missbrauch. 
Wenn  aber  die  Zensoren  sich  erlaubten,  Deputierte 
zuzulassen  oder  auszuschliessen,  ohne  sich  um  die 
Dokumente  zu  kümmern,  die  sie  anklagten  oder  frei- 
sprachen, und  sich  hierbei  nur  von  ihrer  Sympathie 
oder  ihrem  Hass  leiten  Hessen,  dann  versuchten  auch 
die  daran  interessierten  Personen,  sich  verschiedener 
Bestechungsmittel  zu  bedienen,  um  die  Entscheidung 
der  Zensoren  zugunsten  ihrer  Interessen  zu  beein- 
flussen. Wenn  die  Zensoren  jedoch  unbestechlich  oder 
voreingenommen  waren,  dann  ersannen  die  einzelnen 
Herren  andere  Mittel  und  Wege. 

Das  Gesetz  hatte  zur  Legalisierung  der  Deputierten 
den  ersten  Montag  des  Monats  Oktober  nach  dem  hei- 
ligen Franziskus  festgesetzt  und  zwar  in  der  Kathedrale 
von  Piotrköw,  nach  dem  Hochamt,  vor  einem  Tisch, 
hinter  dem  der  erste  der  Zensoren  den  Deputierten 
den  Richtereid  diktieren  sollte;  vorher  mussten  alle 
Manifeste,  Kondemnate,  Lauda  und  Verzichte  auf 
diesen  Tisch  niedergelegt  werden. 

Dieser  Tisch  bildete  also  den  Mittelpunkt  der  gan- 
zen Handlung  und  alle,  die  Manifeste,  Kondemnate, 
Lauda  und  Verzichte  vorzubringen  hatten,  versuch- 
ten sich  ihm  so  sehr  als  möglich  zu  nähern.  So  lag 
es  denn  auch  im  Interesse  der  Fraktionen  und  ihrer 
Führer,  die  Gegner  und  deren  Anhang  zu  hindern, 
an  den  Tisch  heranzutreten,  oder  sie  von  ihm  zu  ent- 
fernen, denn  was  dort  nicht  niedergelegt  wurde,  ver- 

3-  35 


lor  seine  Wirksamkeit.  Zuerst  versuchte  man  es  mir 
mit  Geschicklichkeit,  bald  wurde  sie  jedoch  durch 
das  massenhafte  Vordrängen  der  zahlreichen  Anwe- 
senden ersetzt,  welche  als  erste  zur  Stelle  sein  wollten 
und  oft  die  Hand  gegen  ihre  Mitbürger  erhoben,  um 
sie  fernzuhalten  oder  sie  gewaltsam  zurückzustossen 
oder  ihnen  die  Papiere  zu  entreissen,  durch  welche 
sie  die  Prätendenten  stützen  oder  stürzen  wollten. 

Sobald  die  Zahl  und  die  physische  Kraft  die  Wage 
der  Gerechtigkeit  zu  beeinflussen  drohten,  befürchtete 
das  Volk  mit  Recht,  die  Entscheidung  würde  stets 
den  Grosshetmans,  den  seinerzeit  absoluten  Armee- 
kommandanten, zufallen.  Deshalb  fügte  man  im  Jahre 
1 7 1 7  in  die  Eidesformel  des  Grosshetmans  die  aus- 
drückliche Klausel  ein,  sie  würden  nie  und  in  keiner 
Weise  die  Heere  der  Republik  hierzu  verwenden.  Um 
diese  Klausel  zu  umgehen,  verbreitete  in  diesem  Jahre 
1749  die  Partei  der  Potockis  bereits  im  August  das 
Gerücht,  ein  gewisser  P^cherzewski  verwüste  an  der 
Spitze  einer  Räuberbande  die  Umgegend  von  Piotrköw. 
Dieser  Pqcherzewski  existierte  überhaupt  nicht,  eben- 
sowenig wie  seine  Genossen.  Nichtsdestoweniger  be- 
nutzte der  alte  Grosskronhetman  Potocki  diese  Mär, 
um  dem  Woiwoden  von  Smolensk  Sapieha,  dem 
Regimentskommandanten  von  Gross-Polen,  zu  be- 
fehlen, ein  Korps  Soldaten  zusammenzuziehen,  das 
diesen  angeblichen  Ruhestörer  abfangen  sollte;  Sa- 
pieha benutzte  dies,  um  die  wirklichen  Absichten  des 
Grosshetmans  auszuführen,  und  liess  sich  von  einer 
Abteilung  Soldaten  als  angeblicher  Ehrengarde  nach 
Piotrköw  begleiten. 

Ein  Potocki  (er  ist  als  General  der  litauischen  Ar- 
tillerie gestorben  und  war  damals  Starost  vonTlomacz), 

36 


ein  Neffe  des  Grosskronhetmans,  hatte  sich  auf  dem 
Landtag  zu  Beiz  zum  Deputierten  wähleD  lassen 
wollen;  der  Kastellan  von  Beiz,  Lipski,  erschien  selbst 
in  Piotrköw,  um  die  Ungültigkeit  dieser  Wahl  nach- 
zuweisen. Potocki  wollte  Marschall  des  diesjährigen 
Tribunals  werden,  um  durch  seine  Autorität  und  eine 
Beeinflussung  seiner  Kollegen  alle  juristischen  Be- 
schlüsse nichtig  zu  machen,  welche  in  den  letzten 
Jahren  vor  dem  Tribunal  zustande  gekommen  waren 
und  die  beweisen  sollten,  dass  Graf  Brühl  in  direkter 
Linie  von  einer  alten  polnischen  Familie  abstammte: 
ein  Zweig  dieser  Familie  sollte  vor  zwei  Jahrhunderten 
aus  Polen  ausgewandert  sein;  ferner  wollte  er  gegen 
meinen  ältesten  Bruder,  den  Grosskämmerer  der 
Krone,  die  Wiederaufnahme  eines  Prozesses  durch- 
setzen, welcher  die  Folgen  jenes  Duells  vom  Jahre  ]  744 
niederschlug,  in  dem  er  unglücklicherweise  den  Grafen 
Tarlo,  den  Woiwoden  von  Lublin,  getötet  hatte. 

Einer  der  wesentlichsten  Fehler  unserer  Gesetze 
war  die  Unendlichkeit  der  vor  das  Tribunal  der 
Krone  vorgetragenen  Prozesse.  Jeder,  der  in  einem 
Prozess  unterlag,  konnte  im  nächsten  Jahre  und  so- 
gar mehrere  Jahre  später  ihn  wieder  aufnehmen, 
unter  dem  Vorwand,  das  in  Frage  stehende  Dekret 
enthalte  einen  Rechtsbruch  (quod  vim  legis  sapit,  so 
hiess  die  Formel);  wenn  er  bei  diesem  zweiten  Ver- 
such den  Prozess  gewann,  so  konnte  sein  Gegner 
wieder  bei  einem  dritten  Tribunal  Vergeltung  suchen 
und  so  ins  Endlose;  es  kam  vor,  dass  dieselbe  Sache 
bis  zu  zwanzigmal  verhandelt  wurde.  Im  Jahre  1766 
wurde  das  Uebel  verringert;  ein  Gesetz  von  diesem 
Jahre  bestimmte,  dass  zwei  gleichlautende  Dekrete, 
die  vor  zwei  verschiedenen  Tribunalen  in  derselben 

37 


Sache  gefallt  wurden,  den  Prozess  endgültig  ent- 
schieden. Seit  dieser  Zeit  versucht  die  Schikane,  eine 
solche  Uebereinstimmung  zu  verhindern. 

Die  Potockis  konnten  diesen  Stand  der  Dinge  be- 
nutzen, um  meinen  Bruder  die  schlimmsten  Folgen 
ihres  schlechten  Willens  merken  zu  lassen,  dessen 
Quelle  die  alte  Rivalität  zwischen  dem  Grosskronhet- 
man  und  meinem  Vater  war;  ihr  damals  aktueller 
Ansporn  war  der  Neid  um  die  Gunst,  die  meine  Fa- 
milie bei  Hof  genoss.  Die  Potockis  rechneten  damit, 
sie  könnten  sich  dafür  an  der  Person  des  Grafen  Brühl 
rächen  und  ihre  Rivalen  in  der  Person  meines  Bruders 
demütigen. 

Es  ist  klar,  dass  der  natürliche  Selbsterhaltungs- 
trieb meine  Familie  veranlasste,  die  übrigens  wirklich 
illegale  Wahl  Potockis,  des  Prätendenten  zum  Mar- 
schallsamt  des  diesjährigen  Tribunals,  zu  durch- 
kreuzen. 

Zum  Unglück  waren  nur  fünf  richtig  gewählte 
Deputierte  anwesend,  und  die  Potockis  wollten  einer 
Behebung  der  Hindernisse,  die  sich  der  legalen  Zu- 
lassung von  zwei  weiteren  entgegenstellten,  nicht  zu- 
stimmen, es  sei  denn  unter  der  Bedingung,  dass  man 
auch  ihren  Kandidaten  aufnehme. 

Hierüber  verhandelte  man  zwecklos  bis  zum  Mittag 
des  6.  Oktobers.  Die  Stunde  des  Gottesdienstes,  welcher 
der  Sitte  gemäss  dem  Zivilakt  des  Tages  vorangehen 
sollte,  war  vorüber.  Es  waren  nur  noch  wenige  Stunden 
bis  zum  Einbruch  der  Dunkelheit,  das  Tageslicht  war 
jedoch  auch  eines  der  rechtlichen  Erfordernisse.  Die 
beiden  Parteien  versammelten  sich  also  gegen  drei 
Uhr  nachmittags  in  der  Kathedrale  von  Piotrköw, 
weniger  in  der  Hoffnung  etwas  Nützliches  zustande 

38 


zu  bringen,  als  in  der  Erwartung  eines  blutigen  Zu- 
sammenstosses. 

Um  die  Verantwortung  dafür  nicbt  auf  uns  zu 
laden,  hatten  wir  allen  Edelleuten  unserer  Partei 
ausdrücklich  anbefohlen,  nicht  eher  die  Säbel  zu  ziehen 
und  dreinzuschlagen,  als  bis  nicht  jemand  von  uns  ver- 
wundet war;  auf  unserer  Seite  hatten  wir  an  die  tau- 
send Edelleute,  auf  der  anderen  Seite  standen  etwas 
weniger,  aber  diese  Ungleichheit  wurde  durch  die 
Truppen  der  Republik  gänzlich  kompensiert. 

Der  Woiwode  von  Smolerisk  Sapieha  betrat  die 
Kirche,  die  Mütze  auf  dem  Kopf,  die  Hand  am  Säbel- 
griff; ihm  voran  schritt  eine  Kompagnie  Tataren;  der 
Vizekanzler  von  Litauen  Sapieha,  sein  Vetter,  der  auf 
unserer  Seite  stand,  machte  ihm  vergebliche  Vor- 
stellungen wegen  der  Unschicklichkeit  und  Unrecht- 
mässigkeit  seines  Schrittes ;  mehrere  hundert  Dragoner 
und  andere  Tataren  unter  dem  Befehl  des  Woiwoden 
von  Smolerisk  und  des  Starosten  von  OsViecim  Mala- 
chowski,  eines  militärischen  Untergebenen  des  Gross- 
kronhetmans,  standen  dicht  bei  der  Kirche  unter 
Waffen,  bereit  beim  ersten  Appell  herbeizueilen. 

Der  Grosskämmerer  traf  die  Starosten  von  Ttomacz 
und  von  Oswiecim  in  der  ersten  Kirchenbank  an;  ab- 
sichtlich setzte  er  sich  zwischen  die  beiden.  Einer 
unserer  Freunde,  Glinka  mit  Namen  (damals  Land- 
notar, später  Kämmerer  von  Lomza),  hielt  mit  lauter 
Stimme  eine  Art  Anrede  an  die  Versammelten,  um 
zu  bezeugen,  wie  bestürzt  und  entsetzt  er  beim  An- 
blick der  Truppen  der  Republik  war,  die  entgegen  dem 
ausdrücklichen  Gesetz  vom  Jahre  1717  bei  der  Zu- 
sammensetzung des  Tribunals  in  so  sonderbarerweise 
mitwirkten. DerStarost  von  Oswiecim  sprachdieWider- 

39 


rede,  aber  es  waren  nur  leere  Worte  und  die  Tat- 
sachen sprachen  zu  sehr  gegen  ihn. 

Kurze  Zeit  darauf  begaben  sich  mehrere  Edelleute, 
ärgerlich  darüber,  dass  man  nicht  zur  Tagesordnung 
schritt,  in  die  Sakristei,  um  den  Tisch  zu  holen,  an 
dem  die  Eide  abgelegt  werden  sollten.  Dieser  Gegen- 
stand der  allgemeinen  Aufmerksamkeit  bewirkte,  dass 
die  Anhänger  beider  Parteien,  ohne  den  Befehl  der 
Führer  abzuwarten,  sich  dem  Tisch  durch  Vordrängen 
möglichst  zu  nähern  versuchten.  Der  hierbei  verur- 
sachte Lärm  täuschte  den  Kom  mandanten  der  Tataren- 
truppe, die  der  Woiwode  von  Smolensk  mitgebracht 
hatte;  er  gab  das  Zeichen  durch  Hochheben  seiner 
Mütze;  im  selben  Moment  schwangen  die  Tataren  die 
Säbel ;  eine  grosse  Zahl  Edelleute  von  unserer  Partei 
verliess  rasch  die  Kirche,  da  sie  weder  ein  Losungswort 
noch  ein  Zeichen  der  Zusammengehörigkeit  hatten, 
auch  kein  Befehl  zum  Kampf  an  sie  ergangen  war  und 
sie  daher  ihre  eigenen  Kräfte  nicht  kannten.  Gleich- 
zeitig trat  ein  gewisser  Czarnecki,  ein  von  den  Potoekis 
bezahlter  Bramarbas,  mit  blankem  Säbel  vor  den 
Grosskämmerer  hin,  in  der  Annahme,  der  Moment 
des  Handelns  sei  gekommen,  und  sagte: 

„Du  hast  den  Woiwoden  von  Lublin  getötet,  du 
willst  verhindern,  dass  Herr  Potocki  Marschall  wird, 
du  willst  dich  hier  als  Herr  aufspielen,  wir  werden  dir 
aber  zeigen,  dass  du  es  nicht  bist!" 

Im  gleichen  Augenblick  hielt  ein  gewisser  Komo- 
rowski,  der  Stallmeister  der  Kastellanin  von  Kaminsk 
(der  Schwester  des  Starosten  von  Tlomacz),  einige 
Schritte  weiter  rechts  vom  Grosskämmerer  eine  ähn- 
liche Rede,  während  sein  Bruder,  ein  Artillerieoffizier, 
über  mehrere  Bänke   sprang  und   sich    unmitielbnr 

4o 


Andreas  Poniatowski,  Bruder  des  Königs 


hinter  den  Grosskämmerer  stellte;  sein  Säbel  war 
schon  halb  gezückt,  als  Gozdzki  (damals  Grosskron- 
küchenmeister, später  Woiwode  von  Podlesien),  der 
sich  damals  in  Piotrköw  befand,  ohne  irgend  einer 
Partei  anzugehören,  sich  zufällig  umwandte,  dies  sah 
und  empört  den  Offizier  nach  dem  Grunde  seiner 
Handlung  fragte.  Verwirrt  erwiderte  ihm  Komorowski, 
er  täte  es  nur  zu  seiner  Verteidigung.  „Dann  konntest 
du  bleiben,  wo  du  warst,"  erwiderte  Gozdzki,  zwang 
ihn,  das  Schwert  wieder  in  die  Scheide  zu  stecken, 
und  stiess  ihn  zurück. 

Jetzt  ergriff  der  Grosskämmerer  die  Hände  seiner 
Nachbarn,  des  Starosten  vonTlomacz  und  des  Starosten 
von  Oswiecim,  Hess  sie  die  Taschen  seines  Rockes  be- 
fühlen und  sagte: 

„Da,  seht,  meine  Herren,  ich  habe  zwei  Pistolen  bei 
mir,  sie  sind  für  euch  bestimmt,  wenn  ihr  nicht  augen- 
blicklich euren  Schreiern  und  euren  Soldaten  Schwei- 
gen und  Ruhe  gebietet;  eure  Pläne  waren  mir  bekannt, 
ich  konnte  mit  meinen  Edelleuteu  allein  genau  solche 
militärische  Vorbereitungen  treffen  wie  ihr,  wollte 
aber  nicht  die  Schuld  auf  mich  laden.  Ich  habe  mich 
absichtlich  zwischen  euch  gesetzt,  damit  ihr  mir  Ge- 
sellschaft leistet,  falls  ihr  meinem  Leben  nachstellen 
wollt." 

Während  der  Grosskämmerer  diese  Worte  sprach, 
stürzte  sich  Oberst  Blendowski  *),  ohne  den  Säbel  zu 
ziehen,  mitten  unter  die  Tataren  und  rief: 

*)  Anm.  des  Königs:  Dieser  Blendowski  befehligte  während 
des  1741  ausgebrochenen  Krieges  in  Böhmen  mit  Erfolg  und 
Auszeichnung  die  Ulanenregimenter  Augusts  III.,  aus  denen 
die  Tataren  beim  Friedensschluss  entlassen  wurden.  Siegingen 
in  der  Mehrzahl  in  die  Begimenter  der  Bepublik  über.  Diese 


„Freunde,  denket  an  euren  alten  Führer,  haltet  ein ! 
Ich  sage  euch,  man  will  euch  zu  einer  schlechten 
Handlung  missbrauchen!" 

Diese  Worte  hielten  sie  zurück.  Ebenso  hielt  der 
General  Mokronowski,  ein  sehr  populärer  Mann,  auch 
ohne  den  Säbel  zu  ziehen  an  einer  anderen  Stelle  eine 
Menge  Edelleute  von  der  Potockischen  Partei  zurück, 
indem  er  ihnen  die  Fürchterlichkeit  der  Handlung 
darlegte,  die  man  ihnen  zumutete.  Als  Malachowski 
und  Potocki  sahen,  dass  der  erste  Ansturm  der  Menge 
sich  gelegt  hatte,  und  sie  nicht  wagten,  nach  den  so- 
eben gefallenen  Worten  des  Grosskämmerers  öffent- 
lich neue  blutige  Befehle  an  ihre  Leute  auszuteilen, 
riefen  sie  ihren  Anhängern  zu,  den  Säbel  in  die  Scheide 
zu  stecken ;  einen  Augenblick  später  forderten  sie  den 
Grosskämmerer  auf,  sich  mit  ihnen  zu  einer  Verhand- 
lungin die  Sakristei  zu  begeben.  Sie  kamen  zu  keinem 
anderen  Resultat,  als  dass  infolge  der  ungenügenden 
Anzahl  der  Deputierten  das  Tribunal  nicht  tagen 
könnte.  Mein  Bruder  sagte:  „Dafür  seid  ihr  verant- 
wortlich." Sie  Hessen  ein  Manifest  aufsetzen,  um  den 
Grund  für  das  NichtZustandekommen  des  Tribunals 
festzulegen. 

Wir  gingen  alle  zusammen  die  Kastellanin  von 
Kaminsk  besuchen;  sie  hatte  auf  der  Orgeltribüne 
persönlich  diesem  für  eine  Frau  so  wenig  entsprechen- 
den Schauspiel  beigewohnt;  jetzt  war  sie  damit  be- 
Tataren sind  die  Abkömmlinge  jener,  welche  Witold,  der 
Grossfürst  von  Litauen,  Anfang  des  i5.  Jahrhunderts  nach 
Bessarabien  und  Litauen  verpflanzt  hatte,  wo  sie  die  pol- 
nischen Sitten  und  auch  die  Sprache  übernahmen  und  sich 
nur  ihre  mohammedanische  Religion  bewahrten.  Sie  sind  im 
allgemeinen  ruhige  Bürger  und  ausgezeichnete  Soldaten. 

42 


sehäftigt,  mit  Hilfe  eines  halben  Dutzends  von  Nich- 
ten und  Kammerzofen,  alles  sehr  schönen  Mädchen, 
Hunderten  von  Anhängern  ihres  Bruders  die  Pokale 
mit  Ungarwein  zu  füllen.  Sie  empfing  uns  mit  der 
grössten  Höflichkeit,  sagte  jedoch  halblaut  nach  allen 
Seiten,  es  sei  schade,  dass  die  Sache  nicht  vollendet 
wurde. 

Am  nächsten  Tage  verliessen  alle  Piotrköw  in  der 
unruhigen  Erwartung,  welche  Folgen  dieses  neuer- 
liche Exempel,  dass  Polen  ein  ganzes  Jahr  lang  des 
obersten  Gerichtshofes  beraubt  sein  sollte,  nach  sich 
ziehen  würde.  Es  ereignete  sich  jedoch  nichts  von 
Bedeutung;  die  öffentliche  Sicherheit  wurde  nicht 
gestört,  und  man  erwartete,  ohne  weitere  Schritte  zu 
unternehmen,  die  Ankunft  des  Hofes  erst  im  Mai  des 
Jahres  17JO.  Dies  beweist  einerseits,  wie  gutmütig  die 
Nation  ist,  und  andererseits,  dass  sich  trotz  der  wun- 
dersamsten Vorfälle  nichts  ereignet,  wenn  eine  Nation 
nicht,  wie  die  Engländer  sagen,  für  eine  Revolution 
reif  ist. 

Da  dies  meine  erste  politische  Kampagne  war,  das 
Ereignis  ebenso  unerhört  wie  stürmisch  und  ich  als 
erster  die  Nachricht  davon  nach  Warschau  brachte, 
hielt  ich  mich  für  eine  bedeutende  Persönlichkeit,  die 
wenigstens  in  den  ersten  Augenblicken  von  jedem  mit 
ebensoviel  Aufmerksamkeit  und  Interesse  angehört 
werden  musste,  wie  von  meinen  Eltern,  die  mich  so- 
fort zum  Grafen  Wielopolski  schickten,  um  ihm  Be- 
richt zu  erstatten.  Er  war  Grossfähnrich  der  Krone, 
ein  damals  durch  seine  Geburt,  seine  Rechtschaffen- 
heit, seine  Vorliebe  für  die  Wissenschaft  und  seine 
Beziehungen  sehr  angesehener  Mann.  Durch  seine 
Frau,  die  Schwester  der  Grosshetmanin  Potocka,  mit 

43 


den  Mniszechs  verschwägert,  hatte  er  in  beiden  Häusern 
viel  zu  sagen,  und  er  wurde  allgemein  als  ein  unpar- 
teiischer und  redlicher  Mann  angesehen;  aber  er  liebte 
seine  Ruhe  und  seine  Vergnügungen  über  alles.  Als  ich 
zu  ihm  kam,  stimmte  er  gerade  seine  Violine  (er  spielte 
übrigens  recht  schlecht),  um  mit  dem  Bankier  Tepper 
ein  Duo  zu  spielen.  Gleich  bei  meinem  Eintritt  sagte 
ich  ihm,  ich  käme  aus  Piotrköw  und  es  gäbe  kein 
Tribunal.  Er  antwortete:  „Warte,  liebes  Kind,  warte," 
spielte  die  Sonate  und  hörte  erst  dann  meinen  Bericht 
an.  Ich  traute  nicht  meinen  Augen  noch  meinen  Ohren , 
mir  ist  es  noch  nie  gelungen,  in  ähnlichen  Fällen  so 
viel  Gleichmut  zu  bewahren,  aber  die  Erfahrung  hat 
mich  gelehrt,  dass  das  Alter  und  die  Gewöhnung  an 
Geschäfte  den  Eindruck  selbst  der  grössten  Neuigkeiten 
abschwächen. 

Der  Hof  war  in  Sachsen.  Schon  deswegen  beeilte 
man  sich  nicht,  für  diese  Unterbrechung  des  Reelits- 
zustandes  Abhilfe  zu  schaffen.  Da  jedoch  das  Exem- 
pel  zu  gefährlich  war,  gab  man  vor,  sich  damit  ernst- 
haft zu  beschäftigen,  und  beschleunigte  aus  diesem 
Grunde  die  Ankunft  des  Königs  im  Jahre  iy5o  um 
einige  Monate.  Gewöhnlich  kam  der  König  in  den 
Reichstagsjahren  erst  im  August  nach  Polen.  In  diesem 
Jahre  kam  der  König  im  Mai,  und  der  gewöhnliche 
Reichstag,  der  im  Oktober  hätte  tagen  sollen,  wurde 
in  einen  aussergewöhnlichen  umgewandelt  und  zwei 
Monate  früher  festgesetzt.  Ich  glaube,  Brühl  hoffte  im 
Grunde  seiner  Seele,  er  würde  aufgelöst  werden, 
sollte  er  jedoch  wirklich  als  ausserordentlicher  Reichs- 
tag tagen,  dann  durfte  er  nicht  länger  als  zwei  Wochen 
währen.  Auf  alle  Fälle  plante  Brühl,  seinen  Herrn 
in  jenem  Jahre  zur  Jagdzeit  nach  Hubertusburg  in 

44 


Sachsen  zurückzubringen,  was  ihm  auch  gelang;  dies 
sollte  ihm  der  König  als  neues  Verdienst  anrechnen, 
da  er  sonst  dieses  Vergnügen  (für  ihn  das  höchste)  in 
den  Jahren,  die  er  in  Polen  zubrachte,  entbehren 
musste. 

Aber  noch  vor  der  zur  Zusammenberufung  des 
Reichstags  angesetzten  Zeit  liess  man  mich  eine  Reise 
nach  Rerlin  unternehmen.  Meine  häufigen  und  recht 
heftigen  Erkrankungen  bewogen  meine  Eltern,  dem 
Rate  des  Grafen  Kayserling  zu  folgen;  er  war  damals 
bereits  zum  zweitenmal  russischer  Gesandter  in  Po- 
len; Avährend  seiner  ersten  Gesandtschaftszeit  hatte 
er  sich  sowohl  die  aufrichtige  Freundschaft  meiner 
Familie  erworben,  als  auch  die  Achtung  und  das  all- 
gemeine Wohlwollen  der  ganzen  Nation.  Er  hatte  sich 
daran  gewöhnt,  sich  besonders  mit  mir  zu  beschäftigen, 
seitdem  es  ihm  im  Jahre  1 744  durch  beinahe  schon 
lästige  dringende  Ritten  gelungen  war,  von  meinen 
Eltern  die  Erlaubnis  zu  erhalten,  mich  in  der  Logik 
zu  unterweisen ;  das  Studium  der  Logik  und  der  Ma- 
thematik waren  seine  tägliche  Lieblingsbeschäftigung. 
Die  Aufgaben  seines  Amtes  erlaubten  ihm  nicht,  mir 
regelmässigen  Unterricht  zu  geben,  er  sah  mich  aber 
seit  jener  Zeit  immer  als  seinen  Schüler  an,  und  das 
trug  in  grossem  Masse  mit  dazu  bei,  dass  er  stets,  bis 
zu  seinem  Tode,  mit  grösstem  Eifer  für  mich  tätig  war. 

In  der  Zeit,  von  der  ich  gerade  spreche,  war  Graf 
Kayserling  voller  Verehrung  für  den  Doktor  Lieber- 
kühn, den  er  in  Rerlin  kennen  gelernt  hatte.  Er  be- 
hauptete, dieser  allein  könnte  mich  kurieren ;  der  wohl- 
verdiente Ruf  dieses  Arztes  und  die  damit  verbundene 
Gelegenheit,  mich  Rerlin  sehen  zu  lassen,  bewogen 
meine  Eltern,  mich  dorthin  zu  schicken.  Sie  empfahlen 

45 


mich  dort  dem  sächsischen  Minister  von  Bülovv,  einem 
Kurländer  von  Geburt,  ihrem  alten  Freund.  Die  Heil- 
mittel, die  mir  Lieberkühn  in  Berlin  verordnete,  waren 
der  Gebrauch  der  Egerquelle  und  seifenhaltiger  Pillen 
nach  seinem  Rezept.  Diese  Pillen  verhinderten  meh- 
rere Jahre  hindurch  die  Folgen  der  Magenkrämpfe, 
an  denen  ich  litt.  Die  Infektions-  und  anatomischen 
Versuche,  mit  denen  sich  Lieberkühn  erfolgreich  be- 
schäftigte, vergnügten  und  belehrten  mich  während 
der  Zeit  meiner  Kur. 

Das  Ansehn,  das  Herr  von  Bülow  mit  Recht  in 
Berlin  nicht  nur  im  Privatleben  genoss,  sondern  — 
was  bei  einem  fremden  Minister  eine  Seltenheit  war  — 
auch  beim  König  von  Preussen  selbst,  verschaffte  mir 
alle  Vergnügungen,  die  unter  der  Regierung  Fried- 
richs II.1)  einem  Fremden  in  Berlin  zugänglich  waren. 

Die  Höfe  der  Königinmutter  und  der  Königin  teilten 
sich  zweimal  wöchentlich  in  die  Pflichten  der  Etikette, 
angesehene  Fremde,  die  Damen  des  Landes  und  jene 
kleine  Anzahl  von  Untertanen  des  Königs  von  Preussen, 
welche  nicht  Militärs  waren,  zu  empfangen;  diese 
nämlich  haben,  von  der  Ausübung  ihres  Berufes  stän- 
dig ganz  in  Anspruch  genommen,  keine  Zeit  für  ge- 
sellschaftlichen Verkehr,  und  man  erzählte  mir,  der 
König  von  Preussen  selbst,  der  auf  das  genaueste  über 
die  Konduite  eines  jeden  seiner  Offiziere  unterrichtet 
ist,  sähe  es  nicht  gerne,  wenn  sie  viel  in  Gesellschaft 
verkehrten. 

Dies  und  die  Strenge  des  Dienstes,  dessen  Stunden- 
einteilung schlecht  mit  jener  der  Damen  harmoniert, 
bewirken,  dass  in  der  Tat  die  Mehrheit  der  preus- 
*)  Anm.  des  Königs:  Das  habeich  vor  dem  Tode  Friedrichs  II. 
geschrieben. 

46 


sischen  Offiziere  sich  aus  Langeweile  dem  Trünke 
und  der  Schwelgerei  hingeben  und  eine  lärmende  und 
anstössige  Ungeschliffenheit  annehmen.  Ein  Teil  von 
ihnen  jedoch,  der  am  Hofe  ihres  Herrn  immer  wie- 
der von  Voltaire  gehört  hat  und  seine  Vorliebe  für 
die  französische  Sprache  und  Literatur  kennt,  beschäf- 
tigt sich  mit  dieser  Art  Lektüre,  und  verschiedene  von 
ihnen  vereinen  die  gefälligste  Kultur  des  Geistes  und 
der  Sitten  mit  der  eifrigsten  Betätigung  der  Kriegs- 
kunst. In  Polen  gibt  es  einen  Mann  dieser  Art,  den 
General  Cocceji. 

Da  das  Benehmen  der  Frauen  in  Polen  damals  im 
allgemeinen  viel  zurückhaltender  war,  als  es  heute 
ist,  war  ich  über  das  Benehmen  der  Frauen  in  Berlin 
erstaunt:  es  schien  mir,  als  verlieh  den  meisten  von 
ihnen  die  Voltairomanie,  der  man  mehr  zum  Schein 
als  aus  Neigung  huldigte,  und  ihre  kühnen  Redens- 
arten, die  sie  für  Beweise  grosser  Geistesschärfe  hielten, 
einen  gekünstelten  Ausdruck,  als  wollten  sie  viel  freier 
erscheinen  als  sie  wirklich  waren;  vielleicht  rührt  das 
alles  ursprünglich  nur  von  dem  Impuls  her,  den  die 
Schriften  und  Reden  des  Philosophen  von  Sans-Souci 
verursacht  hatten. 

Er  hielt  sich  in  Preussen  auf,  als  ich  in  Berlin  an- 
kam, und  kehrte  erst  drei  Wochen  später  dorthin  zu- 
rück; ich  habe  ihn  zweimal  gesehen:  er  hat  mich 
beidemal  angesprochen.  Ich  fand,  dass  er  verlegen 
war  und  sich  verpflichtet  fühlte,  immer  besser  zu 
reden  als  die  anderen,  und  fürchtete,  es  könnte  ihm 
misslingen.  Der  Blick  sehr  unruhig,  die  Augen  ver- 
stört, die  Haltung  unsicher,  die  Kleidung  unsauber 
und  die  ganze  Gestalt  wenig  edel.  Ich  habe  oft  an- 
dere Leute  sich  genau  so  über  ihn  äussern  gehört, 

47 


doch  sind  das  bloss  Äusserlichkeiten.  Es  ist  hier  weder 
der  richtige  Ort  noch  ist  es  meine  Absicht,  ein  er- 
schöpfendes Porträt  dieses  Fürsten  zu  malen.  Ich  habe 
alltäglich  in  Berlin  seine  Untertanen  jeden  Standes 
und  jeden  Ranges  viel  Schlechtes  laut  über  ihn  spre- 
chen gehört,  was  ihm  auch  ganz  genau  bekannt  gewe- 
sen sein  soll  und  woran  er  sich  so  gewöhnt  hatte,  dass 
es  ihn  in  keiner  Weise  berührte. 

Vor  seiner  Rückkehr  aus  Preussen  habe  ich  Char- 
lottenburg, Potsdam,  das  kleine  Palais  von  Sans-Souci 
gesehen  und  das  Zimmer,  das  er  bewohnte  und  in  dem 
er  für  gewöhnlich  arbeitete.  Es  erschien  mir  in  grösster 
Unordnung:  Bücher  und  Schriften  durcheinander  ver- 
streut, überall,  nach  allen  Seiten,  Verse  von  des  Königs 
eigener  Hand  geschrieben,  eine  Unmenge  Möbel  bunt 
durcheinander;  die  Frauen,  die  damit  betraut  sind, 
den  Fremden  die  königlichen  Paläste  dieses  Landes 
zu  zeigen  und  die  man  dort  Kastellaninnen  nennt, 
sagten  mir,  sie  hätten  strengen  Befehl,  jedes  Ding  ge- 
nau an  derselben  Stelle  zu  lassen,  an  der  sie  es  vor- 
gefunden, als  der  Herr  fortging;  so  sah  ich  in  Char- 
lottenburg den  Kopf  einer  Marmorbüste  des  Julius 
Cäsar  unter  einem  Kanapee,  und  die  Kastellanin  ver- 
sicherte, sie  würde  ihn  nie  von  dort  entfernen. 

In  allen  Schlafzimmern  des  Königs  von  Preussen 
sah  ich  ein  für  die  Gestalt  des  Königs  passendes  ge- 
sticktes Wams  von  kostbarem  Stoff,  man  versicherte 
aber,  er  zöge  es  nie  an.  Dieses  Wams  fiel  mir  auf, 
weil  es  absichtlich  dort  hingehängt  zu  sein  schien  und 
einen  vollkommenen  Widerspruch  zu  der  Vorstellung 
bildete,  die  man  sich  von  dem  Morgenrock  eines  Krie- 
gers und  Philosophen  macht. 

In  seinem  Schlafzimmer  in  Sans-Souci  sah  ich  zwei 

48 


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kleine  genau  gleiche  Betten,  nahe  beieinander  auf- 
gestellt; in  Berlin  waren  über  den  Gebrauch  dieser 
zwei  Betten  verschiedene  Gerüchte  im  Umlauf,  aber 
die  Kastellanin  sagte  mir,  der  König  lege  sich  von 
einem  Bett  ins  andere,  sobald  es  ihm  zu  heiss  werde; 
und  doch  liebt  er  die  Hitze;  das  Zimmer,  welches  er 
im  Sommer  bewohnt,  liegt  nach  Süden,  und  es  gibt 
fast  keinen  einzigen  Tag  im  Jahr,  an  dem  nicht  in 
seinem  Kamin  ein  Feuer  brennt;  man  hat  mir  sogar 
erzählt,  dass  jene,  die  er  aufsein  Zimmer  ruft,  oft  vor 
Hitze  fast  ohnmächtig  werden.  Ich  habe  die  Schränke 
seiner  Bibliothek  in  Sans-Souci  gesehen,  die  Kastella- 
nin sagte  aber,  sie  besitze  die  Schlüssel  nicht.  Die 
Kuppel  dieses  kleinen  Palastes,  ganz  aus  auserlese- 
nem Marmor,  durch  ein  rundes  Fenster  oben  in  der 
Decke  erleuchtet,  und  der  Merkur  von  Pigalle  im 
Garten  sind  die  zwei  schönsten  Dinge,  die  ich  dort 
gesehen  habe. 

Da  es  nicht  meine  Absicht  ist,  über  die  kuickerige 
Armseligkeit  zu  sprechen,  in  der  die  Königin  und  ihr 
ganzer  Hof  gehalten  werden,  noch  über  den  strengen 
Zwang,  dem  sich  das  ganze  Leben  der  Brüder  des 
Königs  unterwerfen  muss,  noch  so  manche  Dinge  über 
seine  Truppen  und  seine  Finanzen  zu  sagen,  die  schon 
andereüber  Berlin  gesagt  haben  und  die  bekannt  genug 
sind,  begnüge  ich  mich  zu  bemerken,  dass  ich  in  Berlin 
die  Bekanntschaft  des  Chevalier  Charles  Hambury 
Williams  machte,  des  damaligen  britischen  Gesandten 
am  Hofe  des  Königs  von  Preussen,  der  mich  bereits 
damals  mit  vielen  Höflichkeiten  überschüttete  und 
mir  später  grosse  Freundschaft  bezeugte. 

Während  meines  Aufenthalts  in  Berlin  heiratete 
der  Hofmarschall  Mniszech  die  Tochter  des  Grafen 

4   Poniatowski  4  9 


Brühl.  Graf  Brühl  hatte  sie  meinem  Bruder,  dem  Gross- 
kämmerer, angetragen,  dieser  hatte  jedoch  gesagt: 

„Wir  sind  schon  Ihre  Freunde.  Geben  Sie  Ihre 
Tochter  Mniszech,  dann  werden  Sie  die  Potockis  und 
die  andere  Hälfte  Polens  für  sich  gewinnen." 

Meinem  Bruder  lag  damals  jeder  Gedanke  an  eine 
Heirat  fern,  weil  ein  Herzensbündnis  ihn  ganz  im 
Banne  hielt,  und  das  war  die  wirkliche  Ursache  jener 
Worte,  deren  Wirkung  nicht  ausblieb. 

Mniszech  wurde  von  seinen  Freunden  fast  gegen 
seinen  Willen  bestimmt,  der  Schwiegersohn  des  Günst- 
lings  zu  werden,  der  noch  einige  Zeit  die  guten  Be- 
ziehungen zu  meiner  Familie  aufrechterhielt,  da  Mni- 
szech anfänglich  sehr  gemässigte  Absichten  in  bezug 
auf  die  Gunst  und  den  Einfluss  äusserte. 


5o 


DRITTES     KAPITEL 

ZUM  ERSTENMAL  LANDBOTE.  —  URSACHE  DER 
AUFLÖSUNG  DES  AUSSERORDENTLICHEN  REICHS- 
TAGS VOM  JAHRE  i  75o.  —  MEINE  BEZIEHUNGEN 
ZU  WILLIAMS  WERDEN  INNIGER.  —  MEINE  REISE 
NACH  SACHSEN.  —  BESCHREIBUNG  DES  AUFENT- 
HALTS IN  HUBERTUSBURG.—  ERSTE  ERWÄHNUNG 
DER  GRÄFIN  BRÜHL.  —  MEINE  ERSTE  REISE  NACH 
WIEN.  —  DAS  HAUS  DIETRICHSTEIN.—  DAS  HAUS 
HARRACH.  —  VON  ZINZENDORF.  —  GRAF  FIR- 
MI AN.— PRINZ  JOSEPH  WENZEL  LICHTENSTEIN.— 
LUCHESI.  —  DIE  PRINZESSIN  VON  SAVOYEN.  — 
FRÄULEIN  KOTULINSKA.  —  RÜCKKEHR  NACH  PO- 
LEN. _  LUBNICE.  —  SKIZZE  EINES  PORTRÄTS  DES 
FÜRSTEN  CZARTORYSKI.  —  SEINE  ERSTEN  GUNST- 
BEZEUGUNGEN.  —  SEIN  PORTRÄT  NACH  DEN 
AUSSAGEN  MEINER  MUTTER  UND  MEINEN  EIGE- 
NEN BEOBACHTUNGEN.  —  BILD  MEINER  FAMILIE 
BIS  ZUM  JAHRE  1762.  —  PORTRÄT  MEINES  VA- 
TERS. —  ALS  KOMMISSAR  IN  RADOM.  —  ERSTE 
REISE  NACH  FRAUSTADT.  —  MEIN  LANDTAG 
VON  LOMZA. 


Nach  zweimonatlichem  Aufenthalt  in  Berlin  kehrte 
ich  nach  Warschau  zurück,  rechtzeitig  genug, 
um  als  Landbote  gewählt  zu  werden.  Das  erstemal 
in  meinem  Leben  geschah  dies  auf  dem  Landtag  von 
Zakroczym,  nach  dem  zweiten  Rundschreiben  (Uni- 
versal) 1).  Ich  wurde  also  zusammen  mit  Szydlowski, 
dem  heutigen  Kastellan  von  Masowien,  zum  Boten  ge- 
wählt, und  damit  nichts  von  den  Sitten  und  Bräuchen 
jener  Zeit  fehlte,  gab  es  bei  dem  Mahl,  das  der  Wahl 
folgte,  einen  Streit  und  gezückte  Säbel. 

Der  Reichstag  begann  am  .  .  . 2).  Die  Gutgesinnten 
hofften,  er  würde  dem  Übel  stand,  wegen  dessen  er 
zusammenberufen  wurde,  abhelfen,  das  heisst  der 
Nichtkonstituierung  des  Tribunals.  Der  Woiwode  von 
Ruthenien  gab  dem  Hofe  den  Rat,  Rzewuski  solle  auf 
seine  podolische  Woiwodschaft  verzichten  und  sich, 
wie  es  auch  wirklich  geschah,  im  Gebiete  von  Chelm 
zum  Landboten  wählen  lassen  in  der  Absicht,  Reichs- 

*)  Anm.  d.  Königs:  Wenn  die  ersten  Landtage  zur  Wahl  der 
Landboten  aufgelöst  wurden,  stand  dem  König  das  Recht  zu, 
zweite  und  sogar  dritte  Landtage  festzusetzen.  Der  Zeitpunkt 
für  die  gewöhnlichen  Landtage  war  sechs  Wochen  nach  Ver- 
öffentlichung des  Universals  (des  fürstlichen  Rundschreibens), 
für  die  ausserordentlichen  Landtage  vier  Wochen. 
2)  Lücke  im  Manuskript. 

52 


tagsmarschall  zu  werden.  Der  Autor  dieses  Ratschlags 
glaubte,  diesem  Manne,  dem  im  Jahre  1 736  als  Reichs- 
tagsmarschall der  Pazifikationsreichstag  geglückt  war 
und  der  sich  später  dem  ständigen  Studium  der  müh- 
samsten Praktiken  der  Popularität  hingegeben,  würde 
das  Glück  auch  in  der  zweiten  Marschallszeit  hold  blei- 
ben. Aber  die  Partei  der  Potockis  erblickte  in  ihm 
nur  den  Mann,  der  damals  als  Anhänger  des  Woi- 
woden  von  Ruthenien  galt  und  dessen  zeremonielle, 
überaus  demütige,  beinahe  unterwürfige  Höflichkeit 
nur  die  Maske  eines  weitgehenden  Ehrgeizes  war. 
Ausserdem  gab  diese  Wahl  den  Potockis  den  Vor- 
wand, gegen  eine  angebliche  Beleidigung  des  Rit- 
terstandes aufzutreten ;  als  hätte  es  in  dieser  ganzen 
grossen  Körperschaft  keinen  einzigen  gegeben,  der 
fähig  gewesen  wäre,  den  Posten  eines  Reichstagsmar- 
schalls zu  bekleiden,  als  wäre  es  nötig  gewesen,  in 
Ermanglung  sich  an  den  Senatorenstand  zu  wenden 
und  dadurch  ein  neues,  zweckloses  und  wahrschein- 
lich nur  deshalb  erdachtes  Exempel  zu  geben,  um  die 
gefährlichen  Absichten  zu  verdecken.  Der  Hass  der 
beiden  Parteien  offenbarte  sich  lebhaft  auf  beiden 
Seiten;  die  Dinge  gingen  so  weit,  dass  der  alte  Gross- 
kronhetman  Potocki  annahm  oder  anzunehmen  vor- 
gab, der  Woiwode  von  Ruthenien  hätte  den  Rat  ge- 
wagt, ihn  festnehmen  und  nach  Königstein  bringen 
zu  lassen,  wie  es  den  beiden  Söhnen  Johann  Sobies- 
kis  auf  Befehl  Augusts  II.  ergangen  war. 

Ich  kann  weder  die  Wahrheit  noch  die  Falschheit 
dieser  Vermutung  bezeugen,  aber  mehrere  einfluss- 
reiche Persönlichkeiten  glauben  es  auch  heute  noch. 
Sicher  ist,  dass  der  alte  Potocki  am  Vorabend  des 
Tages,  der  angeblich   für  seine  Gefangennahme  be- 

53 


stimmt  war,  allen  Truppen,  die  ihm  in  Warschau  zur 
Verfügung  standen,  befahl, die  Patronentaschen  zu  fül- 
len und  die  Waffen  zu  laden.  Bekanntlich  kam  damals 
ein  Grosskronhetman  niemals  nach  Warschau  und 
reiste  niemals  im  Lande  umher,  ohne  von  einigen  Hun- 
dert Soldaten  der  Republik  oder  von  ihm  selbst  be- 
soldeten Soldaten  eskortiert  zu  sein;  am  nächsten 
Tage  wurde  er  nicht  festgenommen,  aber  nach  einem 
zwecklosen  Disput,  den  man  mehrere  Tage  über  die 
Wahl  des  Marschalls  geführt  hatte,  sprengte  ein 
Landbote  von  Beiz,  Wydzga  mit  Namen,  ein  Anhän- 
ger der  Potockis,  den  Reichstag  durch  ein  formelles 
Manifest. 

Die  Gründe  der  Auflösung  dieses  Reichstags  waren 
folgende:  die  Umstände  der  Demission  Rzewuskis; 
der  Tadel,  den  die  Potockis  fürchteten,  falls  dieser 
Reichstag  Erfolg  haben  sollte  (der  doch  einzig  und 
allein  nur  deshalb  zusammenberufen  wurde,  weil  sie 
die  Zusammensetzung  des  Tribunals  verhindert  hat- 
ten); der  gewisse  Erfolg  der  Gegenpartei,  den  sie  da- 
durch zunichte  machten;  die  Pläne  ihrer  Rivalen; 
endlich,  dass  alle  diese  Motive  von  einem  französi- 
schen Hauch  inspiriert  waren.  Zum  Unglück  wurde 
dieses  Exempel  bei  allen  folgenden  Reichstagen  wäh- 
rend der  Regierungszeit  Augusts  HI.  nachgeahmt. 

Diesmal  beschränkte  sich  der  Ausbruch  der  bür- 
gerlichen Zwietracht  auf  diesen  Akt  selbst.  Rzewuski 
empfing  seine  Senatorenwürde  und  seine  podolische 
W'oiwodschaft  durch  ein  neues  Privilegium  l)  aus  den 
Händen  des  Königs  zurück,  und  wenige  Monate  spä- 

a)  Anm.  des  Königs:  Man  nennt  in  Polen  Privilegium  alle 
vom  König  signierten  Patente,  durch  die  er  irgend  eine  Gnade 
oder  Würde  erteilt. 

54 


ter,  als  der  September  und  damit  der  Zeitpunkt  der  ge- 
wöhnlichen Landtage  heranrückte,  folgte  das  Tribunal 
von  1 75o  dem  von  1 748,  ohne  dass  die  Unterbrechung 
dieses  höchsten  Gerichtshofes  im  Jahre  1749  irgend 
einen  fühlbaren  Nachteil  mit  sich  gebracht  hätte, 
ausser,  dass  die  Nation  dadurch  an  eine  neue  Unord- 
nung gewöhnt  wurde.  Vielleicht  hätte  man  wünschen 
sollen,  dass  irgend  ein  plötzliches  Unglück  uns  aus 
dieser  Lethargie  herausgerissen  hätte,  worin  die 
Mehrzahl  unserer  Mitbürger  verfaulten  in  der  Mei- 
nung, sie  hätten  nichts  anderes  zu  fürchten  als  nur 
die  Einführung  der  Pluralität. 

Der  Misserfolg  dieses  ausserordentlichen  Reichsta- 
ges diente  dem  Hofe  als  Vorwand,  sich  der  Mühe  des 
ordentlichen  Reichstages,  der  auf  dieses  Jahr  fallen 
sollte,  zu  entledigen,  und  kurze  Zeit  darauf  kehrte 
der  Hof  nach  Sachsen  zurück. 

Während  seines  Aufenthalts  in  Polen  gestalteten 
sich  meine  Reziehungen  zum  Chevalier  Williams  in- 
timer und  trugen  sehr  dazu  bei,  mir  in  der  grossen 
Welt  das  Ansehen  eines  reifen  Mannes  zu  verschaffen, 
woran  mich  bis  jetzt  mein  Alter  und  meine  sehr 
kleine  Gestalt,  welche  sich  erst  in  diesem  Jahre  durch 
ein  plötzliches  Wachstum  entwickelte,  gehindert  hat- 
ten. Als  Williams  dem  Hofe  nach  Dresden  folgte, 
wollte  er  eine  chiffrierte  Korrespondenz  mit  mir  auf- 
rechterhalten über  die  Angelegenheiten,  die  für  meine 
Familie  von  Interesse  sein  könnten.  Diese  Rekannt- 
schaft  war  eines  der  Motive,  welche  meine  Eltern  be- 
wogen, mich  im  darauffolgenden  Herbst  nach  Sach- 
sen zu  schicken. 

In  diesem  Winter  wohnte  ich  der  Hochzeit  meines 
Bruders  bei,  welche  dem  Reichstage  von  1760  folgte; 

55 


seine  Heirat  kam  ganz  plötzlich  und  recht  unerwar- 
tet zustande,  er  vermählte  sich  mit  Fräulein  Ustrzycka, 
der  Tochter  des  Kastellans  von  Przemysl.  Im  Som- 
mer nach  seiner  Heirat  begleitete  ich  ihn  auf  all  sei- 
nen Reisen  durch  ganz  Polen,  welche  er  unternahm, 
um  seine  Frau  unserer  ganzen  Familie  vorzustellen; 
hierauf  reiste  ich  nach  Sachsen,  um  dem  König  meine 
Aufwartung  zu  machen.  Ich  traf  ihn  in  Leipzig  an, 
bei  der  Michaelismesse;  während  der  wenigen  Tage 
seines  dortigen  Aufenthalts  bereitete  ich  meine  Jagd- 
ausrüstung für  Hubertusburg  vor. 

Dort  repräsentierte  der  König  von  Polen  August  III. 
mit  dem  grössten  Aufwand,  dort  war  er  am  glück- 
lichsten. Seine  ganze  Familie  versammelte  er  dort, 
alle  fremden,  an  seinem  Hof  residierenden  Minister 
folgten  ihm  dorthin,  auch  alle  bürgerlichen  und 
militärischen  Würdenträger  seines  Staates  und  alle 
irgendwie  angesehenen  Fremden,  die  sich  zur  Zeit 
der  Jagdsaison  in  Dresden  aufhielten.  All  diese  Leute 
wurden  vom  König  untergebracht,  bewirtet  und  aus- 
gehalten, und  das  Leben,  das  man  in  Hubertusburg 
führte,  konnte  wirklich  köstlich  genannt  werden. 

Um  acht  Uhr  morgens  erschien  der  König,  um  sich 
zur  Messe  zu  begeben.  Um  halb  neun  folgte  man  ihm 
als  seine  Suite  in  seinen  Wagen  zum  Jagdrendezvous, 
wo  im  Schatten  der  Bäume  ein  üppiges  Frühstück  auf- 
getischt wurde,  das  gleich  auch  als  Mittagsmahl  diente ; 
dann  stieg  man  zu  Pferde,  um  ein,  zwei  oder  auch  drei 
Hirsche  bei  einer  Jagd  einzulangen.  Die  Hofuniformen 
in  Gelb,  Blau  und  Silber,  die  Schönheit  der  Pferde,  die 
vielen  Kaleschen  mit  den  zur  Suite  der  Königin  gehö- 
renden Damen  und  vor  allein  die  wundervolle  Schön- 
heit des  Forstes,  der  drei  Meilen  im  Durchmesser  misst 

56 


und  von  vierundzwanzig  schnurgeraden,  rechtwinklig 
sich  schneidenden  Wegen  durchquert  wird,  machte 
dieses  Vergnügen  wirklich  zu  einem  Feste  selbst  für 
jene,  die  keine  passionierten  Jäger  waren. 

Die  passionierten  Jäger  verfolgten  mit  Begeiste- 
rung, geführt  von  den  Söhnen  des  Königs;  die  weni- 
ger eifrigen  wie  ich  gesellten  sich  zum  Grafen  Brühl, 
der  zwar  niemals  dicht  hinter  den  von  geschickten 
Jägern  geführten  Hunden  folgte,  dennoch  ohne  sich 
jemals  überanzustrengen  und  stets  auf  den  besten 
Wegen  zum  Tod  des  Hirsches  zurechtkam.  Das  war 
die  einzige  Beschäftigung,  bei  der  sich  Graf  Brühl 
nicht  ständig  in  nächster  Nähe  der  Person  des  Kö- 
nigs befand,  der  mit  der  Königin  in  einer  Kalesche 
der  Jagd  folgte.  Während  der  Jagd,  vor  allem  wäh- 
rend einer  glücklichen  Jagd  schien  der  König  sich 
selbst  unähnlich:  lustig,  entgegenkommend,  gesprä- 
chig, so  dass  alle,  die  damals  leichten  Zutritt  hatten, 
beinahe  zweifelten,  es  könnte  derselbe  stolze,  ernste, 
schweigsame  König  sein,  den  man  sonst  stets  nur 
von  einer  strengen,  fast  jede  Annäherung  verhin- 
dernden Etikette  umgeben  sah. 

Gewöhnlich  kehrte  mau  zwischen  vier  und  fünf 
Uhr  nachmittags  von  der  Jagd  zurück.  Man  hatte 
eine  Stunde  Zeit,  um  sich  auszuruhen  und  umzuklei- 
den. Dann  begab  man  sich  ins  Theater,  wo  die  Jagd- 
musik aufspielte,  herrliche  Stimmen  zu  hören  und 
prächtige  Balletts  zu  sehen  waren.  Dann  soupierte 
man  mit  dem  König  an  einer  riesengrossen  Tafel  in 
einem  hellbeleuchteten,  prachtvollen  Saal;  alle  Gäste, 
Damen  und  Herren,  waren  dort  in  ebenso  reichen 
wie  schönen  Trachten.  Nach  dem  Souper,  gegeu 
neun  Uhr,  zog  sich  der  König  zurück  und  man  be- 

57 


gab  sich  in  die  Gemächer  des  Thronfolgers,  dessen 
Gemahlin,  Antonie  von  Bayern,  obgleich  sehr  häss- 
lieh,  doch  alle  durch  ihre  Konversation  und  ihre 
Stimme  entzückte;  fast  jeden  Tag  wurde  bei  ihr  vor- 
trefflich musiziert. 

Gegen  zehn  Uhr  verabschiedete  man  sich  und  be- 
gab sich  dann  zur  Gräfin  Brühl.  Wer  immer  diese 
Frau  gekannt  hat,  muss  zugeben,  ein  erster  Minister, 
ein  Günstling  hätte  keine  andere  finden  können,  die 
befähigter  gewesen  wäre,  ihm  Freunde  zu  schaffen 
oder  zum  mindesten  den  Neid  und  die  Eifersucht  zu 
verscheuchen,  die  ein  Mann  in  ähnlicher  Stellung 
und  vor  allem  ein  Graf  Brühl  fürchten  musste.  Da 
innige  Freundschaft  meine  Mutter  mit  ihr  verband, 
genoss  ich  in  ihrem  Hause  alle  Rechte  eines  Sohnes. 
Die  Abwesenheit  ihres  Schwiegersohnes,  die  bereits 
einige  Monate  dauerte,  schien  ihre  Tochter,  Madame 
de  Mniszech,  sehr  zu  beunruhigen,  und  ich  fand  mit  so 
vielen  anderen,  dass  ihr  Gatte  ihr  dadurch  grosses  Un- 
recht zufügte,  noch  mehr  aber  sich  selbst  schadete. 

Das  Haus  der  Gräfin  Brühl  verliess  ich  gewöhn- 
lich kurz  vor  Mitternacht  zusammen  mit  dem  Che- 
valier Williams,  dem  Grafen  de  Salmour1)  und  dem 
Gesandten  von  Holland  Kalkoen,  um  bei  einem  von 
ihnen  noch  eine  Stunde  oder  mehr  zu  verbringen 
und  unter  Lachen  und  Scherzen  alle  Ereignisse  des 
Tages  zu   besprechen.   Dieses  lustige  Leben  währte 

])  Anm.  des  Königs:  Salmour,  ein  Piemontese,  Neffe  jenes 
Salmour,  der  Gouverneur  des  Thronfolgers  gewesen  war, 
ein  junger,  sehr  liebenswürdiger,  lustiger,  sehr  gebilde- 
ter Mann,  der  damals  in  die  Comtesse  Lubieriska,  meine  leib- 
liche Cousine,  erstes  Ehrenfräulein  der  Königin,  sehr  verlieht 
war:  später  hat  er  sie  geheiratet. 

58 


sechs  Wochen.  Ich  war  gesund,  hatte  zwar  nicht  viel 
aber  genügend  Geld,  keine  Sorgen,  wohnte  zu  einer 
schönen  Jahreszeit  an  einem  schönen  Orte  in  sehr 
guter  Gesellschaft,  war  beinahe  verliebt  aber  in  kei- 
ner Weise  ausschweifend;  ich  kam  nur  mit  Leuten 
zusammen,  die  zufrieden  schienen  und  keine  andere 
Beschäftigung  hatten  als  das  Amüsement;  in  meinem 
ganzen  Leben  war  ich  nie  so  glücklich  wie  während 
dieser  sechs  Wochen.  Als  sie  aber  vorbei  waren,  da 
waren  mit  ihnen  auch  meine  guten  Zeiten  dahin. 

Ich  bekam  Befehl  von  meinen  Eltern,  Sachsen  zu 
verlassen  und  mich  nach  Wien  zu  begeben.  Gräfin 
Brühl,  die  dort  grosse  Beziehungen  hatte,  Gräfin  Stern- 
berg, eine  geborene  Starhemberg,  die  Frau  des  Wie- 
ner Ministers  an  unserem  Hofe,  und  der  Chevalier 
Williams  gaben  mir  viele  Briefe  mit;  ich  langte  ge- 
gen Ende  des  Jahres  1701  in  Wien  an;  neunzehn 
Jahre  war  ich  alt,  hatte  keinen  Mentor  und  auch  nie- 
manden, der  mich  wie  Williams  und  die  Gräfin  Brühl 
in  Sachsen  beraten  hätte. 

Wien  war  für  mich  eine  neue  Welt  und  machte 
auf  mich  grösseren  Eindruck  denn  alles,  was  ich  bis 
dahin  gesehen.  In  Sachsen  fühlte  ich  mich  beinahe 
zu  Hause;  in  den  Gesellschaften  Berlins  scheint  man 
ein  wirkliches  Bedürfnis  nach  Fremden  zu  haben; 
an  den  anderen  Orten,  die  ich  bei  meiner  ersten 
Reise  berührt  hatte,  fand  ich  fast  überall  Freunde 
meines  Vaters,  deren  Aufnahme  mir  Mut  einflösste. 
Nichts  von  alledem  kam  mir  in  Wien  zu  Hilfe. 

Dort  sah  ich  einen  grossen,  majestätischen  Hof, 
von  dem  niemand  schlecht  zu  sprechen  wagte;  eine 
Menge  sehr  reicher,  sehr  pomphafter  und  im  allge- 
meinen sehr  kühler,  unzugänglicher  Privatleute.  Fast 

59 


alle  Frauen  züchtig  und  Fremden  gegenüber  wenig 
zuvorkommend;  die  prüden  Grundsätze  der  Kaiserin, 
welche  in  jeder  Weise  tief  verehrt  wurde  und  deren 
fast  einziger  Fehler  sich  damals  in  den  zu  genauen 
Recherchen  über  die  Sitten  ihrer  Untertanen  äusserte, 
waren  sicherlich  der  Hauptgrund  hierfür;  all  das  zu- 
sammen fiösste  mir  Respekt  ein,  brachte  mir  jedoch 
manchen  Zwang  und  Langeweile.  Ich  setzte  meine 
Ehre  darein,  in  den  ersten  und  besten  Häusern  Wiens 
Erfolg  zu  haben;  zunächst  brachte  mir  das  die  un- 
umgängliche und  furchtbar  langweilige  Notwendig- 
keit ein,  Karten  zu  spielen  und  zwar  Kommersspiele; 
auch  war  die  Konversation  derjenigen,  die  ich  bis  da- 
hin kannte,  so  unähnlich,  dass  ich  mich  anfänglich 
oft  verlegen  fühlte;  endlich  aber  setzte  ich  mich  durch 
und  knüpfte  einige  Beziehungen  an. 

Die  wohlwollende  Aufnahme,  die  ich  im  Hause 
Dietrichstein  fand,  verdankte  ich  meiner  Qualität  als 
Neffe  des  Woiwoden  von  Ruthenien,  dessen  intime 
Freundin  die  Prinzessin  war.  Die  Gräfin  Rosa  Har- 
rach, die  Frau  und  Nichte  des  Präsidenten  des  Hof- 
rats, „Königin  der  Engländer"  genannt,  nahm  mich 
dank  meiner  Empfehlung  durch  Williams  sehr  wohl- 
wollend auf.  August  Suikowski,  der  älteste  Sohn  des 
Exgünstlings  Augusts  III.,  seit  langem  in  Wien  in 
alles  eingeweiht,  war  mir  behilflich,  sogenannte  Be- 
kanntschaften anzuknüpfen. 

Hierher  gehört  die  Bekanntschaft  des  Komman- 
deurs von  Zinzendorf,  dessen  Existenz  in  Wien  um  so 
mehr  auffiel,  als  er  damals  fast  der  einzige  war,  der 
ohne  am  Hof  schlecbt  angeschrieben^ zu  sein  sich  in 
Reden  und  Gebaren  ganz  wie  ein  alter  französischer 
Libertin  benehmen  durfte;  schwer  gichtleidend,  sehr 

60 


gebildet,  sehr  mitteilsam,  gelang  es  ihm  oft,  durch 
seine  Konversation  die  Gesellschaft  zu  belehren  und 
gleichzeitig  zu  unterhalten;  um  die  Gunst,  mit  dem 
alten,  auf  einer  Chaiselongue  liegenden  Kommandeur 
sprechen  zu  dürfen,  bewarben  sich  damals  selbst 
Damen  der  höchsten  Gesellschaft  und  Männer  aller 
Stände.  Dem  Ruf  dieses  seltsamen  Mannes  haftete 
mancher  merkliche  Makel  an,  doch  seine  Beliebtheit 
oder  sein  Glück  liessen  sie  vergessen  oder  ignorieren. 

Ein  anderer  Mann  von  sehr  strengem  Ausseren, 
dessen  Milde  und  Weisheit  ich  kennen  lernen  durfte, 
war  Graf  Firmian,  derselbe,  der  später  das  Herzog- 
tum Mailand  für  Osterreich  regierte. 

Auch  der  Graf  de  Canal,  der  Gesandte  des  Königs 
von  Sardinien,  nahm  mich  sehr  wohlwollend  auf; 
dreizehn  Jahre  später  sollte  er  mir  am  Wiener  Hofe 
von  sehr  grossem  Nutzen  sein  1). 

Bei  ihm  traf  ich  den  Fürsten  Joseph  Wenzel  Lichten- 
stein, der  einst  im  Gespräch  mit  Maria  Theresia  den 
Ausdruck  gebrauchte:  „Eure  Artillerie,  Madame," 
und  von  der  Kaiserin  unterbrochen  wurde:  „Sagen 
Sie  Ihre  Artillerie,  denn  Sie  sind  nicht  nur  ihr  Feldzeug- 
meister, sondern  auch  ihr  Schöpfer." 

In  der  Tat  behauptet  man,  dass  er  den  grössten 
Teil  seiner  unermesslichen  Einkünfte  hierfür  ver- 
wandt habe.  Er  gilt  als  der  reichste  und  freigebigste 
Untertan  des  österreichischen  Hauses;  man  beschul- 
digt ihn  nur  der  Prahlsucht:  obwohl  von  anerkann- 

*)  Anm.  des  Königs:  Er  war  damals  sehr  angesehen  als 
ein  Mann  von  grosser  Routine  und  Gewandtheit  in  seinem 
Amte,  als  eifriger  Gelehrter,  der  durch  seine  Verheiratung 
mit  einer  Dame  aus  dem  ungarischen  Hause  Pälffy  nützliche 
Beziehungen  erlangt  hatte. 

61 


ter  Rechtschaffenheit,  liebte  eres,  aussergewöhnliche 
Dinge  zu  erzählen,  für  die  niemand  hätte  garantieren 
wollen,  denen  jedoch  keiner  widersprach,  weil  sie 
harmlos  waren  und  niemanden  schädigten.  Äusserst 
tapfer,  erfolgreicher  General,  der  die  Schlacht  von 
Piacenza  gewonnen,  führte  er  dennoch  oft  bramarba- 
sierende Redensarten. 

Im  Hause  der  Gräfin  Harrach  lernte  ich  den  Grafen 
Luchesi  kennen,  einen  Sizilianer  von  Geburt  und 
General  der  Kavallerie  in  österreichischen  Diensten, 
der  fünfzigjährig  sich  mit  seinem  afrikanischen  Ge- 
sicht, seiner  seltsamen  Sprache  und  absichtlich  bi- 
zarren Redensarten  und  bizarrem  Renehmen  noch 
alle  Wiener  Damen  unterjocht  und  sich  besondere 
Rechte  in  allen  Wiener  Gesellschaften,  sogar  bei 
der  Kaiserin  selbst,  erworben  hatte;  im  Grunde 
genommen  erfreute  er  sich  weder  am  Hofe  noch  in 
der  Stadt  wirklicher  Gunst,  sondern  er  durfte  sich 
nur  gewisse  Freiheiten  herausnehmen;  dennoch  war 
er  eine  sehr  unbequeme  Persönlichkeit,  weil  die 
schönen  Frauen,  die  heiligsten  sogar  und  die  höchst- 
gestellten —  die  er  in  seiner  Sprache  schöne  Un- 
geheuer nannte  — ,  in  seiner  Gegenwart  keinen 
freundlich  anzuschauen  wagten,  mit  dem  zu  schmol- 
len es  ihm  im  Augenblick  beliebte.  Mit  einem  Wort, 
er  war  eine  Art  gesellschaftlicher  Despot,  dessen 
Tyrannei  um  so  unerträglicher  war,  als  sie  sich  auf 
fast  keinen  reellen  Titel  stützte  und  vor  allem  nicht 
auf  den  Wunsch,  jemandem,  sei  es  Mann  oder  Frau, 
gefallen  zu  wollen.  Seine  Beliebtheit  war  jedoch 
Mode  geworden,  seit  er  in  den  ersten  Jahren  der 
Regierung  Maria  Theresias  einige  bedeutende  Taten 
verrichtet  hatte,  wofür  er  als  Lohn  entweder  ein  va- 

62 


kantes  Regiment  verlangte  oder  eiue  Kokarde  aus 
Bändern,  welche  die  Kaiserin  trug.  Diese  ritterliche 
Alternative,  die  er  in  einein  Augenblick  vorbrachte, 
wo  die  Königin  noch  in  Verlegenheit  war  wegen 
eines  früheren  Versprechens,  brachte  ihm  die  Zusage 
ein,  das  nächste  Regiment  zu  erhalten,  das  frei  würde, 
und  ausserdem  das  ausschliessliche  Privileg,  der 
Kaiserin  maurische  Komplimente  zu  Füssen  legen  zu 
dürfen.  Der  Krieg  von  i'jSG  enttäuschte  über  seine 
militärischen  Fähigkeiten.  Mich  behandelte  er  einige 
Male  sehr  liebenswürdig  und  offerierte  mir  sogar  eines 
Tages  die  Stelle  eines  Kornetts  in  einem  Kürassier- 
regiment für  mich  oder  einen  meiner  Brüder.  Das 
bedeutete  das  non  plus  ultra  seiner  Gunst,  und  dieses 
Anerbieten  gab  meinem  Bruder  den  ersten  Anstoss 
für  die  Annahme  des  Dienstes  und  für  den  Ruf,  den 
er  sich  in  Ausübung  desselben  später  erwarb. 

Unter  anderen  wurde  ich  auch  im  Hause  der  alten 
Prinzessin  Viktoria  von  Savoyen,  der  Nichte  und  Erbin 
des  berühmten  Prinzen  Eugen,  vorgestellt;  sie  war 
mit  dem  Prinzen  von  Sachsen-Hildburghausen,  Feld- 
marschall in  österreichischen  Diensten,  vermählt  ge- 
wesen, hatte  sich  von  ihm  getrennt  und  hielt  eigenen 
Hof  in  dem  von  ihrem  Onkel  erbauten  Palast.  Als 
Ebrenfräulein  hatte  sie  zwei  Schwestern,  Gräfinnen 
Kotulinskas,  bei  sich,  die  einer  mährischen  Familie 
entstammten.  Die  ältere,  Angelika  mit  Namen,  wurde 
von  Kaiser  Franz  I.  sehr  geliebt,  ohne  dass  man  je- 
doch später  ihre  Jungfernschaft  deswegen  anzwei- 
felte; ich  fand  sie  ausserordentlich  schön  und  sehr 
liebenswürdig,  besonders  seit  sie  mich  einem  schwe- 
dischen, in  österreichischen  Diensten  stehenden  Offi- 
zier vorzog,  der  sich  um  ihre  Hand  bewarb. 

63 


Dieser  Umstand  und  zwei  Besuche,  die  ich  ihr 
machte,  bei  denen  aber  ihre  Schwester  keinen  Augen- 
blick das  Zimmer  verliess,  machten  den  Nuntius  Ser- 
belloni,  einen  Vertrauten  des  Hauses,  glauben,  ich 
hätte  diesem  Fräulein  Treue  geschworen,  was  aber 
nicht  der  Fall  war.  Er  sprach  darüber  mit  der  Prin- 
zessin von  Savoyen  und  teilte  es  als  Tatsache  meinen 
Eltern  mit,  die  erkannte,  da  er  früher  Nuntius  in  Polen 
war.  Daraufhin  schrieb  mir  mein  Vater  einen  nieder- 
schmetternden Brief,  in  dem  er  mir  verbot,  das  Fräu- 
lein je  wiederzusehen,  sollte  die  Mitteilung  auf  Wahr- 
heit beruhen.  Die  Prinzessin  von  Savoyen  verbot  mir 
ihrerseits  das  Haus.  Das  rief  in  mir  den  Wunsch  wach, 
meine  Abreise  von  Wien  zu  beschleunigen,  und  ich 
kehrte  im  April  des  Jahres  1762  nach  Polen  zurück. 

Ich  nahm  meinen  Weg  über  Mähren,  das  mir  nach 
den  Niederlanden  als  das  blühendste  Land  erschien, 
welches  ich  je  gesehen.  Von  dort  führte  mich  mein 
Weg  über  Krakau  nach  Lubnice,  einem  Landhaus  in 
der  Woiwodschaft  Sandomir,  das  dem  Fürst- Woi- 
woden  von  Ruthenien  gehörte,  den  ich  dort  antraf. 

Da  er  damals  mich  am  meisten  zu  karessieren  be- 
gann, lernte  ich  diesen  bedeutenden  Mann  näher 
kennen,  der  später  einen  starken  Einfluss  in  so  man- 
cher Beziehung  auf  mein  ferneres  Leben  ausübte. 
Es  wäre  wohl  die  beste  Gelegenheit,  hier  sein  Porträt 
zu  entwerfen.  Aber  es  gibt  tiefe  Seelen,  die  man  in 
kurzer  Zeit  in  keiner  Weise  völlig  ergründen  kann 
und  von  denen  man  auf  den  ersten  Anhieb  kein 
Porträt  malen  kann.  Ich  kann  ruhig  sagen,  dass  ich 
den  Woiwoden  von  Ruthenien  wie  ein  Buch  studiert 
habe.  Meine  Kenntnis  von  ihm  und  meine  Ansichten 
über  ihn  erweiterten  sich  im  Laufe  der  Ereignisse, 

64 


August  Alexander  Czartoryski,  Woiwode  von 
Ruthenien 

(Phot.  Anderle,  Krakau) 


während  meines  langen  familiären  Verkehrs  und  durch 
gemeinsame  Angelegenheiten,  und  der  Leser  wird  ihn 
hesser  kennen  lernen,  wenn  er  mit  mir  der  Fortsetzung 
dieser  Geschichte  folgt. 

Hier  muss  erwähnt  werden,  dass  der  Woiwode  von 
Ruthenien  stets  die  Maxime  befolgte,  sich  junge  Leute 
zu  attachieren,  bei  denen  er  auch  nur  das  geringste 
Talent  zu  entdecken  wähnte  oder  irgend  eine  erwor- 
bene oder  zufällige  Eigenschaft,  und  dass  niemand  es 
so  verstand  wie  er,  der  Eigenliebe  des  Betreffenden 
zu  schmeicheln,  das  Herz  und  den  Geist  eines  ver- 
trauensseligen Charakters  zu  gewinnen ;  er  hatte  einen 
beinahe  magischen  Einfluss,  und  wenn  er  es  wollte, 
so  vermochte  er  den  grössten  Enthusiasmus  für  sich 
zu  entfesseln,  ohne  dass  er  sich  darum  zu  bemühen 
schien,  ohne  dass  man  in  seinem  Gebaren  und  seineu 
Reden  eine  Absicht  entdecken  konnte,  alles  schien 
einzig  und  allein  seiner  aufrichtigen  Neigung  zu  ent- 
springen; das  glaubten  vor  allem  jene,  die  noch  keine 
grosse  Erfahrung  hinter  sich  hatten. 

Er  nahm  nun  vor  allem  unbedingt  an,  dass  ein 
junger  Mann,  der  von  der  ersten  ohne  Mentor  unter- 
nommenen Reise  zurückkehrte,  in  Geldverlegenheit 
sein  müsse,  und  er  bot  mir  Geld  an.  Vergeblich  ver- 
sicherte ich,  ich  hätte  noch  genügend,  um  mein 
Vaterhaus  zu  erreichen;  er  jedoch  sagte: 

„Du  bist  mein  Neffe  und  du  wirst  ein  Geschenk 
von  mir  nicht  ablehnen;  hier  sind  zweihundert  Du- 
katen, aber  ich  bitte  dich,  es  niemandem  zu  sagen." 

Ich  erwiderte,  dass  er  wohl  das  Recht  hätte,  mir 
Geschenke  zu  machen,  meine  Eltern  aber  würden  es 
erfahren.  Jetzt  ging  er  anders  zu  Werke;  er  sprach 
mir  von  ihnen,   vor  allem  von   meiner  Mutter,   im 

">    Poniatowski  t)5 


liebevollsten  Ton  aber  wie  von  Leid  erfüllt  wegen 
jener  Sache,  die  nach  vierzigjähriger  zärtlichster  und 
innigster  Freundschaft  zwischen  meiner  Mutter  und 
ihm  das  erste  Zerwürfnis  hervorgerufen,  in  der  er  die 
Schuld  jedoch  nicht  auf  sich  nehmen  könnte.  Bei  dieser 
Gelegenheit  fügte  er  einige  Worte  über  meinen  Bru- 
der, den  Grosskämmerer,  ein,  über  seine  schwachen 
Seiten,  als  wollte  er  zu  verstehen  geben,  dass  ich  an 
dessen  Stelle  nicht  solches  Unrecht  begangen  hätte; 
dabei  beteuerte  er  stets,  dass  er  ihn  liebte.  Je  mehr 
ich  mich  von  seinen  Worten  umgarnt  fühlte,  um  so 
mehr  fürchtete  ich,  ich  könnte  meiner  Mutter  schuld 
geben,  die  ich  doch  keiner  Schuld  für  fähig  hielt,  vor 
allem  keiner  solchen,  bei  der  ihre  Uneigennützigkeit 
und  ihre  Wahrheitsliebe  nur  im  geringsten  hätten 
verdächtigt  werden  können.  Ich  erinnere  mich,  dass 
ich  ihm  ungefähr  folgendes  zur  Antwort  gab: 

„Es  ist  mir  unmöglich  zu  glauben,  dass  die  Tat- 
sachen anders  sind,  als  meine  Mutter  sie  mir  berichtet 
hat;  ich  glaube  aber,  ihr  beide  müsst  die  gleichen 
Tatsachen  von  einem  anderen  Gesichtspunkt  aus  be- 
trachtet haben.  Ich  kann  meinen  Bruder  nicht  schul- 
dig finden;  ist  er  doch  in  der  Idee  aufgewachsen,  das 
Krongarderegiment  zu  Fuss  sei  dir  von  meinem  Vater 
nur  unter  der  Bedingung  überlassen  worden,  dass  du 
es  an  seinen  ältesten  Sohn  zurückgeben  würdest,  so- 
bald er  in  die  Jahre  käme;  es  musste  ihn  schmerzen 
als  er  sah,  dass  diese  Hoffnung,  die  seinem  Talent  so 
entsprochen  hätte,  fehlschlug.  Aber  ohne  hier  von  dei- 
nem Sohn  zu  sprechen  —  deine  Zärtlichkeit  für  ihn  ist 
mir  begreiflich,  mein  lieber  Onkel  — ,  finde  ich,  dass 
diese  Sache  und  noch  zehn  andere  nicht  das  unschätz- 
bare Gut  eines  so  seltenen  und  musterhaften  Verhält- 

66 


nisses  trüben  dürften,  welches  die  Kraft  unserer  Familie 
bedeutete  und  ihr  zum  Ruhme  gereichte.  Es  wäre  gut, 
glaube  ich,  übereinzukommen,  nie  mehr  von  dieser 
Sache  zu  sprechen  und  sie  für  immer  zu  begraben." 

Er  umarmte  mich  und  schien  über  meine  Auf- 
fassung entzückt  zu  sein;  ich  blieb  noch  einige  Tage 
bei  ihm;  während  dieser  Zeit  überzeugte  er  mich 
vollends  von  seiner  Achtung  und  Zärtlichkeit  für 
mich,  und  ich  kehrte  ganz  von  dieser  Idee  erfüllt  nach 
Warschau  zurück,  so  dass  meine  Mutter  es  für  nötig 
hielt,  mich  vor  der  Verblendung  durch  meine  Eigen- 
liebe zu  warnen,  die  hierbei  genau  so  mitgespielt 
haben  mochte  wie  die  Geschicklichkeit  eines  wirklich 
sebr  gewandten  Mannes  und  der  Einfluss,  den  dieser 
auf  einen  aufrichtigen  und  in  keiner  Weise  miss- 
trauischen  jungen  Menschen  ausüben  musste.  Sie  er- 
zählte mir  die  Geschichte  ihres  Bruders  wie  folgt. 

Von  Geburt  an  war  sein  Charakter  cholerisch  und 
äusserst  hochmütig,  was  sich  bereits  in  seiner  Kind- 
heit in  der  heftigsten  Weise  äusserte;  aber  seinem 
überlegenen  Geiste  gelang  es,  sich  vom  zwölften  Le- 
bensjahre ab  so  zu  beherrschen,  dass  er  sich  völlig 
verändert  zu  haben  schien  und  jeder,  der  ihn  nicht  ge- 
kannt und  seine  Entwicklung  nicht  verfolgt  hatte,  ihn 
für  einen  in  jeder  Beziehung  gemässigten  Menseben 
halten  musste.  Mit  sechzehn  Jahren  schickte  man  ihn 
mit  seinem  älteren  Bruder  und  einem  Mentor  auf  Rei- 
sen. Er  war  geschickt  und  klug  genug,  die  Eigenliebe 
seines  älteren  Bruders  zu  schonen,  indem  er  ihm  in 
allem  nachzugeben  schien,  was  jedoch  den  Bruder,  der 
heute  Kanzler  von  Litauen  ist,  nicht  hinderte,  oft  eifer- 
süchtig zu  sein,  obwohl  er  sein  ganzes  Leben  hindurch 
die  Vorrechte  der  Geburt  sich  oft  zunutze  machte. 

5*  67 


Bald  trennten  sie  sich.  Der  jüngere  blieb  auf  Malta, 
nahm  dasKreuz  und  begann  ein  abenteuerliches  Leben 
auf  den  Galeeren  des  Ordens.  Einige  Jahre  später  trat 
er  in  österreichischen  Dienst,  machte  einige  Kam- 
pagnen mit,  unter  anderen  auch  die  denkwürdige 
Schlacht  von  Belgrad  im  Jahre  1 7 1 8,  die  Prinz  Eugen 
gewann.  Im  österreichischen  Dienste  befreundete  er 
sich  sehr  mit  dem  berühmten  Guido  Starhemberg 
und  den  Generälen  de  Merci  und  de  Bonneval.  Alle 
angesehenen  Frauen  und  Männer  Wiens  schätzten 
und  distinguierten  ihn,  nur  gerade  Prinz  Eugen  nicht, 
denn  er  hatte  nähere  Beziehungen  zu  einer  Anzahl 
von  Leuten,  die  der  Prinz  nicht  mochte;  dem  Prinzen 
Eugen  ging  es  übrigens  wie  so  vielen  anderen  be- 
rühmten Kriegern  aller  Jahrhunderte,  die,  sobald  sie 
nicht  Krieg  führten,  dem  öffentlichen  Tadel  manchen 
Vorwand  boten.  Guido  Starhemberg,  sein  Rivale  um 
den  Ruhm  im  Dienste  der  letzten  Kaiser  aus  dem 
Hause  Osterreich,  und  noch  mancher  andere  bestritt 
ihm  das  Verdienst  einiger  Kriegstaten,  bei  denen  in 
Wirklichkeit  vielleicht  nur  sein  Glück  ihm  beigestan- 
den haben  mag.  Übrigens  schien  die  Gräfin  Bathiany, 
eine  ältere,  weder  schöne  noch  kluge  aber  sehr  eigen- 
nützige Frau,  nicht  die  geeignete  Persönlichkeit  zu 
sein,  der  der  Held  des  Jahrhunderts  jeden  Winter 
seine  Lorbeeren  zu  Füssen  legen  durfte. 

Ein  geistig  höherstehender  Mensch  fühlt  sich  leicht 
versucht,  gegen  das  blendende  Ansehen,  das  der  grossen 
Masse  imponiert,  anzukämpfen,  gegen  einen  Ruhm, 
der  ihm  in  so  manchen  Beziehungen  ungerechtfertigt 
erscheint;  solches  war  beim  Fürsten  Czartoryski  dem 
Prinzen  Eugen  gegenüber  der  Fall;  das  versperrte  ihm 
auch  die  Karriere,  die  er  in  jenem  Lande  hätte  machen 

68 


können ;  nach  mehreren  Jahren  militärischen  Dienstes 
konnte  er  nicht  über  den  Grad  eines  Oberstleutnants 
hinauskommen. 

Prinz  Eugen  verzieh  niemandem,  der  sich  vor  ihm 
nicht  beugte.  Trotzdem  wäre  der  Fürst  Czartoryski 
wahrscheinlich  in  Österreich  geblieben,  hätte  nicht 
während  der  Reisen,  die  er  von  Zeit  zu  Zeit  unter- 
nahm, um  seine  Familie  in  Polen  zu  besuchen,  meine 
Mutter,  die  er  grenzenlos  zu  lieben  schien,  mehr  noch 
als  alle  seine  Verwandten  sich  die  grösste  Mühe  ge- 
geben, ihn  dem  Dienst  seiner  Heimat  zurückzuge- 
winnen, deren  Sitten,  deren  Regierung  und  deren  ganze 
Lage  ihm  fast  ebenso  fremd  wie  verhasst  geworden 
waren;  er  glaubte  nicht,  sich  je  darin  hervortun  zu 
können.  Mein  Vater,  der  von  August  II.  sehr  favori- 
siert wurde,  bot  ihm  seine  Hilfe  an  und  unterstützte 
ihn  in  jeder  Beziehung ;  dashätte  jedoch,  wie  ich  glaube, 
nicht  genügt,  seinen  Blick  Polen  wieder  zuzuwenden, 
hätte  ihn  nicht  die  Hoffnung  erfüllt,  die  junge  Witwe 
Denhoff,  die  Woiwodin  von  Polock,  zu  heiraten,  die 
einzige  Erbin  des  Sieniawskischen  Geschlechts  und 
dessen  immenser  Reichtümer,  dabei  schön,  liebens- 
würdig und  in  ganz  Polen  sehr  umworben. 

Ein  Potocki,  damals  Starost  von  Beiz,  heute  Woi- 
wode  von  Kiew,  war  einer  seiner  Rivalen,  und  das  gab 
den  Grund  zu  ihrer  gegenseitigen  dauernden  Feind- 
schaft. Nach  dem  Tode  Branickis  gehörte  eine  Zeit- 
lang auch  mein  Schwager,  mit  dem  mein  Onkel  zu- 
fällig in  Wien  ein  Renkontre  hatte,  zu  den  Bewerbern 
um  die  schöne  Witwe.  Ein  Tarlo,  damals  Starost  von 
St^zyca,  suchte  persönlichen  Streit  mit  meinem  Onkel; 
als  der  Gegner  seine  beide  Schüsse  abgegeben  hatte, 
begnügte  sich  mein  Onkel,  ohne  seine  Schüsse  abzu- 

69 


geben,  ihn  zu  fragen,  mit  was  er  ihm  noch  dienen 
könne.  Dieser  Charakterzug  machte  auf  die  Witwe 
Eindruck;  aber  erst  nach  drei  Jahren  oft  verzweifelter 
Werbung  gelang  es  endlich  meinem  Onkel,  die  Wahl 
seiner  Dame  auf  sich  zu  lenken;  er  wurde  hierin,  wie 
noch  in  vielen  anderen  Dingen,  durch  die  fortgesetzten 
und  geschickten  Bemühungen  meiner  Eltern  bei  der 
Witwe  ausserordentlich  unterstützt. 

Fast  gleichzeitig  wurden  die  Woiwodschaften  von 
Ruthenien  und  Masowien  frei;  mein  Vater  überliess 
seinem  Schwager  die  Wahl,  welche  August  II.  ihm 
selbst  zugedacht  hatte.  Fürst  Czartoryski  wählte 
Ruthenien,  mein  Vater  nahm  Masowien;  kurz  vorher 
hatte  er  mit  Einwilligung  des  Königs  ihm  das  Garde- 
regiment unter  der  Bedingung  überlassen,  dass  er  es 
dem  ältesten  Sohne  meines  Vaters  zurückerstatten 
würde,  wenn  dieser  zu  Jahren  käme.  Sie  einigten  sich 
ausserdem  über  ein  pekuniäres  Abkommen,  das  für 
meinen  Vater  sehr  bescheiden  ausfiel;  all  diese  Ab- 
machungen wurden  nur  mündlich  getroffen;  zwanzig 
Jahre  später  bestritt  sie  der  Fürst- Woiwode  fast  in  allen 
Punkten;  meine  Mutter  empfand  dies  bis  zu  ihrem 
Tode  als  eine  tiefe  Kränkung,  die  sie  selbst  zwar  ver- 
dammte, jedoch  nicht  bezähmen  konnte,  und  zwar 
deshalb,  weil  sie  sich  (trotz  ihrer  Klugheit)  eine  wenn 
man  so  sagen  kann  übermenschliche  Vorstellung  von 
dem  Charakter  ihres  Bruders  gemacht  hatte,  der,  sobald 
sein  Glück  durch  die  Heirat  gesichert  war,  zunächst 
nicht  mehr  das  bis  dahin  meiner  Mutter  bewiesene 
grenzenlose  Vertrauen  zeigte.  Dennoch  verständigte 
er  sich  auch  ferner  lange  Zeit  mit  ihr  bei  den  Fami- 
lien- und  Parteiberatungen  über  alle  Entschlüsse  und 
alle  Schritte,  die  zu  unternehmen  waren. 

7° 


Kurze  Zeit  darauf  nötigte  ihn  der  Tod  Augusts  II. 
und  dessen  Folgen,  ebenso  wie  auch  meine  ganze  Fa- 
milie, nach  Danzig  zu  ziehen;  dort  wäre  er  beinahe 
an  einer  Krankheit  gestorben,  die  seine  Gesundheit  für 
sein  ganzes  weiteres  Leben  schwächte.  Als  in  Polen 
wieder  Ruhe  einkehrte,  wurde  es  scheinbar  die  grösste 
Sorge  des  Woiwoden  von  Ruthenien,  auf  den  immen- 
sen Gütern,  welche  seine  Frau  ihm  zugebracht  hatte, 
die  Ordnung  wiederherzustellen;  es  gelang  ihm  so 
gut,  dass  es  hiess,  er  hätte  ihren  Ertrag  verdoppelt, 
nachdem  er  eine  Million  Dukaten  Schulden  zurück- 
gezahlt, mit  denen  sie  belastet  waren. 

Je  mehr  er  nur  damit  beschäftigt  zu  sein  schien, 
um  so  weniger  beunruhigten  sich  die  Potockis  und  der 
Hof  über  seine  Politik.  Sein  Hang  zur  Bequemlichkeit, 
seine  wirklich  grosse  Faulheit,  die  er  noch  zu  über- 
treiben beliebte,  liessen  glauben,  dass  er  die  Bestre- 
bungen um  die  sarmatische  Popularität  hasste  und 
dass  er,  wenn  er  sich  um  einen  Landtag  oder  um  die 
Zusammensetzung  eines  Tribunals  oder  um  die  Ver- 
handlungen eines  Reichstages  kümmerte,  es  nicht  aus 
INeigung  und  nicht  aus  Ehrgeiz  tat,  sondern  weil  er 
in  seiner  Stellung  unbedingt  daran  teilnehmen  musste; 
er  verstand  es  immer,  sich  um  Dinge  bitten  zu  lassen, 
die  er  im  Grunde  genommen  selbst  am  meisten  her- 
beizuführenwünschte. Seine  Vorsicht  bei  allen  Reden, 
seine  Geschicklichkeit,  die  er  sorgfältig  zu  verbergen 
wusste,  und  die  Überlegung,  welche  jedem  seiner 
Schritte,  auch  denen,  die  er  als  die  natürlichsten  hin- 
stellen wollte,  voranging,  bekräftigten  so  sehr  die  Mei- 
nung von  seiner  Weisheit,  Milde  und  Rechtschaffen- 
heit, dass  vor  seinen  Wünschen  oft  die  unangenehmsten 
Hindernisse  dahinsanken,  und  oft  verstand  er  die  hart- 


nackigsten  Gegner  meiner  Familie  und  seiner  Interessen 
zu  bereden,  dass  sie  zugunsten  seiner  Person,  wegen 
seiner  allgemein  anerkannten  Mässigung,  besondere 
Ausnahmen  machen  müssten,  während  dem  Fürst- 
Kanzler,  seinem  Bruder,  all  das  zugeschrieben  wurde, 
was  die  Gegner  und  die  Rivalen  meiner  Familie  am 
meisten  verletzte;  in  Wirklichkeit  befolgte  jedoch  der 
Woiwode  von  Ruthenien  weit  mehr  die  Maximen  der 
Herrschsucht  und  des  Egoismus  als  seine  Verwandten, 
und  zwar  jedesmal,  wenn  er  des  Erfolges  sicher  sein 
und  die  Hand,  die  den  Schlag  geführt,  verdecken 
konnte. 

Im  Grunde  genommen  liebt  er  es  nicht  zu  geben ; 
alles,  was  nur  im  geringsten  sein  Eigentum  berührt, 
verletzt  ihn  so  empfindlich,  dass  es  ihm  schwer  fällt, 
bei  solcher  Gelegenheit  die  Maske  der  Mässigung  zu 
bewahren;  indessen  muss  zugegeben  werden,  dass  er 
der  Herr  seines  Geldes  ist  und  sich  nicht  von  ihm  be- 
herrschen lässt;  er  versteht  es  zu  geben,  er  gibt  so- 
gar oft  und  ganz  im  Geheimen,  aber  niemals  aus 
Freude  am  Geben;  dieses  Gefühl  ist  ihm  fremd,  stets 
tut  er  es  zu  einem  ihm  naheliegenden  Zweck,  obwohl 
er  den  Glauben  zu  erwecken  versteht,  er  tue  es  aus 
Mitleid,  aus  Achtung  oder  aus  Zärtlichkeit.  Hätte  ich 
nicht  mehrere  Jahre  hintereinander  in  der  intimsten 
Familiarität  mit  ihm  gelebt,  so  hätte  ich,  wie  eben  auch 
viele  andere,  in  ihm  nur  die  ruhigste  Seele  gesehen, 
die  hoch  über  den  kleinen  Leidenschaften  und  mensch- 
lichen Irrungen  der  Allgemeinheit  stand,  eine  fast 
unfehlbare  Gerechtigkeit  des  Geistes,  weit  verzweigte 
Kenntnisse  auf  jedem  Gebiet,  eine  präzise,  vornehme 
Rede,  das  Talent,  bei  der  Mehrzahl  derer,  die  er  be- 
herrschen will,  sozusagen  jeden  Zweifel  zu  verscheu- 

72 


■■- 
■— 


i  hen  und  sie  zu  entzücken,  indem  er  sich  fast  nie 
einen  boshaften  Spott,  ja  in  der  Öffentlichkeit  nicht 
einmal  ein  Urteil  erlaubt:  der  Leser  wird  Gelegen- 
heit haben,  im  Verlauf  der  Erzählung  mit  mir  zu  er- 
fahren, inwiefern  er  in  Wirklichkeit  diesem  Bilde 
der  Vollkommenheit  nicht  entsprach. 

Bis  zum  Jahre  17D2  ungefähr  hatte  sich  meine 
Familie  in  den  Angelegenheiten  des  Landes  durch 
eine  Art  Rat  leiten  lassen,  in  dem  die  Verschieden- 
heit der  Charaktere  seiner  Mitglieder  durch  still- 
schweigende Übereinkunft  die  Rollen  folgendermassen 
verteilt  hatte. 

Der  Fürst-Kanzler,  der  redseligste  unter  ihnen,  der 
grösste  Publizist  im  Lande,  der  auch  über  die  frucht- 
barste Phantasie  verfügte,  ergriff  für  gewöhnlich  als 
Erster  das  Wort  und  beleuchtete  alle  Seiten  der  Frage; 
einige  erwählte  und  zum  Rat  zugelassene  Freunde  dis- 
kutierten darüber;  die  Entscheidung  fällten  gewöhn- 
lich meine  Mutter  und  der  Woiwode  von  Ruthenien, 
und  der  Vollzug  fiel  fast  immer  meinem  Vater  zu,  der 
aufrichtiger,  herzlicher,  heiterer,  tätiger,  kräftiger  und 
freigebiger  war  als  die  anderen,  auch  beliebter  und 
populärer  als  sie.  Seioe  Meinung  entschied  nur  in 
unvorhergesehenen  und  dringenden  Fällen;  da  konnte 
niemand  einen  so  raschen  und  glücklichen  Entschluss 
fassen  wie  er,  und  so  riss  er  denn  alle  mit  sich  fort. 

So  war  es  bis  zu  seinem  76.  Lebensjahr,  von  da  ab 
liessen  seine  Kräfte  nach,  und  seit  dem  Jahre  1762 
begann  er  allmählich  sich  von  den  Geschäften  zurück- 
zuziehen, während  seine  beiden  Schwäger,  die  in- 
zwischen ihr  Ansehen  gefestigt  und  sich  eine  grosse 
Zahl  anhänglicher  Kreaturen  verschafft  hatten,  nun- 
mehr kein  Hehl  daraus  machten,  dass  sie  seiner  nicht 

"3 


mehr  bedurften.  Meine  Mutter  dagegen,  die  aus  ver- 
schiedenen Gründen  gegen  sie  verbittert  war,  wid- 
mete sich  von  nun  an  fast  ausschliesslich  der  Pflege 
ihrer  Mutter,  der  Kastellanin  von  Wilno,  und  der 
Erziehung  ihrer  Kinder,  die  sie  geeigneten  Karrieren 
zuzuführen  trachtete;  sie  selbst  zog  sich  jetzt  noch 
mehr  als  bisher  von  der  Bühne  der  grossen  Welt  zurück. 

Kurz  nach  meiner  Rückkehr  ging  ich  nach  Radom, 
um  mein  Amt  als  Kommissar  der  Woiwodschaft  von 
Masowien  in  jenem  Dikasterium  zu  übernehmen,  das 
unter  der  Regierung  Augusts  II.  durch  eine  sonder- 
bare Verbindung  der  heterogensten  Ideen  für  gewisse 
Dinge  gegründet  worden  war,  für  welche  später,  im 
Jahre  1764,  zwei  besondere  Kommissionen  eingerich- 
tet wurden,  die  Schatz-  und  die  Kriegskominission. 
In  Wirklichkeit  beschränkte  die  Kommission  von  Ra- 
dom durchaus  nicht  das  Übermass  der  Macht  der 
Grossschatzmeister  noch  der  Grosshetmans,  befreite 
sie  nur  von  einem  beschwerlichen  Teil  ihres  Amtes.  Da 
jedoch  die  Art  der  Plaidoyers  und  die  ganze  Gerichts- 
prozedur jener  des  Tribunals  der  Krone  völlig  gleich 
war  und  das  Amt  sich  nur  auf  sechs  Wochen  erstreckte, 
sah  man  es  gerne,  wenn  jene  Jünglinge,  die  zu  Staats- 
geschäften ausersehen  waren,  dort  ihre  Lehrzeit  in 
der  Judikatur  und  gleichzeitig  auch  in  der  Populari- 
tät durchmachten. 

Nirgends  in  Polen  machte  man  mehr  Bücklinge, 
nirgends  trank  man  mehr;  hier  war  ich  wohl  glück- 
lich, dass  es  allgemein  bekannt  war,  dass  ich  noch  nie 
puren  Wein  gekostet;  ich  blieb  nüchtern,  war  aber 
infolgedessen  auch  ein  teilnahmsloser  und  gelangweil- 
ter Zeuge  der  übermässigen  Betrunkenheit.  Doch 
war   nicht   sie  die  Ursache   eines   Streites  zwischen 

?4 


Rudzieriski,  dem  Kastellan  von  Czersk,  damaligem 
Marschall  der  Kommission,  und  Kossowski,  Sehatz- 
meister des  Hofes,  dem  ersten  Kommissär  der  Armee; 
der  Streit  drohte  hald  sehr  ernsthaft  zu  werden.  Die 
beiden  Gegner  waren  intime  Freunde  meiner  Familie, 
ich  geriet  dadurch  in  grosse  Verlegenheit,  um  so  mehr, 
als  ich  ohne  mein  Verschulden  die  Ursache  des  Strei- 
tes war. 

Dem  Brauch  gemäss  sollte  diese  Kommission  eine 
Deputation  an  den  König  absenden;  diese  sollte  aus 
zwei  Mitgliedern  bestehen,  deren  Erster  im  Rang  ein 
Kleinpole  sein  musste.  Rzewuski,  damals  Kommissar 
der  ruthenischen  Woiwodschaft,  wurde  vom  Mar- 
schall Rudzieriski,  dem  die  Entscheidung  zufiel,  er- 
nannt; den  zweiten  Platz  hatte  er  für  die  Provinz 
Grosspolen  bestimmt,  und  zwar  ernannte  er  seinen 
Neffen  Karczewski,  damals  Starost  von  Budziszew,  der 
mein  jüngerer  Kollege  für  Masowien  war.  Kossowski 
meinte,  ich  dürfte  mir  nicht  die  Gelegenheit  entgehen 
lassen,  mich  mit  einem  öffentlichen  Amt  betraut  dem 
Könige  vorzustellen,  und  er  forderte  es  mit  solcher 
Heftigkeit,  dass  der  Marschall  Rudzieriski  sich  be- 
leidigt fühlte.  Ich  hielt  es  für  meine  Pflicht,  das  Wort 
zu  ergreifen,  um  sie  zu  besänftigen;  ich  bat  selbst 
Rudzieriski,  er  solle  auf  der  Wahl  seines  Neffen  be- 
stehen; der  Bischof  von  Kiakau  Zaluski,  der  in  je- 
nem Jahre  das  Präsidium  in  Radom  führte,  half  mir 
sie  zu  versöhnen. 

Die  Deputation  hielt  ihre  Ansprache  an  den  König 
in  Fraustadt,  wohin  er  in  den  Jahren  des  Reichstags 
kam,  um  die  Universalien  ')  zu  unterschreiben,  welche 
laut  der  Vorschrift  des  Gesetzes  auf  polnischer  Erde 
*)  Siehe  Anm.  *)  Seite  52. 


unterzeichnet  werden  müssen.  Von  Dresden  gelangte 
der  König  in  dreissig  Stunden  dorthin,  verweilte  nur 
so  lange  als  nötig  war,  um  die  Universalien  zu  unter- 
zeichnen, und  kehrte  sofort  nach  Dresden  zurück; 
nach  Warschau  kam  er  möglichst  kurz  vor  dem  Zeit- 
punkt des  ordentlichen  Reichstags1).  Seinen  Aufent- 
halt in  Fraustadt  verlängerte  er  nur  dann  um  eiuige 
Tage,  wenn  die  Umstände  ein  Senatus  Consilium  oder 
irgend  eine  orientalische  Mission  herbeiführten;  nur 
in  Sachsen  fühlte  er  sich  zu  Hause;  er  vermochte  es 
sich  nicht  einmal  vorzustellen,  dass  er  in  seinem 
Königreiche  wohnen  könnte.  Bei  Gelegenheit  seiner 
Anwesenheit  in  Polen  (das  Gesetz  untersagte  ihm, 
ausserhalb  des  Landes  andere  Würden  als  militärische 
zu  erteilen)  unterzeichnete  er  diesmal,  nach  dem  Tode 
des  Grosshetmans  Potocki,  für  meinen  Vater  das  Pri- 
vilegium eines  Kastellans  von  Krakau;  ich  hatte  das 
Vergnügen,  es  meinem  Vater  zu  überbringen,  denn 
er  hatte  sich  nicht  nach  Fraustadt  begeben. 

Mein  Schwager  Branicki  wurde  Grosshetman  nach 
Potocki,  undRzewuski, damals  WoiwodevonPodolien, 
heute  von  Krakau,  erhielt  den  kleinen  Hetmansstab. 
*)  Anm.  des  Königs:  Er  fiel  auf  den  ersten  Montag  nach 
Michaeli ;  die  Landtage  müssen  ihm  um  sechs  Wochen  voran- 
gehen, und  die  Universalien  müssen  wieder  den  Landtagen 
um  sechs  Wochen  vorangehen;  solchermassen  hätte  der  König 
bereits  Ende  Juni  in  Warschau  sein  müssen,  und  diese  Zeit 
wäre  ihm  verloren  erschienen;  gewöhnlich  kam  er  erst  im 
August,  und  zu  Weihnachten  war  er  bereits  wieder  in  Sachsen, 
von  wo  er  erst  achtzehn  Monate  später  wieder  nach  Polen  zu- 
rückkehrte; er  erfüllte  gerade  das  Gegenteil  der  Pacta  Con- 
venta,  durch  die  er  sich  verpflichtet  hatte,  innerhalb  zwei 
.lahren  nur  sechs  Monate  in  .Sachsen  und  achtzehn  Monate  in 
Polen  zu  verbringen. 

76 


Bald  nach  meinem  Ausflug  nach  Fraustadt  musste 
man  an  den  Landtag  denken,  und  das  war  in  jenen 
Zeiten  keine  leichte  Sache;  um  Landnöte  zu  werden, 
genügte  es  nicht,  in  einem  Bezirk  viele  Freunde  zu 
haben,  man  durfte  auch  auf  niemanden  stossen,  der 
der  Wahl  opponiert  hätte;  man  verheimlichte  seinen 
Weg,  man  verriet  nicht  den  Ort,  wo  man  sich  wäh- 
len lassen  wollte,  um  zu  verhindern,  dass  ein  persön- 
licher Feind  oder  ein  Rivale  der  anderen  Partei  Ein- 
spruch erheben  könnte. 

Mein  Vater  hatte  im  Gebiet  von  Lomza  einen 
Freund  namens  Glinka,  damals  Schreiber  jenes  Di- 
strikts1). Diesem  Mann,  der  alle  Manöver  der  Land- 
tage beherrschte  und  in  seiner  Art  und  in  dem  Be- 
zirk, wo  er  wohnte,  umsichtig  und  listig  war,  wurde 
ich  empfohlen,  anvertraut  und  überlassen,  um  Land- 
bote zu  werden.  Es  war  damals  in  Wirklichkeit  be- 
deutend trauriger  als  verdienstvoll,  sich  um  dieses 
öffentliche  Amt  zu  bewerben;  man  wusste  im  voraus, 
dass  kein  Reichstag  zustande  kommen  würde,  dass  der 
König  sich  nicht  darum  kümmerte,  sein  Günstling 
noch  weniger  und  die  meisten  polnischen  Minister 
fast  ebenso  wenig;  und  selbst  wenn  sie  alle  es  wirk- 
lich angestrebt  hätten,  wäre  die  Sache  dennoch  fast 
unmöglich  gewesen,  denn  die  Nachbarmächte  waren 
bemüht,  das  Zustandekommen  des  Reichstags  zu  ver- 
hindern, und  das  fatale  und  törichte  liberum  veto*) 
kam  ihnen  dabei  ausserordentlich  zu  Hilfe. 

*)  Anm.  des  Königs:  Ich  Labe  ihn  zum  Kanzler  von  Lomza 
gemacht.  Er  ist  vor  kurzem  gestorben,  es  ist  derselbe,  der 
i  749  gegen  den  Missbrauch  der  Militärgewalt  gesprochen  hat. 
2J  Das  libei-um  veto  entsprang  dem  Prinzip  der  Einstimmigkeit, 
wonach  im  Gesetz  nur  durch  einstimmigen  Beschluss  der  Land- 

77 


Um  nun  dieses  überflüssige  Amt  eines  Landboten 
zu  erlangen,  dessen  winziger  Erfolg  besten  Falles  nur 
in  der  Opposition  gegen  einen  wirklich  gefährlichen 
Vorteil,  den  der  Hof  sich  hätte  zufällig  erringen 
wollen,  bestehen  konnte  oder  darin,  dass  man  be- 
kannt wurde,  sich  an  die  Vertretung  der  Öffentlich- 
keit gewöhnte,  in  den  nationalen  Angelegenheiten 
(oder  solchen,  die  dafür  gehalten  wurden)  bewandert 
wurde  und  schliesslich  sich  die  Wege  zu  den  Stellen 
bahnen  konnte,  auf  denen  man  wenigstens  eines 
Tages  tatsächlich  Gutes  wirken  konnte,  —  um  dieses 
erbärmliche  Amt  zu  erlangen,  musste  man  alle  zwei 
Jahre  einigen  hundert  Männern  den  Hof  machen, 
die  zufolge  ihrer  Geburt  zwar  das  Recht  hatten,  sich 
Edelleute  und  Bodenbesitzer  dieses  oderjenes  Distrikts 
zu  nennen,  von  denen  jedoch  kaum  die  Hälfte  lesen 
konnte;  und  von  diesen  dienten  (oder  hatten  gedient) 
die  meisten  in  den  Häusern  dieser  selben  Magnaten, 
die  jetzt  ihre  Stimmen  für  sich  oder  ihre  Kinder  ein- 
sammelten. Während  einiger  Tage  vor  dem  Landtag 
musste  man  vom  frühen  Morgen  bis  zum  späten 
Abend  mit  dieser  Menge  räsonieren,  ihr  Geschwätz 
bewundern,  über  ihre  schlechten  und  guten  Witze  ent- 
zückt scheinen  und  zum  Überfluss  noch  unausge- 
setzt diese  schmutzigen  und  lausigen  Gestalten  um- 
armen. Zur  Auffrischung  musste  man  noch  zehn-  bis 
zwölfmal  am  Tage  mit  den  einflussreichsten  Män- 
nern des  Bezirks  konferieren,  das  heisst  unter  gröss- 
ter  Geheimnistuerei    sich   die   Details   ihrer   kleinen 

boten,  des  Senats  und  Zustimmung  des  Königs  Zustandekom- 
men konnte.  Der  Widerspruch  eines  Einzelnen  löste  den 
Reichstag  auf  und  hob  alle  am  h  einstimmig  in  der  Session 
gefassten  Beschlüsse  auf.    Anm.  d.  Herausg. 

73 


häuslichen  Zänkereien  anhören,  die  gegenseitigen 
Eifersüchteleien  berücksichtigen,  bei  ihrer  Ernennung 
zu  den  Ämtern  des  Distrikts  vermitteln,  sich  mit 
ihnen  beraten,  wie  viel  und  wem  von  diesen  sehr 
edlen  Wählern  man  bares  Geld  in  die  Hand  drücken 
müsste,  hierauf  mit  ihnen  frühstücken,  dinieren,  sou- 
pieren, und  zwar  an  ebenso  unsauberen  wie  schlecht 
bestellten  Tafeln,  —  das  alles,  um  gar  oft  die  Frucht 
all  dieser  Bücklinge,  dieser  Kosten  und  dieser  Geduld 
in  einem  Augenblick  durch  irgend  einen  im  Dienste 
des  Gegners  stehenden  Tölpel  vernichtet  zu  sehen, 
oft  auch  durch  die  persönliche  Abneigung  eines 
Menschen  gegen  deinen  Kollegen,  der  dir  im  Land- 
tag zugewiesen  wurde,  oder  gegen  einen  der  Haupt- 
würdenträger des  Bezirks,  der  für  dich  agitiert  hat 
und  dem  er  dadurch  die  Berufung  an  den  Hof  zu 
hintertreiben  versucht,  indem  es  bekannt  ist,  dass 
der  Magnaten  söhn,  der  als  Landbote  kandidiert,  als 
Lohn  für  den  gewährten  Beistand  beim  Landtag  sich 
dieser  Beförderung  annehmen  muss. 

Glinka  nahm  mich  unter  grossen  Freuden-  und 
Respektsbezeugungen  in  seinem  Hause  auf,  hielt  je- 
den Morgen  und  jeden  Abend  eine  Ansprache  an 
mich,  um  mir  zu  sagen,  dass  er  „der  glücklichste 
aller  Menschen  sei,  weil  er  in  meiner  Person  ein 
köstliches  Kleinod  besitze,  das  der  Bezirk  von  Lomza 
unbedingt  in  die  wertvolle  Fassung  der  Landboten- 
schaft  bringen  müsse,  um  auf  dem  nächsten  Reichs- 
tag den  ganzen  sarmatischen  Horizont  zu  erleuchten". 

Diesen  ärmlichen  Tiraden  musste  ich  ungefähr  im 
gleichen  Stil  erwidern,  wohl  an  die  zwei-  bis  drei- 
hundert Mal  während  der  acht  Tage,  da  Herr  Glinka 
mich  in  seinem  Besitz  hatte  und   in  seinem  Bezirk 

79 


von  Tür  zu  Tür  führte,  um  die  Zusagen  aller  Wähler 
einzusammeln.  Endlich  war  ich  Landbote  unanimovoto, 
zusammen  mit  dem  wStarosten  des  Ortes,  Przymieski. 

Darauf  führte  mich  Glinka  in  das  Haus  des  Sta- 
rosten von  Makow;  das  war  mein  härtester  Tag.  Der 
alte,  gichtische,  unbewegliche  Starost  lebte  nur  beim 
Trinken  auf;  seine  Frau  war  der  Gegenstand  der 
heissesten  Wünsche  meines  Herrn  Glinka,  der,  selbst 
Writwer,  hoffte,  dass  auch  sie  bald  verwitwet  sein 
würde;  in  der  Zwischenzeit  hatte  er  seine  Tochter 
aus  erster  Ehe  bei  ihr  untergebracht,  ein  achtzehn- 
jähriges, fettes,  rosiges  Mädchen,  eine  wirkliche 
„Kunigunde",  die,  nebenbei  erwähnt,  an  dem  sehr 
heissen  Augusttag  ein  schönes  Kleid  aus  schwarzem 
Samt  mit  rosa  Plüschbesatz  angezogen  hatte. 

Glinka  schlug  den  beiden  Damen  einen  Ball  vor, 
mit  uns  zwei  Paaren  als  Quadrille  und  dem  alten 
Gatten  als  Zuschauer.  Der  Tanzplatz  war  eine  Art 
hölzerner  Säulenhalle,  zwölf  Fuss  im  Quadrat,  von 
vier  Pfeilern  getragen,  wo  die  Familie  vor  der  Tür 
des  Hauses  auf  den  halb  verfaulten  Brettern  Luft  zu 
schöpfen  pflegte.  Der  Starost  setzte  sich  in  eine  Ecke, 
eine  verstimmte  Violine  besetzte  die  andere  Ecke, 
Glinka  und  ich,  wir  tanzten  abwechselnd  mit  den  Da- 
men, von  abends  sechs  bis  morgens  sechs.  Nach  jedem 
Tanz  leerte  Glinka  ein  volles  Glas  bis  zur  Nagelprobe 
auf  das  Wohl  des  Starosten,  der  alte  Starost  kam  ihm 
getreulich  nach,  stets  auf  mein  Wohl,  uud  da  ich 
nicht  trank,  verbeugte  ich  mich  vor  ihm. 

Nein,  hätte  ich  es  nicht  mit  eigenen  Augen  gesehen, 
ich  hätte  es  nicht  für  möglich  gehalten.  Der  Zeiger 
machte  die  Runde,  und  Glinka  hörte  nicht  auf  zu 
tanzen  und  zu  trinken;  dreimal  jedoch  verringerte 


er  bereits  den  Umfang  seiner  Toilette,  bat  mich  aber 
jedesmal  ganz  demütig  um  Entschuldigung;  zuerst 
legte  er  seinen  Gürtel  ab,  dann  seinen  Rock,  dann 
seinen  Zupan  oder  die  Weste;  schliesslich  war  er  im 
Hemd,  und  nun  legte  er  zum  Akkompagnement  sei- 
ner weiten  polnischen  Hosen  und  seines  kahlen  Kop- 
fes den  Frisiermantel  der  Dame  des  Hauses  an,  die  die- 
ser artigen  Possierlichkeit  Beifall  klatschte.  Um  sechs 
Uhr  morgens  bat  ich  um  Gnade;  nur  mit  Mühe  ge- 
laug es  mir,  die  Erlaubnis  zu  erhalten,  mich  in  ein 
anderes  Zimmer  zurückzuziehen;  kaum  hatte  ich 
mein  Hemd  gewechselt,  da  überfiel  mich  von  neuem 
die  Dame  des  Hauses  mit  meinem  Führer  und  dessen 
Tochter;  beinahe  kniefällig  bat  ich,  mich  wenigstens 
aufatmen  zu  lassen,  und  bekam  endlich  die  Erlaub- 
nis, nach  dem  Diner  nach  Warschau  zurückkehren 
zu  dürfen. 

Ich  war  noch  nicht  über  die  Umzäunung  des  Edel- 
hofes  hinausgekommen,  da  brach  eine  Achse  meines 
Wagens:  jetzt  sah  ich  mich  verloren;  Verzweiflung 
packte  mein  Herz;  doch  Glinka  bot  mir  grossmütig 
seinen  Wagen  an,  nur  allzu  glücklich,  dass  er  einen 
Vorwand  hatte,  bei  seiner  Dame  zu  verweilen. 

Ich  dagegen  verfolgte  meinen  Weg  durch  die 
Tannen  und  den  Sand  dieses  elenden  und  so  ärm- 
lichen Bezirks,  wo  wörtlich  genommen  meine  Pferde 
und  ich  beinahe  verhungert  wären;  ich  nenne  die 
Pferde  zuerst,  denn  die  erste  Frage,  die  mein  Va- 
ter nach  meiner  Rückkehr  an  mich  richtete,  betraf 
sie.  Mein  Vater  hatte  eine  Leidenschaft  für  Pferde ; 
er  hatte  mir  vor  kurzem  ein  Lieblingsgespann  über- 
lassen; als  er  erfuhr,  dass  das  schönste  der  sieben 
Pferde  auf  dieser  traurigen  Pilgerfahrt  eines  plötz- 

6   Poniatowsk i  8  I 


liehen  Todes  gestorben  war,  vergass  er  für  eine 
Viertelstunde,  dass  ich  die  geheiligte  Würde  eines 
Landboten  bekleidete,  um  mir  zu  prophezeien,  aus 
mir  würde  nie  ein  anständiger  Mensch  werden,  da 
ich  nicht  verstand,  ein  Geschenk  zu  hüten,  und  vor 
allem  nicht  verstand,  solche  hervorragende  Pferde 
zu  schonen,  deren  Verdienst,  edle  Abstammung  und 
alle  besonderen  Tugenden  mir  in  jenem  Augenblick 
vorgehalten  wurden;  es  war  eine  unangenehme  Vier- 
telstunde, aber  schliesslich  war  ich  weit  von  Lomza, 
schon  hatte  mich  Herr  Glinka  nicht  mehr  unter  sei- 
ner Fuchtel  und  ich  war  glücklich;  denn  das  Böse, 
das  vorbei  ist,  wandelt  sich  in  Gutes. 


8-i 


VIERTES    KAPITEL 

DURCHREISE  DES  KÖNIGS  IN  BIALYSTOK  IM 
JAHRE  1752.  —  JAGD  AUF  AUEROCHSEN.  —  DAS 
ABENTEUER  VON  CHOROSZCZA.  —  REICHSTAG 
VON  GRODNO  1  752.  —  BESCHREIBUNG  DES  LE- 
BENS IN  GRODNO.  —  BESCHREIBUNG  DES  HAUSES 
RADZ1WILL.  —  HEIRAT  DES  GENERALWACHT- 
MEISTERS PRINZEN  LUBOMIRSKI.  —  UMRISSE 
DES  PORTRÄTS  DER  GROSSMARSCHALLIN.  — 
MEINE  ABREISE  IM  JAHRE  i753.  —  ICH  NEHME 
DIE  PRZE.MYSlER  STAROSTEI  AN.  —  DDRCHREISE 
DURCH  UNGARN.  —  ZWEITER  AUFENTHALT  IN 
WIEN.  —  FLEMM1NG,  KAYSERLING,  WILLIAMS.  — 
KRANKHEIT  DES  LETZTEREN.  —  ANKUNFT  UND 
PORTRÄT  DES  FÜRSTEN  KAÜNITZ.  —  PORTRÄT 
MARIA  THERESIAS.—  MEINE  ANKUNFT  IN  SACH- 
SEN. DAS  LAGER  VON  IBICKAU.  —  MEIN  STREIT 
MIT  LICHTENSTEIN.  —  MEINE  REISE  MIT  WIL- 
LIAMS. HANNOVER.  —  IM  HAAG.  —  SIR  YORKE, 
GESANDTER  ENGLANDS.  GRAF  RENTINCK.  FÜRST 
LUDWIG  VON  BBAUNSCHWEIG.  DAS  TRIUMVI- 
RAT. —  DER  GERICHTSSCHREIRER  FAGEL.  DER 
ADMIRAL  SHRYVER.  DIE  REIDEN  BÜBGERMEI- 
STER  HOP  UND  DE  DIEU.  —  KAUDERRACH.  DER 
JUDE  SVASSO.  —  CRÖNING. 


lllllllllllllllIIlllMlllllllllllltlllltllMlllllinUlllllllllllllllllllliMftlllllllll 


Ich  war  kaum  zwei  Wochen  in  Warschau,  da  musste 
ich  schon  an  meine  Reise  nach  Grodno  denken. 

Kurze  Zeit  vor  der  Ankunft  des  Königs  traf  ich  in 
Bialystok  ein.  Man  liest  in  der  Geschichte,  der  Her- 
zog dEpernon  hätte  den  Hof  Ludwigs  XIII.  durch 
die  Pracht  des  Empfanges  entzückt,  den  er  ihm  in 
seinem  Schlosse  Cadillac  bereitete;  der  französische 
Gesandte  Graf  de  Broglie,  der  kurz  vorher  in  Polen 
angekommen  war,  staunte  über  den  Empfang,  den 
der  Grosshetman  Branicki  König  August  III.  in  Biaty- 
stok bereitete. 

Der  König  und  sein  ganzer  Hofstaat  wurden  meh- 
rere Tage  lang  vom  Grosshetman  logiert,  beköstigt 
und  herumgefahren;  unter  anderem  bereitete  er  dem 
König  auch  eine  Festlichkeit  in  Ghoroszcza  ganz  nach 
seinem  Geschmack. 

Eine  Menge  wilder  Tiere  wurde  in  Käfigen  nach 
den  Baumgruppen  dieses  reizenden  Parks  gebracht; 
dort  mussten  sie  auf  schmalen,  von  Seiten  wänden  um- 
schlossenen Bretterstegen  bis  zu  den  Wipfeln  der 
Bäume,  die  den  Kanal  umrahmen,  hinaufsteigen; 
oben  war  eine  Falle,  durch  die  sie  von  einer  Höhe 
von  dreissig  Fuss  ins  Wasser  hinabfielen  und  so  dem 
König  Gelegenheit  gaben,  wenn  er  Lust  hatte  im 
Flug  Wölfe,  Wildschweine  und  Bären  zu  schiessen; 

84 


Jagdhunde  erwarteten  sie  am  Fasse  der  Bäume,  um 
sie  auf  dem  Boden  und  auf  dem  Wasser  zu  verfolgen, 
bis  der  König  zu  sehiessen  geruhte.  Einer  von  diesen 
Bären  traf  auf  ein  Boot  und  kletterte,  um  sich  vor 
den  Hunden  zu  retten,  auf  den  Bug;  ein  junger  Mann, 
Bzewuski  mit  Namen,  ein  Bruder  des  Marschalls  (er 
starb  später  in  Wien),  und  Saul,  der  erste  sächsische 
Beamte  aus  dem  Bureau  der  auswärtigen  Angelegen- 
heiten, drängten  nach  dem  anderen  Ende  des  Bootes, 
zum  Bootsmann,  der  das  Steuer  führte;  das  Boot 
wankte,  überschlug  sich  und  man  sah,  wie  der  Bär 
zum  zweiten  Mal  im  grossen  Bogen  durch  die  Luft 
flog  und  neben  den  Herren  ins  Wasser  fiel,  die  mit 
dem  Schrecken  davonkamen;  über  diesen  Zwischen- 
fall amüsierte  sich  der  König  ausserordentlich. 

Auf  dem  Wege  von  Biaiystok  nach  Grodno,  im 
Forste  von  Bialowiez,  der  zur  Grodnoer  königlichen 
Ökonomie  gehörte,  war  ich  im  Gefolge  des  Königs 
Zeuge  einer  anderen  seltsamen  Jagd,  die  an  keinem 
anderen  Orte  in  Europa  stattfinden  kann,  nämlich 
einer  Jagd  auf  wilde  Stiere  oder  Auerochsen;  in  Eu- 
ropa kommen  sie  ausser  in  diesem  Walde  nur  noch 
im  brandenburgischen  Preussen  vor. 

Über  dreitausend  Bauern  umstellten  den  Wald, 
der  einen  Umfang  von  einigen  Meilen  hat,  und  trie- 
ben eine  ganze  Herde  dieser  Tiere,  an  die  vierzig 
Stück,  nach  einem  mit  Leinwand  umspannten  Ge- 
hege von  ungefähr  vierhundert  Fuss  Durchmesser; 
in  der  Mitte  dieses  Geheges  war  eine  geschützte  Er- 
höhung errichtet,  von  dort  konnte  der  König  gefahr- 
los nach  ihnen  schiessen.  Der  König,  die  Königin 
und  deren  beide  Söhne  Xaver  und  Karl  bedienten 
sich  hierzu  gezogener  Büchsen  von  so  grossem  Kali- 

85 


her,  dass  ich  sah,  wie  einem  der  grössten  Auerochsen 
durch  einen  einzigen  Schuss  beide  Schulterblätter 
durchbohrt  wurden.  Die  Elentiere,  die  auch  getrie- 
ben wurden  und  die  man  mit  denselben  Büchsen 
schoss,  schienen  ein  zäheres  Leben  zuhaben,  obgleich 
den  Auerochsen  eine  fabelhafte  Kraft  zugeschrieben 
wird;  so  wurde  ein  Elentier  von  elf  Kugeln  dieser, 
fürchterlichen  Büchsen  durchbohrt  und  lebte  doch 
noch  zwei  Stunden;  die  Auerochsen  indessen  veren- 
deten viel  rascher,  manchmal  auf  den  ersten  Schuss. 
Ich  wunderte  mich  über  den  Mangel  an  Wildheit  bei 
diesen  Tieren,  die  meisten  von  ihnen  Hessen  sich  vou 
Männern,  die  nur  mit  langen  Stangen  bewaffnet 
waren,  nach  dem  Eingang  des  Geheges  treiben. 

Ein  Elenhirsch  war  der  Held  des  Tages;  er  betrat 
das  Gehege  mit  seinem  Weibchen,  begattete  es  in 
Gegenwart  des  Königs  und  der  Königin,  die  sich 
vergeblich  bemühten,  ihre  Blicke  abzuwenden,  und 
kehrte  heil  und  unversehrt  in  das  Dickicht  des  Wal- 
des zurück,  mitten  durch  die  Schar  der  tausend  Zu- 
schauer, in  deren  Nähe  er  sich  stets  hielt,  so  dass  der 
König  nicht  auf  ihn  schiessen  konnte.  Nach  beende- 
ter Jagd  begab  man  sich  nach  Grodno. 

Dieser  Reichstag  vom  Jahre  1762,  von  dem  sich 
keine  der  hochstehenden  Persönlichkeiten  einen  Er- 
folg erhoffte  noch  einen  solchen  wünschte,  interessierte 
indessen  alle  Parteien  infolge  eines  Umstands:  nach 
dem  Tode  des  Grosskanzlers  von  Litauen  Sapieha  han- 
delte es  sich  nicht  allein  darum,  dessen  Stelle  mit 
dem  Vizekanzler  Prinzen  Czartoryski  zu  besetzen,  es 
musste  auch  noch  die  Stelle  des  letzteren  besetzt 
werden. 

Die    beiden    hauptsächlichsten    Bewerber    waren 

86 


wiederum  zwei  Sapiehas:  der  Woiwode  von  Podle- 
sien,  ein  Schwiegersohn  des  Fürsten  Czartoryski,  und 
der  Woiwode  von  Mscislaw,  den  der  Grosshetman 
Bi  anicki,  die  Radziwills,  die  Potockis  und  alle  unsere 
Gegner  begünstigten;  Mniszech,  Brühls  Schwieger- 
sohn, der  bereits  gegen  uns  arbeitete,  und  der  Ge- 
sandte Frankreichs  agitierten  für  den  Woiwoden 
von  Mscislaw.  Dennoch  blieb  mein  Onkel  Sieger,  in- 
dem er  zum  Grafen  Brühl  ging  und  sagte: 

„Das  Gesetz  verlangt,  dass  die  Siegel  erst  nach  der 
Wahl  des  Reichstagsmarschalls  und  auf  die  Empfeh- 
lung der  Landboten  hin  übergeben  werden;  wenn 
ich  nicht  vorher  das  unterzeichnete  Privileg  für 
meinen  Schwiegersohn  bekomme,  beteuere  ich  Ihnen, 
dass  kein  Marschall  gewählt  wird;  da  es  aber  keinen 
gültigen  Reichstag  ohne  Marschall  gibt,  wird  die 
diesjährige  Reise  des  Königs  nach  Grodno  umsonst 
unternommen  worden  sein  und  wird  ihn  zwei  Jahre 
später  nicht  von  dem  gleichen  Frondienst  entbinden, 
um  dem  Gesetz  Genüge  zu  tun,  das  ja  auch  verlangt, 
nach  zwei  Reichstagen  in  Warschau  müsse  ein  drit- 
ter in  Grodno  abgehalten  werden." 

Das  war  die  furchtbarste  Drohung  für  diesen  säch- 
sischen Hof,  der  sich  schon  nach  Warschau  nur  un- 
willig begab,  für  den  aber  die  Reise  nach  Litauen 
der  Gegenstand  doppelter  Ausgaben,  Beschwerlich- 
keiten und  Verdriesslichkeiten  bildete.  Das  brachte 
dem  Schwiegersohn  des  Fürsten  Czartoryski  die  Sie- 
gel ein;  sein  Vorgehen  bei  dieser  Gelegenheit  war 
sicher  kein  patriotischer  Akt  und  erschien  doch  ent- 
schuldbar in  den  Augen  eines  jeden,  der  an  dem  Zu- 
standekommen dieses  Reichstags  zweifelte;  indessen 
war  auch  die  Wahl  des   Woiwoden   von   Podlesien 

87 


dem  Allgemeinwohl  nützlicher  als  die  seines  Cousins, 
der,  was  persönliche  Qualitäten  anlangte,  weit  unter 
seinem  Mitbewerber  stand. 

Solange  diese  Angelegenheit  im  geheimen  von 
dem  Kabinett  noch  nicht  entschieden  war,  beliess 
man  den  Mitgliedern  des  Reichstags,  die  in  das  Ge- 
heimnis nicht  eingeweiht  waren,  wie  gewöhnlich  die 
Freiheit,  allerlei  Ansprachen  zu  halten,  ohne  Ziel  und 
Zweck,  nur  um  die  Höflinge  zu  unterhalten  und  die 
Zeit  totzuschlagen.  Es  geschah,  dass  ein  gewisser 
Chojecki,  Landbote  der  Kiewer  Woiwodschaft,  von 
der  Partei  der  Potockis,  über  irgend  etwas  eine  An- 
sicht äusserte,  die  mir  unrichtig  schien;  ich  wagte 
zum  erstenmal  öffentlich  und  unvorbereitet  zu  spre- 
chen, um  dieser  Ansicht  entgegenzutreten.  Ich  schien 
das  Recht  auf  meiner  Seite  zu  haben  und  die  Gunst 
des  Tages  bei  der  Versammlung.  Es  kam  zu  keinem 
effektiven  Ergebnis,  immerhin  gewann  ich  dadurch 
Mut  und  wurde  etwas  bekannt,  —  und  das  war  die 
einzige  Frucht  meiner  Bücklinge  in  Lomza. 

Am  nächsten  Tage  wurden  die  Siegel  überreicht 
und  am  übernächsten  sprengte  ein  Landbote  aus 
Rawa,  Morski  mit  Namen,  vom  Hofe  selbst  bestochen, 
feierlich  durch  ein  Schriftstück  den  Reichstag,  und 
Massalski1),  der  allein  deshalb  zum  Marschall  dieses 
Reichstags  erwählt  worden,  damit  die  Siegel  überreicht 
werden  konnten,  hielt  der  Sitte  gemäss  eine  schöne 
Ansprache,  als  wäre  er  ganz  erstaunt  über  die  Spren- 
gung dieses  Reichstags,  und  der  König  reiste  ab, 
entzückt,  dass  er  nur  zwei  Wochen  hatte  in  Grodno 
bleiben  müssen. 

*)  Anm.  des  Königs:  Schatzmeister  des  litauischen  Hofes, 
Sohn  des  Feldhetmans. 


V 

N 

c 

"3 


War  auch  die  politische  Seite  dieses  Reichstags 
traurig  für  jeden  guten  Polen,  bei  der  Erkenntnis, 
dass  alle  Parteien  sich  zusammengetan  hatten,  um  den 
Staat  zu  einer  völligen  Nichtigkeit  herabzudrücken, 
so  war  doch  der  Aufenthalt  in  Grodno  während  der 
kurzen  Zeit,  die  er  dauerte,  ebenso  lustig  wie  selt- 
sam. 

Man  inuss  sich  eine  sogenannte  Hauptstadt  vor- 
stellen, in  der  es  ausser  dem  Königspalast  nur  noch 
zwei  Privathäuser  aus  Backsteinen  gab;  alle  anderen 
waren  aus  Holz;  so  schlecht  sie  sonst  beschaffen  wa- 
ren, enthielten  sie  in  der  Mehrzahl  irgend  einen  auf- 
fallenden und  um  so  merkwürdigeren  Luxus,  als  er 
von  Armut  und  Ungeschliffenheit  umgeben  war.  Un- 
ter anderem  meinte  jede  litauische  Dame,  sie  könnte 
in  Grodno  nicht  geziemend  auftreten,  wenn  sie  nicht 
ein  grosses,  reich  mit  Tressen  besetztes  Bett  hätte,  wäh- 
rend die  Wände  ihrer  Zimmer  in  der  Mehrzahl  ganz 
nackt  waren.  Eine  habe  ich  gesehen,  die,  um  alle  an- 
deren zu  übertreffen,  zwei  enorme  Betten  in  zwei  ver- 
schiedenen Zimmern  hatte,  das  eine  mi-t  Tressen,  das 
andere  aus  reich  besticktem  Stoff,  wie  ein  Baldachin. 
So  war  sie  der  Gegenstand  des  allgemeinen  Neides; 
besonders  beneidete  sie  ihre  Schwägerin,  deren  ein- 
ziges aber  reich  mit  Tressen  besetztes  Bett  im  ganzen 
Hause  kein  Zimmer  gefunden  hatte,  welches  gross 
genug  gewesen  wäre,  um  es  aufzunehmen;  so  ragte 
der  vordere  Teil  ihres  Bettes  durch  die  Tür  ins  an- 
dere Zimmer  hinein  und  diente  als  Kanapee. 

Aber  in  diesen  Holzpalästen  oder,  um  sie  mit  dem 
richtigen  Namen  zu  benennen,  in  diesen  Hütten  wohn- 
ten sehr  schöne  Frauen,  sehr  gastfreundliche  Männer, 
und  man  tanzte  darin  jeden  Tag;  besonderer  Gunst 

0» 

»9 


erfreuten  sich  die  Warschauer,  die  von  diesen  sich 
als  Provinzler  fühlenden  Leuten  mit  unterwürfiger 
Ehrerbietung  empfangen  wurden. 

Ich  war  mit  dem  Chevalier  Williams  im  Hause 
des  Grafen  Flemming  untergekommen,  und  wir 
brachten  alle  Abende  genau  so  zu,  wie  vor  einem 
Jahr  in  Hubertusburg.  Eines  Tages  begaben  wir  uns 
zu  dritt  zu  der  Versammlung  beim  Fürsten  Radziwill, 
dem  Woiwoden  von  Wilno  und  Grossherzog  von  Li- 
tauen, der  soeben  in  aller  Eile  sein  geräumiges  Palais 
fertiggestellt  hatte;  dieses  und  das  Palais  Sapieha 
waren  die  zwei  einzigen  Backsteinbauten  in  Grodno. 

Mit  Recht  sagte  man  damals,  dieses  Haus  sei  in 
jeder  Beziehung  ein  Prachtspital:  die  grösste  Unord- 
nung, der  widerlichste  Unrat  neben  den  kostbarsten 
Gegenständen  und  grenzenlosem  Überfluss.  Ohne 
Geschmack  und  Sachkenntnis,  wollte  er  unbedingt 
für  einen  Kenner  gelten;  mit  der  lächerlichsten  Eitel- 
keit erzählte  er  bei  jeder  Gelegenheit  die  wunder- 
lichsten Dinge  und  die  komischsten  Lügen  über  die 
Grösse  seiner  Ahnen  und  über  seine  eigene  Grösse; 
aber  er  war  wenigstens  nicht  grausam  und  blutdürstig, 
wie  sein  Bruder,  und  auch  kein  wilder  und  blöder 
Säufer,  wie  sein  Sohn;  im  Gegenteil,  er  liebte  die 
Konversation,  die  Freude  und  hätte  es  gerne  gesehen, 
dass  die  ganze  Republik  tagtäglich  bei  ihm  dinierte 
und  soupierte,  wenn  man  ihm  nur  Verehrung  ent- 
gegenbrächte. Er  war  entzückt  darüber,  dass  jeder 
bei  ihm  den  Herrn  spielen  konnte,  und  keiner  liess 
es  sich  nehmen;  es  konnte  jeder  nach  Belieben  be- 
fehlen und  gehorchen. 

Um  den  grossen  Saal  seines  Palais  auszuschmücken, 
hatte  er  es  sich  ausgedacht,  eine  Reihe  von  Porträts 

90 


der  polnischen  Könige,  die  er  weiss  Gott  von  wem 
geerbt  hatte,  in  allen  Ecken  und  Enden  des  Saales 
aufzuhängen;  wenn  der  bestimmte  Raum  jedoch 
schmaler  war  als  die  Porträts,  schnitt  er  ihnen  ohne 
alle  Umstände  Arme  und  Schultern  ab  und  Hess  sie 
ihnen  schmächtiger  wieder  anmalen,  zum  Schaden 
des  betreffenden  Körpers,  um  sie  wohl  oder  übel  an 
den  für  sie  bestimmten  Plätzen  unterbringen  zu  kön- 
nen. Man  kann  sich  leicht  die  kläglichen  Mienen  die- 
ser abgemagerten  Könige  vorstellen,  welche  der  gute 
Fürst  jedoch  uns  als  Chefs-dceuvre  vorführte. 

Nachdem  wir  uns  auf  seine  Kosten  lustig  gemacht 
hatten,  gingen  wir  auf  irgend  einen  Ball,  blieben 
aber  auf  der  Treppe  stehen,  um  uns  das  Souper  an- 
zusehen, das  gerade  hinaufgetragen  wurde;  es  war 
wirklich  sehenswert,  und  ich  versichere  dem  Leser, 
dass  ich  ihm  keine  Märchen  auftische.  Ein  riesen- 
grosser  Haiduck  ging  an  uns  vorbei  mit  einer  mäch- 
tigen Schüssel  voll  Spinat,  in  dessen  Mitte  drei  ko- 
lossale Stücke  gespickten  Kalbfleischs  wie  drei  Inseln 
schwammen;  der  Haiduck  hatte,  wie  übrigens  der 
ganze  Hofstaat  Seiner  Hoheit,  seit  langer  Zeit  keinen 
Lohn  mehr  bekommen,  lebte  aber  von  seiner  Schlau- 
heit; das  Kalbfleisch  verlockte  ihn,  er  kämpfte  eine 
Zeitlang,  aber  schliesslich  ging  es  ihm  wie  jedem 
Sünder  seit  Adam,  —  nach  begangener  Schuld  über- 
kamen ihn  Gewissensbisse,  und  um  sie  zu  verdecken 
breitete  er  mit  seiner  Hand  wie  mit  einer  Kelle  den 
Spinat  über  die  von  dem  verschlungenen  Kalbfleisch 
entblösste  Stelle.  Als  wir  das  sahen,  beglückwünsch- 
ten wir  uns  zu  unserem  Entschluss,  anderswo  zu 
soupieren;  tausend  ähnliche  und  ebenfalls  wahre 
Züge  könnten    zwar   nicht   den  Roman,  jedoch  die 

91 


komische  Geschichte  dieses  Hauses  Radziwilt  erge- 
ben. Alles,  was  wir  in  Grodno  sahen,  erschien  uns  so 
lustig  und  ungewöhnlich,  dass  wir  noch  acht  Tage 
länger  dort  blieben,  dann  kehrte  ich  nach  Warschau 
zurück. 

So  ernst  der  Zweck  dieses  Werkes  ist,  gestatte  ich 
mir  nichtsdestoweniger,  es  hier  und  dort  zu  erhei- 
tern, nicht  allein  um  mir  meine  Arbeit  zu  erleichtern, 
aber  vielmehr  deshalb,  weil  die  Ausmalung  einzel- 
ner Details  zum  Verständnis  der  Sitten  und  des 
Geistes  jener  Zeit  und  jener  Leute,  von  denen  ich 
spreche,  beitragen  kann. 

Nach  Warschau  zurückgekehrt,  sah  ich  eine  Ent- 
scheidung herannahen:  die  Tochter  des  Woiwoden 
von  Ruthenien  sollte  sich  mit  dem  Fürsten  Lubomirski 
vermählen,  der  zu  jener  Zeit  noch  Generalwacht- 
meister war;  heute  ist  er  Grossmarschall  der  Krone. 

Sein  Vater  hatte  ihm  nur  ein  geringes  Vermögen 
hinterlassen;  zwei  Jahre  Turiner  Akademie,  einige 
kleine  Reisen,  hierauf  ein  geringer  Anteil  an  der 
Kampagne  in  Röhmen,  dann  der  Kämmererdienst 
beim  König  und  die  ausgezeichnete  Gesellschaft  des 
Lubomirskischen  Hauses  in  Dresden,  —  das  alles  zu- 
sammen machte  seine  Erziehung  aus.  Nach  Polen 
zurückgekehrt,  liierte  er  sich  mit  der  Woiwodin  von 
Ruthenien,  seiner  leiblichen  Cousine,  die  von  all  ihren 
Verwandten  ihn  am  meisten  zu  bevorzugen  schien. 
Sie  veranlasste  ihren  Gatten,  diesen  Lieblingscousin 
in  sein  Haus  zu  nehmen;  er  setzte  ihm  sogar  eine 
Rente  aus  und  bekümmerte  sich  um  seine  Rildung. 

Rald  hatte  die  Öffentlichkeit  ihn  zum  Schwieger- 
sohn des  Woiwoden  von  Ruthenien  bestimmt.  Die 
Woiwodin  erfuhr  als  letzte,  dass  er  es  wirklich  wer- 

92 


den  sollte,  und  sie  äusserte  lange  Zeit  hindurch  eine 
ganz  auffallende  Unzufriedenheit,  die  hauptsächlich 
auf  ihre  Tochter  zurückfiel ;  diese  hatte  um  so  mehr 
Grund,  sich  darüber  zu  kränken,  als  sie  den  Fürsten 
nur  widerwillig  heiratete  und  nur  um  dem  Willen 
ihres  Vaters  zu  genügen;  niemals  offenbarte  es  sich 
deutlicher  als  jetzt,  dass  es  für  den  Woiwoden  von 
Ruthenien  kein  Hindernis  gab,  wenn  etwas  seinen 
Absichten  gemäss  geschehen  sollte,  denn  sogar  bei 
seiner  geliebten  Tochter,  dem  offenkundigen  und 
einzigen  Gegenstand  seiner  Nachgiebigkeit,  übte  er 
Zwang  aus. 

Als  seine  Tochter  fünfzehn  Jahre  alt  geworden  war, 
hatte  der  Woiwode  von  Ruthenien  sich  täglich  zwei  bis 
drei  Stunden  mit  ihr  zu  unterhalten  begonnen  und 
ihr  nicht  nur  die  zärtlichsten  Aufmerksamkeiten  er- 
wiesen, sondern  sie  auch  in  jeder  Reziehung  als  ein 
Wesen  behandelt,  das  im  Mittelpunkt  seiner  Achtung 
und  seiner  Liebe  stand,  so  dass  dieses  Wesen  (wenn 
man  so  sagen  kann)  aufhörte  jung  zu  sein;  zu  früh 
wurde  sie  von  den  Vergnügungen  und  der  Gesell- 
schaft ihres  Alters  losgerissen.  Diese  Frühreife,  die 
sie  über  die  ganze  Jugend  ihrer  Zeit  hinaushob,. sollte 
ihr  in  der  Folge  manchen  Schmerz  verursachen. 

Prinzessin  Isabella  Czartoryska  wurde  von  der 
WTiege  ab  im  Hause  ihrer  Mutter  auferzogen,  bei  der 
sich  täglich  alle  Enkelkinder  versammelten;  diegrösste 
gegenseitige  Sympathie  von  allen  brachten  wir  uns 
entgegen,  die  Prinzessin  lsabella  und  ich.  Nach  und 
nach  wurde  daraus  eine  enge  und  sehr  zärtliche 
Freundschaft,  die  während  vieler  Jahre  meines 
Lebens  zur  liebsten  Gewohnheit  meines  Herzens 
wurde.  Als  ihr  Vater  sie  als  erwachsenes  Mädchen 

9* 


zu  behandeln  begann,  war  ich  ausser  ihm  der  einzige, 
mit  dem  sie  den  vertrauten  Ton  der  Zuneigung  auf- 
rechterhielt. Als  ihr  Vater  die  Ursache  ihres  Wider- 
willens gegen  den  Mann,  den  er  ihr  erwählt,  zu  er- 
forschen trachtete,  sprach  er  auch  von  mir  als  von 
einem  Menschen,  mit  dem  sie  nicht  glücklich  wer- 
den könnte;  dieselbe  Ansicht  äusserte  er  auch  ihrer 
Mutter  gegenüber,  die  darüber  mit  meiner  Mutter 
sprach;  infolgedessen  beschlossen  meine  Eltern,  mich 
reisen  zu  lassen.  Sie  gingen  dabei  von  der  Maxime 
aus,  es  sei  besser,  wenn  ein  junger  Mann  wieder- 
holt auf  Reisen  gehe,  in  der  Zwischenzeit  aber 
immer  wieder  zur  heimatlichen  Scholle  zurückkehre, 
als  wenn  er  auf  einmal  eine  einzige  grosse  Reise  un- 
ternehme. Ich  hatte  noch  Frankreich  und  England 
kennen  zu  lernen,  ohne  von  Italien  zu  sprechen,  und 
es  konnte  mir  von  Nutzen  sein,  die  Orte,  die  ich  be- 
reits einmal  gesehen,  nach  einer  gewissen  Zeit  ein 
zweites  Mal  wiederzusehen.  Ich  reiste  ungern  ab,  je- 
doch ich  musste  gehorchen. 

Zuerst  schickte  man  mich  nach  PrzemysM,  um  dort 
die  Gerichtsstarostei  zu  übernehmen,  die  mein  Vater 
kurz  vorher  für  mich  gekauft  hatte,  und  zwar  vom 
Prinzen  Jerome  Radzivvill,  dem  litauischen  Gross- 
fähnrich und  Rruder  jenes  Radzivvill,  dessen  Palast 
ich  vor  kurzem  in  Grodno  gesehen  hatte. 

Von  dort  aus  begab  ich  mich  Ende  März  des  Jahres 
1753  nach  den  Karpathen  und  überschritt  jenen  Teil 
dieser  Berge,  den  man  den  Beskid  nennt;  dann  schlug 
ich  über  Eperies,  Kaschau  und  die  Zips  jenen  Weg 
ein,  den  man  später,  während  des  Krieges  vom  Jahre 
1756,  den  Weg  der  Kuriere  genanut  hat,  denn  er 
war  damals  der  einzige,   auf  dem   die   Verbindung 

94 


zwischen  Wien  nud  Petersburg  aufrechterhalten  wer- 
den konnte. 

In  diesem  Teil  Ungarns  ist  die  natürliche  Sprache 
der  Einwohner  ein  beinahe  polnisches  Slowenisch, 
aber  sie  sprachen  auch  fast  alle,  sogar  die  Frauen, 
irgend  ein  schlechtes  Husaren-Latein  und  zwar  so 
gewandt  wie  ihre  eigene  Sprache;  auf  einer  Station, 
wo  ich  mein  Mittagessen  verzehrte,  hörte  ich,  wie  die 
Hausfrau  mit  lateinischen  Worten  ihrem  Hund  be- 
fahl, in  das  Rad  des  ßratspiesses  zu  steigen,  und  der 
Hund  gehorchte. 

Ich  setzte  meine  Reise  über  Pressburg  nach  Wien 
fort,  wo  ich  den  Chevalier  Williams  antraf,  den  sein 
Hof  mit  einer  besonderen  ßotschaft  hierher  gesandt 
hatte,  und  den  Grafen  Flemming,  der  neuerdings 
vom  König  August  III.  als  Minister  von  Sachsen  hin- 
beordert worden  war.  Ihre  Gesellschaft,  ihr  Verdienst 
und  die  Freundschaft,  die  sie  mir  bezeugten,  gaben 
mir  in  Wien  ein  Relief,  das  ich  bei  meiner  ersten  An- 
wesenheit dort  nicht  gefunden  hatte.  Es  war  mir 
noch  die  Annehmlichkeit  beschieden,  den  Grafen 
Kayserling  als  russischen  Gesandten  anzutreffen,  den- 
selben, der  früher  bei  uns  gewesen  war.  In  Wirklich- 
keit lebte  er  nur  mit  den  hervorragendsten  Gelehr- 
ten, man  konnte  ihn  fast  nur  bei  sich  zu  Hause  sehen, 
er  ging  beinahe  nie  zu  Hof  und  sprach  nur  dann  mit  den 
Ministern,  wenn  eine  Angelegenheit  unbedingt  sein  per- 
sönliches Dazwischentreten  erforderte.  Dieses  Verhal- 
ten brachte  ihm  in  Wien  den  Ruf  ein,  er  sei  ein  Mann, 
der  sich  ganz  inseine  Bücher  vergrabe  und  die  Geschäfte 
weder  liebe  noch  sich  um  sie  bekümmere;  es  war  aber 
nur  die  Maske  einer  sehr  aufmerksamen  Beobachtung, 
die  durch  unterirdische  Spionage  handelte. 

95 


Er,  Flemming  und  Williams  waren  die  Menschen, 
die  ich  diesmal  in  Wien  am  häufigsten  sah.  Letzterer 
verfiel  in  eine  gefahrliche  Krankheit,  ich  hatte  Ge- 
legenheit, ihm  während  derselben  wiederholt  Dienste 
zu  leisten,  die  ein  weiteres  Band  seiner  Freundschaft 
für  mich  bilden  sollten. 

Ein  bedeutsames  Ereignis  beschäftigte  damals  ganz 
Wien  und  je  nach  den  verschiedenen  Stufen  ihrer 
Beziehungen  zu  Wien  auch  einige  andere  Hauptstädte. 

Gral"  Kaunitz  war  von  seinem  französischen  Ge- 
sandtschaftsposten abberufen  und  zum  Hofkanzler 
ernannt  worden,  das  heisst  zum  Leiter  des  Departe- 
ments der  auswärtigen  Angelegenheiten.  All  die  guten 
und  schlechten  Porträts  dieses  neuen  Ministers,  alle 
Voraussagen  über  seine  Geschäftsführung  dienten 
gleichzeitig  meiner  Belehrung  und  meiner  Unterhal- 
tung. Die  meisten  Österreicher  vom  alten  Schlag, 
die  mit  dem  Hass  gegen  den  Namen  Frankreich  ge- 
nährt worden  waren,  bejammerten  das  Schicksal  ihres 
Staates,  der  ihrer  Meinung  nach  nunmehr  neuen 
Maximen  und  neuen  Sitten  ausgeliefert  werden  musste 
unter  einem  Minister,  der  in  Wien  in  seiner  Rede, 
seinem  Gebaren  und  seinem  Geschmack  ganz  fran- 
zösisch zu  sein  schien,  während  er  absonderlicher- 
weise in  Paris  mit  Vorliebe  sowohl  die  Fehler  der 
Franzosen  aufgedeckt  als  auch  ihr  Entgegenkom- 
men abgelehnt  hatte;  dieses  Entgegenkommen  war 
einem  Fremden  gegenüber  ganz  aussergewöhnlich, 
besonders  einem  so  hochgestellten  Fremden  gegen- 
über, von  so  absonderlichem  Gebaren,  der  durch 
verschiedene  Schrullen  viel  Stoff  zur  Lächerlichkeit 
bot.  Das  Ansehen,  das  er  während  seiner  Gesandt- 
schaft in  Frankreich  dort  ständig  genossen  hatte,  — 

96 


Stanislaw  Lubomirski,  Grossmarschall  der  Krone 

(Phot.  Anderle,  Krakau) 


und  zwar  unmittelbar  nach  einem  für  Österreich 
unglücklich  ausgegangenen  Krieg  gegen  Frankreich 
—  bewies  jedoch,  dass  diesem  Manne  wirkliches  Ver- 
dienst eignen  musste;  er  hat  es  seither  der  ganzen 
Welt  bewiesen,  und  heute  gestehen  es  ihm  sogar 
jene  Leute  zu,  die  ihn  am  wenigsten  lieben. 

Man  hat  es  als  einen  der  grossen  Züge  von  Maria 
Theresias  Charakter  und  Regierung  angesehen,  dass 
sie  Herrn  von  Kaunitz  zu  schätzen  und  an  die  rich- 
tige Stelle  zu  bringen  gewusst,  aus  eigenem  Antrieb 
und  trotz  all  der  Stimmen,  die  gegen  ihn  sprachen, 
dass  sie  ihn  darauf  festgehalten  hat,  ohne  dass  er 
sich  jemals  auch  nur  im  geringsten  bemüht  hätte, 
durch  besondere  Anstrengungen  sich  das  Wohlwollen 
seiner  Standesgenossen  zu  erringen  noch  durch  eine 
scheinheilige  Handlung  sich  das  Wohlwollen  seiner 
devoten  Fürstin  zu  bewahren.  Sie  versuchte  einige- 
mal, ihn  ihre  Missbilligung  fühlen  zu  lassen,  weil 
er  Schauspielerinnen  aushielt.  Er  erwiderte  be- 
ständig: 

„Ich  habe  meiner  Kaiserin  und  Königin  Rechen- 
schaft abzulegen  über  meine  Haltung  als  ihr  Minister, 
als  ihr  Untertan,  aber  sonst  in  keiner  Weise.  Wenn 
meine  Fürstin  mit  meinen  Diensten  nicht  zufrieden 
ist,  werde  ich  Arbeit  und  Geschäfte  mit  Freuden 
aufgeben  und  mich  auf  meine  Grafschaft  von  Riet- 
berg zurückziehen." 

Eine  solche  Antwort  hätte  einen  Minister,  über 
dessen  Stelle  Madame  de  Maintenon  zu  bestimmen 
gehabt  hätte,  an  die  Luft  gesetzt.  Herr  von  Kaunitz 
hat  sich  sogar  erlaubt,  die  Hofetikette  ausser  acht  zu 
lassen;  den  Offizieren,  die  ihn  darauf  aufmerksam 
machten,  weil  sie  glaubten,  es  sei  aus  Unachtsamkeit 

7  Poniatowski  gn 


geschehen,  sagte  er:  „Dorthin,  wo  mein  Muff  nicht 
mitgehen  kann,  will  ich  selbst  nicht  mehr  hinge- 
hen." 

Seit  neunzehn  Jahren  steht  Kaunitz  nunmehr  im 
Amte  und  scheint  bestimmt  zu  sein,  es  nicht  bald  zu 
verlassen.  Und  sollte  ich  als  Untertan  geboren  wer- 
den und  hätte  unter  allen  jetzt  lebenden  Herrschern 
zu  wählen,  so  wäre  Maria  Theresia  meine  Königin. 
Bei  ihrer  Thronbesteigung  fand  sie  die  Truppen  und 
die  Finanzen  ihres  Staates  ganz  zerrüttet  vor.  Inmitten 
dreier  fast  stets  unglücklicher  Kriege  hat  sie  beide 
wiederhergestellt  und  auf  eine  höhere  Stufe  gebracht, 
als  sie  sie  je  unter  einem  ihrer  Ahnen  eingenommen 
hatten,  und  doch  werden  ihre  Untertanen  nicht  un- 
terdrückt; sie  ist  freigebig;  fast  alle  öffentlichen  Ge- 
bäude Wiens,  fast  alle  Wege  ihrer  Provinzen  sind 
durch  sie  errichtet  oder  erneuert  worden,  und  den- 
noch ist  sie  reich,  und  sie  beweist  es  durch  grosse 
und  häufige  Geschenke;  sie  ist  fromm,  sie  hat  sich 
nie  zu  Schwachheiten  hinreissen  lassen,  die  gegen  ihre 
Prinzipien  gewesen  wären,  und  doch  ist  sie  nicht 
nur  sanft  und  mitfühlend,  sondern  sie  hat  auch  die 
Anmassungen  der  Kirche  beschnitten,  sie  hat  die  Er- 
ziehung und  Bildung  der  Jugend  in  all  ihren  Staaten 
gebessert.  Ihre  Politik  war  geschickt,  jedoch  ohne 
Falschheit,  wenigstens  bis  jetzt;  sie  hat  nur  zur  Ver- 
teidigung Krieg  geführt.  So  ist  ihr  auch  das  Glück 
beschieden,  von  ihren  Untertanen  wirklich  geliebt 
zu  sein.  Während  dreissig  Jahren  ihrer  Regierung  ist 
keine  Handlung  bekannt  geworden,  welche  die  Ge- 
rechtigkeit verletzt  hätte. 

Möchte  doch  ein  so  schönes  Beispiel  sich  nicht 
mehr  widersprechen  und  sich  zur  Nacheiferung  der 

9» 


Nachwelt  rein  erhalten !  Und  möge  mein  Vaterland 
sich  nie  über  die  Unstetigkeit  menschlicher  Tugen- 
den zu  beklagen  haben  *). 

Einige  Tage  nach  dem  Amtsantritt  des  Fürsten 
Kaunitz  verliess  ich  Wien,  um  mir  das  Lager  der 
sächsischen  Armee  vor  Dresden  anzusehen. 

Es  ist  wahrscheinlich,  dass  Graf  Brühl  schon  da- 
mals den  Österreichern  und  den  Engländern  zeigen 
wollte,  dass  es  noch  eine  sächsische  Armee  gab  und 
dass  sie  sogar  sehr  schön  war,  —  den  ersteren,  um 
sich  ein  gewisses  Ansehen  zu  sichern,  das  im  Falle 
eines  Unglücks  Sachsen  eine  Verbindung  und  eine 
Protektion  gegen  den  König  von  Preussen  einbringen 
sollte,  —  den  anderen,  um  sich  Subsidien  zu  ver- 
schaffen, denn  die  Engländer  glaubten  damals,  sie 
müssten  selbst  in  Friedenszeiten  von  ihnen  besoldete 
Truppen  in  Deutschland  unterhalten.  Da  jedoch  vier 
Dragonerregimenter  der  sächsischen  Armee  fast  immer 
und  auch  damals  sich  in  Polen  in  der  Ökonomie 
des  Königs  befanden,  —  trotz  der  pacta  conventa2), 
durch  welche  August  III.  sich  verpflichtet  hatte,  in 
Polen  niemals  mehr  als  1 200  Mann  sächsischer  Trup- 
pen zu  halten,  —  waren  alles  zusammen  im  Lager 
von  Ibickau,  das  drei  Wochen  dauerte,  nur  unge- 
fähr 14000  Mann  vorhanden. 

Der  König  schien  solches  Gefallen  daran  zu  finden, 
dass  man  bei  dieser  Gelegenheit  den  Grafen  Brühl 

*)  Anm.  des  Königs:  Ich  habe  dies  im  Februar  1772  nieder- 
geschrieben. 

2)  Die  Grundlage  der  königlichen  Gewalt  bildete  ein  Vertrag, 
der  mit  dem  Gewählten  abgeschlossen  wurde.  Durch  die 
„pacta  conventa"  wurden  dem  König  bestimmte  Verpflichtun- 
gen und  Beschränkungen  auferlegt.  Anm.  d.  Herausg. 

7*  99 


beunruhigt  zu  sehen  glaubte,  um  so  mehr  als  dieses 
Lager,  wo  Graf  Rutowski 1),  der  natürliche  Bruder 
des  Königs,  als  sächsischer  Feldmarschall  befehligte, 
diesem  das  Recht  gab,  täglich  zum  König  zu  kommen, 
um  dessen  Befehle  entgegenzunehmen;  aber  sobald 
das  Lager  aufgehoben  war,  verstand  es  Graf  Brühl 
besser  denn  je,  seinen  Herrn  zu  isolieren. 

Ich  habe  ihn  nur  selten  gesehen,  denn  kaum  war 
ich  in  Dresden  angelangt,  da  befiel  mich  ein  dreitägiges 
Wechselfieber.  An  den  guten  Tagen  ging  ich  aus,  und 
so  war  ich  eines  Abends  in  der  Oper  und  lehnte  an  der 
Orchesterbalustrade  zwischen  zwei  jungen  Fürsten 
Lichtenstein,  die  mit  vielen  anderen  Fremden  als 
Zuschauer  ins  Lager  gekommen  waren.  Ich  bemerkte, 
dass  sie  sich  fortwährend  geheimnisvolle  Dinge  ins 
Ohr  zu  tuscheln  hatten,  und  hierbei  bedrängten  sie 
mich  von  beiden  Seiten  so  sehr,  dass  ich  gezwungen 
war,  dem  älteren  zu  sagen:  „Sie  tun  mir  weh!"  Er 
antwortete:  „Sie  langweilen  mich!" 

Wir  waren  zwei  Schritt  vom  König  entfernt,  der 
dem  Schauspiel  gewöhnlich  von  seiner  kleinen  Loge 
aus  beiwohnte;  ich  erwartete  den  Fieberrückfall  am 
nächsten  Tage,  so  erwiderte  ich  im  Augenblick  nichts; 
aber  am  nächsten  Tage,  als  mein  Anfall  vorüber  war, 
ging  ich  am  Abend  in  die  Versammlung  beim  Grafen 
Brühl,  um  jenem  Lichtenstein  zu  sagen: 

„Sie  haben  mir  gestern  gesagt,  dass  ich  Sie  lang- 
weile; ich  will  Sie  morgen  unterhalten,  um  neun 
Uhr  früh,  hinter  dem  Grossen  Garten." 

Er  erwiderte: 

*)  Friedrich  August  Graf  Rutowski,  der  natürliche  Sohn 
Augusts  des  Starken  und  der  Türkin  Fatime,  geb.  170a,  gest. 
1764.  Anm.  d.  Herausp. 

[  00 


„Sehr  wohl,  ich  werde  zur  Stelle  sein." 

Hierauf  bat  ich  den  Schreiber  Rzewuski,  der  auch 
nach  Dresden  gekommen  war,  mein  Sekundant  zu 
sein;  er  gab  mir  die  Versicherung,  er  hätte  mit  nie- 
mandem darüber  gesprochen,  und  doch  kam  am 
nächsten  Morgen  um  sieben  Uhr  der  General  Fon- 
tenay1)  zu  mir  und  sagte,  der  Chevalier  de  Saxe2) 
interessiere  sich  sowohl  für  mich  wie  für  den  jungen 
Lichtenstein  und  wünsche  die  Folgen  unseres  Streites 
zu  verhindern.  Ich  antwortete: 

„Er  muss  mich  vor  Zeugen  um  Entschuldigung 
bitten,  andernfalls  müssen  wir  diese  Sache  austragen." 

Eine  halbe  Stunde  später  kehrte  er  zu  mir  zurück 
und  sagte,  der  Chevalier  de  Saxe  bitte  mich,  bei  ihm 
vorzusprechen,  Lichtenstein  werde  sich  dort  bei  mir 
entschuldigen.  Und  in  der  Tat  traf  ich  dort  nicht 
nur  meinen  Mann  an,  sondern  auch  seinen  Onkel, 
den  Fürsten  Joseph  Wenzel  Lichtenstein,  der  auch 
zum  Lager  gekommen  war  und  beim  Chevalier  de 
Saxe  logierte.  Er  sagte  als  erster. 

„Es  tut  mir  sehr  leid,  dass  mein  Neffe  Ihnen  un- 
recht getan  hat,  und  ich  bitte  Sie,  ihm  Ihre  Freund- 
schaft wieder  zu  schenken;  er  wird  Sie  darum  bitten 
und  sich  bei  Ihnen  entschuldigen." 

Gleich  darauf  trat  der  junge  Mann  ein,  entschul- 
digte sich   bei  mir  in  Gegenwart  seines  Onkels,  des 

*)  Anm.  des  Königs :  Franzose  im  sächsischen  Dienst,  ein- 
stiger Freund  meiner  Familie  und  einer  der  Pfeiler  der  da- 
mals berühmten  Gesellschaft  des  Lubomirskischen  Palais  in 
Dresden. 

2)  Ein  dritter  natürlicher  Bruder  Augusts  III.,  Johann  Georg, 
genannt  Chevalier  de  Saxe,  geb.  1709,  Sohn  Augusts  II.  und 
der  Fürstin  Ursula  Lubomirska.  Anm.  d.  Herausg. 

101 


Chevaliers  de  Saxe  und  des  Generals  Fontenay;  wir 
mussten  uns  umarmen,  und  die  Sache  war  beigelegt. 

Die  Angelegenheit  war,  ich  weiss  nicht  wieso,  zur 
Kenntnis  einer  Prinzessin  Lichtenstein  gelangt,  einer 
ältlichen  Dame,  Schwester  des  Fürsten  Joseph  Wen- 
zel, die  in  Sachsen  lebte.  Sie  hatte  die  Königin  und 
ihren  Bruder  benachrichtigt,  und  da  der  Hof  damals 
an  allem,  was  meine  Familie  betraf,  grosses  Interesse 
nahm  und  auch  nicht  wollte,  dass  dem  Fürsten 
Lichtenstein,  einem  Manne,  der  in  Wien  solches  An- 
sehn genoss,  etwas  Unangenehmes  widerfahre,  hatte 
diese  kleine  Angelegenheit  eine  solche  Wendung 
genommen. 

Kaum  war  der  Chevalier  Williams  von  Wien  nach 
Dresden  zurückgekehrt,  da  gedachte  er  in  eigenen 
Angelegenheiten  eine  Fahrt  nach  England  zu  unter- 
nehmen, und  sobald  ich  von  meinem  Fieber  geheilt 
war,  nahm  ich  sein  Anerbieten  an,  ihn  nach  Holland 
zu  begleiten.  Wir  hielten  uns  drei  Tage  in  Hannover 
auf;  dort  sah  ich,  dass  Williams,  der  doch  ein  rech- 
ter Engländer  war,  nichts  von  dem  versäumte,  was 
sie  „the  back  staws"  nennen.  Er  erneuerte  sorgfältigst 
die  Freundschaft  mit  allen  Personen  beiderlei  Ge- 
schlechts und  jeden  Alters,  die  irgendwelche  Bezie- 
hungen zu  Mylady  Yarmouth  l)  hatten.  Während  der 
drei  Tage  dinierten  wir  an  der  Tafel,  die  der  König 
dort  beständig  für  alle  qualifizierten  Fremden  hielt, 
die  durch  Hannover  reisten;  der  Grossmarschall  des 
Kurfürstentums  machte  die  Honneurs  dieser  Tafel. 

Einige  Tage  später  langten  wir  im  Haag  an,  wo 

J)  Amalie  Sophie  Wallmoden,  geb.  v.  Wendt,  wurde  mit  Einver- 
ständnis der  Königin  Karoline  die  Mätresse  Georgs  II.  und  führte 
als  solche  den  Titel  einer  Gräfin  Yarmouth.  Anm.  d.  Herausg. 

I02 


der  Chevalier  Williams  sich  nur  eine  Woche  aufhielt. 
Vor  seiner  Abreise  wies  er  mich  an  Sir  Yorke,  den 
englischen  Minister,  und  an  den  Grafen  Bentinck, 
Herrn  zu  Rhön  und  Pendrecht.  Letzterer  stand  da- 
mals am  Hofe  von  Oranien  noch  in  Gunst;  zur  Zeit 
der  Revolution  von  1748,  als  diesem  Hause  die  Erb- 
lichkeit der  Statthalterschaft  zugesichert  wurde, 
war  er  das  Oberhaupt  dieser  Partei.  Er  war  ein 
guter  Freund  meines  Vaters  gewesen,  und  das  be- 
einflusste  ihn  zu  meinen  Gunsten ;  er  gewann  mich 
so  lieb,  dass  ich  zum  grossen  Erstaunen  all  jener,  die 
ihn  fürchteten  und  die  sich  über  seine  Verschlossen- 
heit beklagten,  fast  wie  ein  Kind  des  Hauses  behan- 
delt wurde;  ohne  von  meiner  Dankbarkeit  irre  ge- 
leitet zu  werden,  kann  ich  sagen,  dass  er  einer  der 
verdienstvollsten  Männer  war,  die  ich  kennen  gelernt. 
Sir  Yorke  empfing  mich  und  behandelte  mich 
genau  so,  als  wäre  ich  ein  junger  Engländer  und 
Liebling  der  Familie  gewesen.  Gemeinsam  mit  Ben- 
tinck stellte  er  mich  dem  Feldmarschall  Fürsten 
Ludwig  von  Braunschweig  vor;  dieser  befehligte  die 
Armee  während  der  Minderjährigkeit  des  jetzigen 
Prinzen  von  Oranien,  dessen  Mutter,  die  Tochter 
Georgs  IL,  Königs  von  England,  damals  als  Regen- 
tin eingesetzt  war.  Bentinck,  Yorke  und  Fürst  Lud- 
wig schienen  eine  Art  sehr  enges  Triumvirat  zu 
bilden,  das  jedoch  einige  Jahre  später  sich  auflöste, 
als  Bentinck  und  sein  Bruder  Karl  sich  beklagten, 
der  Hof  von  Oranien  beweise  ihnen  nicht  das  Ent- 
gegenkommen, das  sie  zu  verdienen  glaubten,  und 
als  Fürst  Ludwig  im  gleichen  Masse,  als  sich  sein 
Kredit  bei  Hofe  und  bei  der  Nation  festigte,  von  ihnen 
abzurücken  begann. 

I  o3 


Sir  Yorke  hatte  den  Krieg  bis  zum  Frieden  vom 
Jahre  1748  mitgemacht;  mit  23  Jahren  war  er  be- 
reits englischer  Minister  in  Paris,  und  obgleich  er  in 
jenem  Lande  bestens  aufgenommen  wurde,  obgleich 
er  in  seinem  Äusseren  und  in  seiner  Sprache  sich  weit 
mehr  nach  französischem  Muster  gebildet  hatte,  als 
die  meisten  seiner  Landsleute,  soll  er  in  Paris  fast 
dieselbe  dünkelhafte  Herablassung  zur  Schau  getragen 
haben  wie  jener  berühmte  Lord  Stair,  der  während 
seiner  Gesandtschaft  nach  dem  Utrechter  Frieden  am 
Hofe  Ludwigs  XIV.  sich  auffällig  zu  zeigen  bemühte, 
dass  der  Glanz  dieses  Namens  ihn  durchaus  nicht 
blende.  Ich  fand,  dass  er  seinem  Geist  und  seiner 
Rede  nach  so  antigallikanisch  war,  wie  es  der  unge- 
schliffenste Engländer  nur  sein  kann ;  dennoch  ist  er 
(abgesehen  von  allem,  was  die  nationalen  Vorurteile 
betrifft)  einer  der  angenehmsten  und  solidesten 
Menschen,  denen  man  begegnen  kann. 

Das  oben  erwähnte  Triumvirat  also  und  die 
Gunst,  mit  der  es  mich  ehrte,  verschafften  mir  Zu- 
tritt bei  verschiedenen  angesehenen  Persönlichkei- 
ten der  Republik,  was  sonst  nur  wenigen  Fremden 
möglich  war,  so  zum  ersten  Gerichtsschreiber  Fagel, 
zum  Admiral  Schryver  und  zu  den  Amsterdamer 
Bürgermeistern  Hop  und  de  Dieu.  Hop  war  Gesand- 
ter in  Frankreich  gewesen  und  hatte  sich  dort  die 
besondere  Gunst  des  Kardinals  de  Fleury  erworben, 
ohne  dessen  Absichten  zu  begünstigen. 

De  Dieu  war  vor  kurzem  von  seiner  russischen 
Gesandtschaft  zurückgekehrt.  Das  Wohlwollen  die- 
ser Männer,  die  fast  alle  hoch  in  Jahren  standen, 
schmeichelte  mir  so  sehr,  dass  ich  während  der  zwei 
Monate,  die  ich  in  Holland  zubrachte,  fast  keine  an- 

io4 


deren  Bekanntschaften  anknüpfte  als  nur  mit  Leuten, 
die  zu  ihnen  hielten,  oder  mit  solchen,  die  in  irgend- 
welchen Beziehungen  zu  Kauderbach  standen,  der 
bereits  damals  dort  sächsischer  Gesandter  war  (auf 
seine  Bitten  hin  hatte  ich  bei  ihm  Wohnung  genom- 
men); zu  letzteren  gehörte  ein  alter  portugiesischer 
Jude  namens  Svasso,  der  mir  anscheinend  grosse  Zu- 
neigung schenkte  als  er  sah,  dass  ich  mich  gegen  die 
Prinzipien  der  Judenverfolgung  auflehnte,  welche 
kurz  vorher  infolge  eines  Dekrets  des  Kiewer  Bischofs 
Sottyk  elf  Juden  in  Polen  zum  Scheiterhaufen  verur- 
teilt hatten;  bei  dieser  Gelegenheit  wies  er  mir  eine 
Bulle  des  Papstes  Martin  V.,  die  sich  stark  gegen  jene 
Vorurteile  richtet,  welche  die  Juden  abergläubischer 
Praktiken  verdächtigen,  bei  denen  sie  das  Blut  von 
Christenkindern  gebrauchen. 

Einen  sehr  seltsamen  Mann  sah  ich  noch  im  Haag: 
den  Baron  Cröning;  er  stand  im  Rufe  eines  lebenden 
Wörterbuchs  und  zwar  in  solchem  Masse,  dass  fremde 
Minister  und  die  Einwohner  des  Landes  lieber  ihn  be- 
fragten als  ihre  Bücher,  wenn  es  ihnen  nur  gelang, 
von  ihm  empfangen  zu  werden;  doch  das  war  nicht 
einfach  seit  jenem  Augenblick,  der  ihn  zu  einem  so 
traurigen  Beispiel  eines  Menschen  gemacht  hatte,  der 
trotz  grosser  Bildung  und  einem  wohldisziplinierten 
Gehirn  dennoch  von  einer  einzigen  zu  stark  erfassten 
Idee  übermannt  werden  kann.  Eines  Tages,  als  er 
gerade  nach  Hause  zurückkehrte,  begegnete  er  dem 
Chirurgen,  der  seiner  Frau  soeben  zur  Ader  gelassen 
hatte;  zufällig  fragte  er  ihn,  ob  er  am  gleichen  Tage 
irgend  einer  anderen  Person  zur  Ader  gelassen  hätte ; 
als  er  erfuhr,  dass  er  wirklich  einem  tollwütigen 
Manne  zur  Ader  gelassen  und  das  gleiche  Eisen  bei 

lo5 


seiner  Frau  angewandt  hatte,  ergriff  ihn  eine  so  über- 
mässige Furcht,  seine  Frau  könnte  auch  tollwütig 
werden,  dass  er,  der  zärtlichste  Gatte  seiner  schönen 
Frau,  plötzlich  jede  Beziehung  zu  ihr  abbrach;  bald 
keimten  allerlei  kollaterale  Ideen  über  irgend  eine 
Art  von  Ansteckung  in  seinem  Geiste  und  zwar  so 
stark,  dass  er  nach  und  nach  für  sich  und  sein  Haus 
eine  genau  abgestufte  Quarantäne  einführte,  die  un- 
verletzlich war;  und  zwar  galt  sie  für  jeden,  der  aus 
irgend  einem  Lande  nach  dem  Haag  kam,  das  unge- 
fähr in  der  Gegend  jenes  Erdstrichs  lag,  wo  die  Pest 
zu  Hause  ist.  Es  war  so  weit  mit  ihm  gekommen, 
dass  er  die  Berührung  irgend  einer  menschlichen 
Hand  fürchtete,  so  dass  er  sich  selbst  rasierte  und 
anzog;  um  von  ihm  empfangen  zu  werden,  bedurfte 
es  so  vieler  Vorsichtsmassregeln  und  Gesundheits- 
atteste wie  in  einem  Pestlazarett.  Mir,  als  Polen,  also 
einem  Nachbarn  der  Türken,  war  der  Zutritt  beson- 
ders schwierig. 

Ich  war  erstaunt,  einen  kleinen  Mann  im  Schlaf- 
rock vorzufinden,  ohne  Unterhosen,  in  Pantoffeln, 
stets  eine  abscheuliche  Perücke  und  einen  noch  ab- 
scheulicheren Hut  auf  dem  Kopfe;  in  diesem  Auf- 
zug ging  er  manchmal,  aber  nur  selten,  auf  die 
Strasse;  während  der  Unterhaltung  mit  seinen  Gä- 
sten lief  er  im  Zimmer  auf  und  ab,  öffnete  fortwäh- 
rend seinen  Schlafrock,  trat  an  einen  der  zur  Hälfte 
mit  Sand  gefüllten  Eimer  heran,  die  in  regelmässigen 
Abständen  auf  dem  Parkett  aufgestellt  waren,  und 
verrichtete  seine  Notdurft. 


i  06 


FÜNFTES    KAPITEL 

ANKUNFT  IN  PARIS.  MADAME  DE  BEZENVAL.  — 
MADAME  DE  BROGLIE.  IHR  BBÜDER,  BARON  DE 
REZENVAL.  GRAF  FRIESE.  —  MYLORD  ALBE- 
MARLE.  —  HERZOGIN  DE  BRANCAS.  —  HERZOG 
VON  RIGHELIEU.  —  LUDWIG  XV.,  DIE  KÖNI- 
GIN. —  MADAME  DE  POMPADOUR.  DER  DAUPHIN, 
VATER  LUDWIGS  XVI.  SEINE  FRAU.  SEINE 
SCHWESTERN.  —  MARSCHALL  DE  NOAILLES. 
SEINE  FRAGEN.  MEIN  ARENTEÜER.  —  MADAME 
GEOFFRINS  RÜGE.  —  REISE  NACH  PONTOISE.  — 
MADAME  DE  LA  FEBTE-IMBAULT.  —  PORTRÄT 
VON  MADAME  GEOFFRIN.  —  MONTESQUIEU.  — 
FONTENELLE.  —  DER  HERZOG  DE  GEVRES. 
FRANZÖSISCHE  UND  ITALIENISCHE  MUSIK.  EXIL 
DES  PARLAMENTS.  —  PRINZ  CONTI.  —  SEIN 
SOHN  UND  SEINE  SCHWESTER,  DIE  HERZOGIN 
VON  ORLEANS.  —  DER  HERZOG  VON  ORLEANS.  — 
SEIN  HOF.  —  ABBE  ALLAIRE.  —  MABSCHALL  DE 
BELLE-ISLE.  —  HEBZOG  DE  NIVERNAIS  UND  GBAF 
DE  GISORS.  —  MADEMOISELLE  DE  CHAROLAIS.  — 
MAHNUNG  ZUR  RESCHEIDENHEIT  FÜR  JENE, 
DIE  NACH  PARIS  GEHEN.  —  FONTAINEBLEAU.  — 
LA  CHETARDIE  UND  VALORY.  —  JAKUBOW- 
SKI.  —  VORSTELLUNG.  —  MYLORD  NORTH. 
MYLORD  DARTMOUTH.  —  VERSAILLES.~DER 
LOUVRE.  —  DIE  KÜNSTE.  MADAME  DE  POMPA- 
DOUR. MONSIEUR  DE  MARIGNY.  —  ALLGEMEINE 
KONVERSATION  IN  PARIS.  NATIONALCHARAK- 
TER. —  SYMPATHIE  DER  POLEN  FÜR  DIE  FRAN- 
ZOSEN. —  LA  TOUR.  ABRE  BABTHELEMI.  D'ALEM- 
BEBT.  PRÄSIDENT  HENAULT.  —  DER  TANZMEI- 
STER MARCEL.  —  HERZOG  DE  CHOISEUL.  —  KA- 
PITÄN STANHOPE.  MEINE  ABREISE.  —  CHANTILLY. 


Zwei  Monate  hielt  ich  mich  in  Holland  auf,  dann 
begab  ich  mich  nach  Paris,  wo  ich  am  letzten 
August  anlangte ;  fünf  Empfehlungsbriefe  vermittel- 
ten mir  den  Zutritt  zu  fünf  ganz  verschiedenen  Ge- 
sellschaftskreisen und  allerlei  Bekanntschaften. 

Der  erste  Brief  war  von  meinem  Vater  an  Madame 
de  Bezenval,  geborene  Bielinska,  eine  leibliche  Cousine 
meiner  Mutter,  Witwe  eines  Schweizers,  der  früher 
französischer  Gesandter  in  Polen  gewesen  und  als  er- 
ster Offizier  der  Schweizer  Garden  in  Frankreich  ge- 
storben war.  Das  Haus  dieser  Tante  gewährte  mir  vor 
allem  die  Annehmlichkeit,  in  Paris  eine  Art  Heim  zu 
haben;  ich  konnte  dort  jederzeit  ein  und  aus  gehen; 
dieser  Vorteil  wurde  für  mich  um  so  bedeutungsvoller, 
als  meine  Tante  zwei  Kinder  hatte;  ihr  Sohn,  Baron 
de  Bezenval,  bekleidete  bereits  einen  hohen  Rang  in 
demselben  Korps,  das  sein  Vater  kommandiert  hatte, 
und  galt  in  der  schönen  Welt  als  erstklassiger  Elegant; 
er  empfahl  mich  dem  Herzog  von  Richelieu,  dem  er- 
sten diensttuenden  Kammerherrn,  der  mich  dem  König 
vorstellen  sollte.  Die  Schwester  des  Barons  de  Bezen- 
val, die  Witwe  eines  Marquis  de  Broglie,  begann  jetzt, 
nachdem  sie  früher  in  der  grossen  Welt  gelebt,  den 
Ton  der  Reform  und  beinahe  der  Frömmelei  anzu- 


108 


schlagen  und  sich  auf  den  Verkehr  mit  den  respek- 
tabelsten Personen  (so  wurden  sie  genannt)  zu  be- 
schränken; die  Allüren  dieser  beiden  Menschen  be- 
einflussten  die  Art  der  Bekanntschaften,  die  sie  mir 
vermittelten. 

Der  zweite  Brief,  auch  von  meinem  Vater,  empfahl 
mich  an  Madame  Geoffrin. 

Den  dritten  Brief  hatte  General  Fontenay  aus 
Dresden  an  den  Grafen  Friesen  geschrieben,  den 
Neffen  des  Marschalls  von  Sachsen,  damals  intimen 
Freund  des  Barons  Bezenval,  der  mit  ihm  die  Gunst 
der  allerbesten  Gesellschaft  teilte  und  den  die  Öffent- 
lichkeit als  einen  jener  Feldmarschälle  der  französi- 
schen Armee  bezeichnete,  die  sich  im  nächsten  Kriege 
am  meisten  auszeichnen  würden.  Acht  Tage  nach  mei- 
ner Ankunft  reiste  er  nach  Dresden  ab ;  während  dieser 
kurzen  Zeit  Hess  er  es  sich  ganz  besonders  angelegen 
sein,  mich  in  dem  Hause  des  Herzogs  von  Orleans  und 
der  Herzogin  von  Luxemburg,  geborenen  Villeroi,  vor- 
zustellen und  noch  in  einigen  anderen  führenden  Häu- 
sern und  zwar  solcherart,  dass  mir  ein  Empfang  zu- 
teil wurde,  wie  er  sonst  den  in  jenem  Lande  debü- 
tierenden Fremden  gewöhnlich  nicht  bereitet  wird. 
Ich  kann  sagen,  dass  ich  den  grössten  Teil  der  dort 
genossenen  Annehmlichkeiten  dem  Grafen  Friesen 
verdanke. 

Der  Chevalier  Williams  hatte  mir  einen  Brief  an 
den  Grafen  d'Albemarle  mitgegeben,  damals  eng- 
lischen Gesandten  in  Paris,  aber  erst  einen  Monat 
nach  meiner  Ankunft  gelang  es  mir  ihn  zu  sehen, 
als  der  Chevalier  Williams  ihm  durch  seinen  Hof  an- 
empfahl, für  mich  nicht  unerreichbar  zu  sein;  er 
war   dann    sehr  honett   zu  mir,    und  ich  lernte   in 

109 


ihm  nicht  nur  einen  schätzenswerten  Menschen  ken- 
nen, wie  viele  Engländer  es  sind,  sondern  auch  einen 
Menschen  von  so  besonderer  Liebenswürdigkeit,  dass 
die  Franzosen  wetteiferten,  um  ihm  ihre  Zuvorkom- 
menheit zu  beweisen,  und  sich  nur  beklagten,  dass  er 
sie  nicht  genügend  erwiderte;  er  genoss  auch  den  für 
einen  fremden  Minister  seltenen  Vorzug,  dass  Lud- 
wig XV.  sich  in  seiner  Gesellschaft  wohl  fühlte  und 
sich  oft  und  gerne  mit  ihm  unterhielt;  sein  Haus  be- 
deutete für  mich  in  Paris  jedoch  nur  eine  englische 
Gesellschaft,  die  ich  als  solche  ziemlich  oft  und  mit 
viel  Vergnügen  aufsuchte,  die  mir  aber  keine  franzö- 
sischen Verbindungen  einbrachte. 

Die  Gräfin  Brühl  hatte  mir  einen  Brief  für  Madame 
de  Brancas  mitgegeben,  die  erste  Hofdame  der  da- 
maligen Dauphine  (Tochter  König  Augusts  III.  von 
Polen).  Diese  bejahrte  Dame  schien  mir  ein  leben- 
diges Abbild  der  Damen  des  Hofes  Ludwigs  XIV.  zu 
sein.  Ihr  Stil,  ihr  Gebaren,  ihre  Art  der  Höflich- 
keit erinnerten  mich  in  jedem  Augenblick  an  alle 
Anekdoten,  die  ich  über  jenen  Hof  gelesen,  mit  Aus- 
nahme einer  einzigen  Frage,  die  sie  bei  unserem  zwei- 
ten Zusammentreffen  in  Gegenwart  von  zwanzig  Per- 
sonen an  mich  richtete:  sie  fragte  mich,  ob  ich  wisse, 
wer  den  Herzog  von  Aquitanien  gemacht  habe  (den 
älteren  Bruder  des  jetzt  regierenden  Königs  Lud- 
wig XVI.,  der  vor  ihm  gestorben  ist).  Man  kann  sich 
meine  Verlegenheit  leicht  vorstellen;  es  freute  sie, 
diese  Verlegenheit  noch  zu  vergrössern,  indem  sie  die 
Frage  wiederholte  und  mich  zu  einer  Antwort  drängte. 
Errötend  sagte  ich  endlich,  es  könne  doch  offenbar 
nur  der  Herr  Dauphin  gewesen  sein.  „Nun,"  sagte  sie, 
„er  ist  es  nicht  gewesen,  raten  Sie  besser." 

I  10 


„Ach!  Madame!  Ich  kann  nicht;  erlasset  es  mir 
gnädigst." 

„So  muss  ich  es  Ihnen  sagen;  der  heilige  Franzis- 
kus-Xaver ist  es  gewesen.  Die  Königin  von  Polen 
hatte  ihrer  Tochter  geschrieben,  sie  solle  ihm  gewisse 
Höflichkeiten  erweisen;  Madame  la  Dauphine  er- 
mangelte nicht,  und  das  trug  uns  den  Herzog  von 
Aquitanien  ein." 

Fast  jedesmal,,  so  oft  ich  in  Versailles  war,  dinierte 
ich  bei  Madame  de  Brancas  und  hörte  stets  mit  gröss- 
tem  Interesse  ihren  Erzählungen  von  der  Vergangen- 
heit und  von  der  Gegenwart  zu.  Ohne  sich  selbst  zu- 
gunsten des  alten  Hofes  zu  erklären,  verstand  sie  es 
doch,  den  Geist  ihrer  Zuhörer  zu  dieser  Ansicht  zu 
führen.  Hätte  ich  nicht  gewusst,  dass  sie  Madame  de 
Maintenon  gekannt,  so  hätte  ich  es  aus  ihrem  Stil  und 
ihrem  ganzen  Gebaren  erraten. 

Ich  könnte  den  Stil  ihrer  Konversation  nicht  besser 
schildern  als  durch  die  Antwort,  welche  sie  der  Grä- 
fin Brühl  in  bezug  auf  meine  Person  erteilte.  Ich 
darf  wohl  vom  Leser  erwarten,  dass  er  in  Anbetracht 
meines  Alters,  da  ich  dies  niederschreibe,  neunzehn 
Jahre  nach  dem  Datum  des  Briefes,  die  hier  folgende 
Kopie  nicht  meiner  Eitelkeit  zur  Last  legen  sondern 
lediglich  meinem  Wunsche  zuschreiben  wird,  er  möge 
durch  diese  Probe  die  Sprache  einer  Persönlichkeit 
kennen  lernen,  die  Madame  de  Maintenon  gekannt 
hatte.  Hier  folgt  der  Brief. 

Kopie  des  Briefes,  den  die  Herzogin  de  Brancas  an 
die  Gräfin  Brühl  unter  dem  Datum  vom  7.  Dezem- 
ber 1753  in  Versailles  schrieb,  nach  der  Rückkehr 
von  Fontainebleau : 

1  I  1 


„Man  muss  Ihnen  wohl  Rechenschaft  ablegen,  Ma- 
dame, über  das  Kind,  das  Sie  mir  anvertraut  haben; 
ich  habe  es  hier  vorgefunden,  aber  so  glänzend,  so 
befähigt  mit  eigenen  Flügeln  zu  fliegen,  dass  meine 
Hilfe  ihm  ganz  unnötig  war.  Alle,  die  seinen  Herrn 
Vater  gekannt  haben,  waren  entzückt,  den  Sohn  je- 
nes Mannes  wiederzufinden,  den  man  mit  dem  Vers 
bezeichnet :  ,cetait  lui  qui  etait  Vami,  le  compagnon  et 
le  rivale  d \Alcide. .'  Ich  habe  der  Verehrung,  die  man 
ihm  in  Frankreich  bewahrt,  nichts  hinzuzufügen  ge- 
habt; die  Tugenden  der  Frauen  jedoch  sind  verbor- 
gener, und  so  habe  ich  alles,  was  mir  über  Ihre  aus- 
gezeichnete Freundin  in  den  Sinn  gekommen  ist,  er- 
zählt und  habe  Sie  als  Bürgen  der  höheren  Vorzüge 
genannt,  deren  Spuren  in  dem  Grafen  Poniatowski 
leicht  wiederzufinden  sind.  Und  in  der  Tat,  Madame, 
man  kann  von  ihm  nicht  genug  Gutes  sagen;  ich  bin 
nie  einem  Ausländer  begegnet,  der  mit  so  vielen  Vor- 
zügen hier  angekommen  und  befähigter  wäre,  so  viel 
Nutzen  aus  seinen  Reisen  zu  ziehen.  Er  scheint  nicht 
allein  die  Gesetze,  Sitten  und  Gebräuche  Polens  zu 
kennen  sondern  auch  aller  Länder,  die  zu  ihm  in 
Beziehung  stehen.  Er  kennt  unsere  Geschichte  und 
die  Anekdoten  einer  jeden  Regierung;  seine  Konver- 
sation ist  angenehm  und  steht  hoch  über  jener  der 
Mehrzahl  unserer  Franzosen.  Er  versucht  es,  sich  über 
alles  zu  instruieren,  und  ist  in  gleicher  Weise  um  die 
Wissenschaften,  um  die  Regierun gsmaximen,  um  mi- 
litärische und  kriegerische  Dinge  beflissen.  Es  gibt 
nichts,  womit  er  sich  nicht  beschäftigen  würde,  wor- 
über er  nicht  sprechen  könnte  und  zwar  sehr  gut, 
ohne  Überhebung,  bescheiden;  er  ist  ein  guter  Ge- 
sellschafter sowohl  für  einen  Minister  als  auch  für 

I  l  2 


Marie  Leszczynska,  Königin  von  Frankreich 


einen  Armeegeneral,  für  einen  Akademiker  oder  für 
eine  alte  Hofdame,  und  ich  höre,  unsere  jungen  und 
schönen  Damen  glauben,  er  verstehe  es  wohl  zu  ge- 
fallen und  habe  überall  Erfolg.  Er  gibt  all  diese  Vor- 
züge seiner  Person  nicht  zu,  sagt  aber,  dass  die  un- 
endliche Sorge  seiner  Frau  Mutter  um  die  Erziehung 
ihrer  Kinder  ihn  so  gestaltet  haben  müsste,  als  man 
ihm  einreden  wolle,  dass  er  es  sei.  Er  spricht  von  ihr 
mit  einer  Verehrung  und  Achtung,  die  darauf  hin- 
deuten, dass  die  Eigenschaften  seines  Herzens  denen 
seines  Geistes  und  seines  Charakters  nicht  nachstehen. 
Ich  sehe  voraus,  dass  aus  ihm  sicher  ein  nützliches 
Mitglied  seines  Landes  werden  wird.  Er  hat  es  über- 
nommen, Ihnen  ein  Porträt  meiner  Fürstin  zu  ent- 
werfen, um  Sie  vor  dem  Schrecken  und  dem  Schmerz 
zu  bewahren,  den  Ihnen  das  Porträt  verursachen 
würde,  welches  sie  der  Gräfin  von  Loss  gegeben  hat 
und  das  scheusslich  ist  und  nicht  die  geringste  Ähn- 
lichkeit mit  dem  so  jungen,  dem  reizendsten  und  lieb- 
lichsten Gesichtchen  aufweist;  wahrlich,  man  könnte 
sie  noch  für  die  Prinzessin  Marie  Josephe  halten,  trotz 
ihrer  dreifachen  Mutterschaft.  Ich  weiss  nicht,  Mada- 
me, ob  Sie  der  Meinung  sind,  ich  würde  den  Maugel 
einer  Antwort  von  Ihnen  geduldig  hiunebmen  und 
den  Glauben,  Sie  hätten  mich  ganz  vergessen;  Sie 
würden  sich  im  grössten  Irrtum  befinden,  Sie,  die  doch 
die  Wahrheit  lieben,  denn  ich  kann  versichern,  nie- 
mand verlangt  mehr  danach,  sich  von  Ihrer  Güte 
umschmeichelt  zu  sehen,  niemand  ist  Ihnen  mehr  er- 
geben und  hat  die  Ehre  es  zu  sein  als  ich,  Madame, 
Ihre  niedrigste  und  gehorsamste  Dienerin, 

Herzogin  de  Biancas." 
Ich  habe  bei  dieser  Dame  des  öfteren  den  Herzog 

8   Poniatowski  I  I  3 


von  Richelieu1)  gesehen.  Die  ungewöhnliche  Neu- 
gierde, die  seine  sonderbare  Berühmtheit  in  mir  ge- 
weckt, wurde  zum  Teil  durch  verschiedene  Reden 
befriedigt,  die  er  in  meiner  Anwesenheit  gehalten 
hat;  was  mich  am  meisten  frappierte,  war  sein  Nach- 
weis der  Ungültigkeit  einer  Art  Zwischentribunals 
(tribunal  intermediairej,  das  die  Regierung  damals  an 
Stelle  des  für  einige  Monate  nach  Pontoise  verbannten 
Parlaments  eingesetzt  hatte,  weil  es  einigen  ihrer 
Wünsche  nicht  willfahren  wollte.  Ich  fand  den  Her- 
zog von  Richelieu  ebenso  beredt  wie  kühn;  es  schien 
mir,  dass  Voltaire  mit  Recht  sich  über  ihn  so  wohl- 
wollend und  lobend  geäussert  hat  und  dass  Mazulhim 
nicht  immer  nur  ein  galanter  Held  war;  damals  hatte 
er  schon  ein  Denkmal  in  Genua;  seither  hat  er  Mi- 
norka  im  Sturm  genommen,  zur  Placierung  Madame 
du  Barrys  beigetragen  und  die  Parlamente  aufgeho- 
ben; Voltaire  hat  aufgehört  ihn  zu  loben  und  er  gilt 
nur  noch  als  die  Mumie  eines  veralteten  Hofmanns. 
Er  war  es,  der  mich  dem  König  von  Frankreich  vor- 
gestellt hat,  welcher  der  Sitte  gemäss  nichts  zu  mir 
sagte,  sondern  den  Herzog  von  Richelieu  fragte,  ob 
ich  mehrere  Brüder  habe.  Man  liess  mich  diese  Worte 
als  einen  Beweis  unter  tausend  anderen  dafür  bewer- 
ten, wie  genau  dieser  Fürst  die  Daten  der  Genealo- 
gie im  Gedächtnis  behält  sowie  das  Alter  und  das 

*)  Louis  Francois  Armand  Duplessis,  Herzog  von  Richelieu, 
Marschall  von  Frankreich  (1696 — 1788),  in  seinen  jungen 
Jahren  berühmt  durch  seine  Liebesabenteuer,  nahm  später 
am  Kriege  gegen  Österreich  teil,  übernahm  1748  das  Kom- 
mando zu  Genua  und  war  so  tapfer,  dass  die  Genuesen  bei 
dem  König  seine  Erhebung  zum  Marschall  erwirkten.  Anm. 
d.  Herausg. 

n4 


Gesicht  der  ihm  einmal  gezeigten  oder  vorgestellten 
Personen. 

Die  Königin  Marie  Leszczynska  empfing  mich  wie 
jeden  Polen  mit  jener  Höflichkeit,  die  bei  ihr  einer 
besonderen  Zärtlichkeit  für  das  Land  entsprang,  wo 
sie  zwar  geboren  war,  das  sie  aber  in  der  Wiege  ver- 
lassen, um  es  nie  wieder  zu  sehen;  sie  sprach  ausge- 
zeichnet die  Sprache  ihrer  Heimat  und  unterhielt 
sich  nie  französisch  mit  solchen,  die  Polnisch  kannten. 

Obwohl  diese  Begebenheit  sehr  schmeichelhaft 
war  und  trotzdem  die  Königin  ihren  Landsleuten 
einen  ausgesprochenen  Vorzug  gewährte,  hatte  ihre 
Gunst  kein  grosses  Relief,  besonders  seitdem  sie  aus 
schlecht  verstandener  Devotion  ihren  Gemahl  ge- 
zwungen hatte,  ihr  Bett  zu  verlassen,  das  sie  aus  die- 
sem Grunde  mit  für  ihn  unerträglichen  Gerüchen  an- 
füllte; er  hatte  sie  innig  und  ausschliesslich  geliebt 
und  zwar  so  sehr,  dass  er,  sobald  man  in  seiner  Ge- 
genwart eine  Frau  lobte,  gewöhnlich  fragte:  „Ist  sie 
schöner  als  die  Königin?"  Und  erst  seit  die  Königin 
nach  asketischer  Reinheit  verlangte,  hat  sich  der  Kö- 
nig Mätressen  angeschafft. 

Madame  de  Pompadour,  die  es  seit  mehreren  Jah- 
ren war,  strahlte  damals  noch  im  Glänze  ihrer  Schön- 
heit; das  ist  alles,  was  ich  von  ihr  sagen  kann,  denn 
mein  Missgeschick  verursachte  immer  einen  Zwischen- 
fall, der  mich  hinderte,  sie  sprechen  zu  hören  und  sie 
ausser  dem  einen  Augenblick,  wo  ich  ihr  vorgestellt 
wurde,  auch  nur  zu  sehen. 

Damals  ahnte  man  in  Frankreich  noch  nicht  all 
die  Qualitäten  des  Dauphins,  des  Sohnes  Ludwigs  XV., 
die  man  dann  kurz  vor  seinem  Tode  entdeckte;  seine 
Gemahlin  galt  als  geistvoll,  war  aber  nicht  beliebt; 

8'  I  l  5 


von  den  Töchtern  des  Königs  von  Frankreich  sprach 
man  nur,  um  die  grosse  Zärtlichkeit  des  Vaters  zu 
ihnen  hervorzuheben. 

Noch  ein  Mann  figurierte  damals  am  Hofe  von 
Frankreich,  dessen  Name,  seine  Art  sich  zu  kleiden 
und  seine  Redeweise  an  die  Zeiten  Ludwigs  XIV.  er- 
innerten und  dessen  Charakter  notwendigerweise  Re- 
spekt und  Anhänglichkeit  heischte.  Dieser  Mann  war 
der  alte  Marschall  de  Noailles l) ;  er  hatte  meinen  Va- 
ter sehr  geliebt;  mich  empfing  er  mit  dem  grössten 
Wohlwollen,  nannte  mich  sein  Kind  und  gefiel  sich 
so  sehr  darin,  mich  über  allerlei  zu  befragen,  dass  er 
eines  Tages  auch  folgende  Frage  an  mich  richtete : 

„Was  spricht  man  in  den  Ländern,  aus  denen  Sie 
kommen,  über  uns  Minister  von  Frankreich?" 

„Befehlen  Sie  mir  aufrichtig  zu  sein?"  antwor- 
tete ich. 

„Ja,"  sagte  er,  „ich  will  und  verlange  es." 

„Nun,  Herr  Marschall,  so  gestatten  Sie  mir  zu  sa- 
gen, dass  Deutsche,  Holländer  und  Engländer  darin 
übereinstimmen,  würde  die  französische  Politik  im- 
mer im  Geiste  des  Marschalls  de  Noailles  geleitet, 
so  könnte  man  Vertrauen  zu  ihr  fassen,  denn  man 
würde  glauben,  sie  Hesse  sich  von  den  Prinzipien  der 
Gerechtigkeit  und  Aufrichtigkeit  leiten,  die  Frank- 
reich dienlich  sein  und  die  anderen  beruhigen  könn- 

*)  Adrien  Maurice  Herzog  de  Noailles,  Marschall  von  Frank- 
reich (1678  — 1766),  befehligte  im  spanischen  Erhfolgekrieg 
ein  französisches  Armeekorps;  wahrend  der  Regentschaft  des 
Herzogs  von  Orleans  wurde  er  an  die  Spitze  des  Finanzwesens 
gestellt.  Später  brachte  er  die  Leitung  aller  auswärtigen  Ver- 
hältnisse in  seine  Hand  und  söhnte  1746  den  spanischen  Hof 
mit  Frankreich  aus.   Anm.  d.  Herausg. 

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ten;  der  Marschall  de  iSoailles  ist,  wie  die  Engländer 
sagen,  ein  gentleman,  man  kann  auf  seine  Worte 
bauen.  Und  ich  habe  dieselben  Leute  ungefähr  das- 
selbe vom  Marquis  de  Puisieux1)  sagen  hören." 

Der  Marschall  erwiderte  nichts,  wechselte  das 
Thema  und  verliess  das  Zimmer,  wo  ich  mit  der  Grä- 
fin de  la  Marck,  seiner  Tochter,  und  Madame  de 
Brancas  zurückblieb,  die  man  ihrer  Gestalt  wegen  die 
Grosse  nannte.  Ich  sah,  wie  diese  Frauen  eine  Zeit- 
lang ganz  leise,  scheinbar  aber  sehr  animiert,  mitein- 
ander sprachen;  endlich  erhob  die  Gräfin  de  la  Marck 
die  Stimme  und  sagte  zu  mir  : 

„Monsieur  de  Poniatowski,  ich  kann  mich  nicht 
beherrschen,  ich  muss  Ihnen  sagen,  dass  wir  erstaunt 
und  bis  zum  Aussersten  chokiert  waren  als  wir  hör- 
ten, wie  Sie  den  Herrn  mit  dein  Lakaien  verglichen ; 
wissen  Sie  denn  nicht,  dass  Herr  de  Puisieux  alles  was 
er  ist  dem  Herrn  Marschall  de  iNoailles  verdankt  und 
dass  er  nicht  der  Mann  ist,  um  je  an  dessen  Seite  ge- 
stellt zu  werden?" 

„Ich  schwöre  es  Ihnen,  Madame,"  antwortete  ich, 
„dass  ich  das  alles  nicht  wusste  und  dass  ich  weit  da- 
von entfernt  war,  irgend  etwas  sagen  zu  wollen,  was 
Ihnen  hätte  missfallen  können." 

Je  mehr  ich  mich  entschuldigte,  um  so  mehr 
schimpfte  sie,  und  nur  mit  Mühe  gelang  es  dem  Mar- 
schall, der  hinzukam,  sie  endlich  mit  den  Worten 
zum  Schweigen  zu  bringen:  „Er  hat  es  nicht  boshaft 
gemeint. " 

Diese  Worte  liessen  mich  trotz  des  wohlwollenden 

x)  Marquis  de  Puisieux  (Puvzieulx)  war  in  den  Jahren  1748 
bis  1751  Sekretär  im  Amt  der  auswärtigen  Angelegenheiten. 
Anm.  d.  Herausg. 

I  17 


Tones,  den  der  Greis  mir  gegenüber  bewahrte,  doch 
fühlen,  dass  er  mich  nicht  frei  von  Schuld  fand,  und 
ich  konnte  mich  nicht  von  meiner  Bestürzung  erho- 
len, einen  Puisieux  Lakai  schimpfen  zu  hören,  der 
doch  im  Amte  eines  französischen  Ministers  so  vielen 
seiner  Ahnen,  deren  Namen  bereits  der  Geschichte  an- 
gehörten, gefolgt  war. 

Drei  Tage  später  ging  ich  zu  Madame  Geoffrin ;  seit 
meiner  Ankunft  hatte  sie  mich  mit  Höflichkeiten, 
Zärtlichkeiten  und  sogar  übermässigen  Schmeicheleien 
überhäuft.  Ich  war  nicht  wenig  erstaunt,  als  ich  sie 
hei  meinem  Eintritt  mit  in  die  Hüften  gestemmten 
Fäusten  auf  mich  zukommen  sah  und  sie  mich  mit 
einem  zornigen  Ausdruck  im  Gesicht  fragte: 

„Was  haben  Sie  denn,  Sie  Jüngling,  dem  Marschall 
de  Noailles  über  Monsieur  de  Puisieux  gesagt?" 

Ich  erzählte  ihr  die  Geschichte  ganz  genau.  Nach- 
dem sie  mich  angehört  hatte,  sagte  sie: 

„Merken  Sie  sich,  grosse  bete,  dass  wenn  ein  Mann 
Sie  fragt:  ,was  spricht  man  von  mir?',  er  haben  will, 
dass  man  ihn  lobt  und  nur  ihn  allein  lobt." 

Ich  unterwarf  mich  gelassen  der  Belehrung  und 
versuchte  mich  an  die  verschiedenen  Ausdrücke  zu 
gewöhnen,  die  Madame  Geoffrin  je  nach  den  Umstän- 
den anwandte,  und  ich  überzeugte  mich  bei  dieser 
Gelegenheit  wie  noch  bei  tausend  anderen,  dass  ein 
zu  glänzendes  Debüt  das  Vorzeichen  einer  unabwend- 
baren Niederlage  ist.  Die  Gunst,  die  ich  während  der 
ersten  zwei  Wochen  bei  Madame  Geoffrin  genossen, 
grenzte  an  Enthusiasmus,  —  sie  hat  sich  später  dafür 
ordentlich  schadlos  gehalten!  Aber  der  Augenblick 
meiner  grössten  Drangsal  war  noch  nicht  gekommen. 

Sie  liess  mich  mit  ihrer  Tochter,  der  Marquise  de  la 

118 


Ferte-lmbault,  eine  Reise  nachPontoise  unternehmen, 
um  dort  die  Revue  des  Regiments  de  la  Mestre-de- 
Camp  anzusehen,  eines  Dragonerregiments,  das  da- 
mals als  Vorbild  der  Taktik  und  der  Kavallerieaus- 
bildung in  Frankreich  galt,  seitdem  ein  gewisser  la 
Porterie,  Major  in  jenem  Regiment,  dort  sein  Talent 
entfaltete. 

Mein  Rruder,  der  Grosskämmerer,  hatte  sich  mir 
gegenüber  oft  lobend  über  den  Wert  dieses  Korps  ge- 
äussert, mit  dein  er  die  Österreicher  im  Jahre  1 74 1 
in  Sahaj  (Böhmen)  bekriegt  hatte,  unter  Führung  die- 
ses selben  Herzogs  von  Chevreuse,  den  kennen  zu 
lernen  es  mich  brennend  verlangte  und  dem  ich  bei 
dieser  Gelegenheit  vorgestellt  wurde;  es  ist  derselbe, 
der  im  Jahre  1772  als  Gouverneur  von  Paris  gestor- 
ben ist.  Er  war  ein  Urenkel  von  Jean  d1  Albert,  dem 
Bruder  des  Konnetabel  von  Luynes,  und  durch  seine 
Frau  mit  dem  Grafen  dEgmont-Pignatelli  verschwä- 
gert, dem  heutigen  Schwiegersohn  des  Herzogs  Ton 
Richelieu. 

Ich  hätte  gewünscht,  auf  dieser  Reise  die  bedeu- 
tendsten Persönlichkeiten  des  Pariser  Parlaments 
kennen  zu  lernen,  die  damals  nach  Pontoise  verbannt 
waren;  ich  werde  es  immer  beklagen,  dass  ich  diese 
Klasse  der  französischen  Würdenträger  nicht  kennen 
lernte;  es  heisst,  sie  besässen  in  hervorragendem  Grade 
gewisse  Vorzüge,  die  anderen  Franzosen  wenig  eigen- 
tümlich sind:  Besonnenheit,  Gelehrsamkeit,  tief  ein- 
gewurzelte Prinzipien  über  die  Rechte  des  Menschen 
und  des  Bürgers,  welche  Vorzüge  dennoch  stets  von 
der  französischen  Grazie  umrahmt  werden. 

Nach  drei  Tagen  musste  ich  mit  Madame  de  la 
Ferte-lmbault  nach  Paris  zurückkehren ;  sie  war  etwas 

"9 


schwerhörig,  sehr  gesprächig  (sie  inachte  sich  jedoch 
seihst  über  die  Weitschweifigkeit  ihrer  Konversation 
lustig),  gütig  und  äusserst  liebenswürdig  ;  sie  wohnt 
im  selben  Hause  wie  ihre  Mutter,  deren  einziges  Kind 
sie  ist;  ihre  Mutter  erweist  ihr  zwar  viel  Gutes  und 
schätzt  sie  sehr,  findet  jedoch  an  dem  Zusammenleben 
durchaus  kein  Gefallen.  Madame  Geoffrin  sagte  mir 
wiederholt:  „ Meine  Tochter  hat  einen  guten  Charak- 
ter und  ist  geistreich,  aber  wir  passen  zu  einander  wie 
eine  Ziege  zu  einem  Karpfen."  Und  ich  muss  geste- 
hen, dass,  obgleich  ich  beide  sehr  gerne  hatte,  ich 
doch  froh  war,  sie  nicht  zusammen  zu  sehen;  denn 
ob  Madame  Geoffrin  gut  aufgelegt  oder  von  einer  ge- 
wissen Abneigung  erfasst  ist,  das  ist  ein  Unterschied 
wie  zwischen  dem  schönen,  heiteren  Himmel  im  Lande 
des  mildesten  Klimas  und  dem  Sturm  im  unwirtlich- 
sten Erdstrich. 

Diese  sonderbare  Frau  erfreut  sich  seit  vierzig  Jah- 
ren einer  hervorragenden  Achtung  bei  fast  allen  Per- 
sonen Frankreichs,  denen  Verdienst,  Talent  oder 
Schönheit  ein  grosses  Ansehen  verleiht,  und  sie  ver- 
dankt diese  Achtung  der  Anmut  ihres  Geistes,  den 
Gefälligkeiten,  die  sie  mit  Eifer  und  grosser  Geschick- 
lichkeit willig  leistet,  und  zahlreichen  wirklich  gene- 
rösen Handlungen.  Ihr  Leben  wird  gewiss  beschrieben 
werden  und  könnte,  obgleich  in  ganz  verschiedener 
Art,  ein  Gegenstück  zum  Leben  der  Ninon  de  Lenclos 
bilden. 

Noch  mit  siebzig  Jahren  geht  sie  rüstig  zu  Fuss, 
schreibt,  bemüht  sich  für  ihre  Freunde,  zankt  mit 
ihnen  und  tyrannisiert  sie  sogar  mit  derselben  Leb- 
haftigkeit wie  vor  dreissig  Jahren.  Am  stolzesten  ist 
sie  auf  ihre  tiefe  Menschenkenntnis,  es  geschieht  je- 

120 


doch,  dass  sie  sich  auch  hierin  täuscht,  ebenso  wie  im 
Ressort  der  schönen  Künste;  aber  wehe  jenem,  der  es 
sich  anmerken  lässt,  er  hätte  sie  auf  einem  Irrtum  er- 
tappt! Ihre  überaus  grosse  Lebhaftigkeit  gibt  sowohl 
ihrem  Lob  wie  ihrem  Tadel  einen  besonders  energi- 
schen Ausdruck;  oft  wird  sie  von  ihr  fortgerissen, 
was  jedoch  nicht  hindert,  dass  Madame  Geoffrin 
gewöhnlich  sehr  viel  Haltung,  grosse  Ordnung  in 
ihren  Angelegenheiten  und  sogar  eine  grosse  Geschick- 
lichkeit besitzt,  die  Mächtigen  und  Einflussreichen 
auf  jedem  Gebiet  für  sich  einzunehmen.  Sie  ist  zu 
auffallend  und  zu  lebhaft,  um  keine  Feinde  zu  haben; 
verschiedene  von  ihren  Feinden  gefallen  sich  darin, 
Anekdoten  über  ihre  Jugend  zu  verbreiten,  und  unter 
anderem  sagen  sie,  sie  sei  barmherzige  Schwester  bei 
den  Nonnen  gewesen;  doch  das  wäre  in  Wirklichkeit 
der  beste  Beweis  ihres  Könnens  und  der  überaus  gros- 
sen Anmut  ihres  Geistes  —  sobald  sie  bei  guter 
Laune  ist  — ,  wenn  sie  aus  solcher  Tiefe  zu  so  hoher 
Stufe  der  allgemeinen  Achtung  emporklimmen  und 
dort  festen  Fuss  fassen  konnte. 

Ich  habe  bei  ihr  den  Präsidenten  Montesquieu  ken- 
nen gelernt;  er  hat  ihr  grosse  Freundschaft  bezeugt, 
sie  vergötterte  ihn  jedoch  durchaus  nicht,  wie  man 
es  aus  einigen  Briefen  an  einen  gewissen  Abbe  Guasco 
herausgelesen  hat,  die  dieser  aus  Rache  gegen  Ma- 
dame Geoffrin  veröffentlichte.  Ich  werde  es  nie  ver- 
gessen, dass  ich  diesen  bedeutenden  Mann  bei  ihr  ein 
Lied  singen  hörte,  das  er  selbst  auf  die  berühmte 
Herzogin  de  la  Valliere  komponiert  hatte,  die  sehr 
schön  und  noch  mit  siebenundfünfzig  Jahren  jung  zu 
sein  schien  und  die  ich  gleichfalls  bei  Madame  Geoffrin 
kennen  lernte,  deren  Freundin  sie  seit  dreissig  Jahren 

121 


ist.  Nur  der  langjährige  Verkehr  mit  Madame  Geoffrin 
konnte  den  Präsidenten  Montesquieu  aus  seiner  über- 
aus grossen  Schlichtheit,  Bescheidenheit  und  Zurück- 
haltung heraustreten  lassen,  die  ihn  für  gewöhnlich 
wie  mit  einem  Schleier  umhüllen,  in  den  er  sich  an- 
scheinend oft  verwickelt  und  verwirrt;  er  schien  durch- 
aus nicht  zu  wissen,  welchen  Respekt  der  Ruf  seiner 
Bücher  allen  einflösste. 

Madame  Geoffrin  erlaubte  mir,  etlichemal  an  jenen 
Tagen  bei  ihr  zu  dinieren,  an  denen  sie  einige  Ge- 
lehrte bei  sich  zu  Gast  hatte;  ich  war  so  glücklich, 
bei  ihr  Fontenelle  noch  lebend  zu  sehen.  Madame 
Geoffrin  liess  einen  kleinen  eisernen  Ofen  neben  ihn 
hinstellen,  um  ihn  mit  jener  Temperatur  zu  umgeben, 
die  sein  Alter  von  sechsundneunzig  oder  siebenund- 
neunzig Jahren  erheischte.  Bei  meiner  Grossmutter 
hatte  ich  es  mir  angewöhnt,  zu  tauben  Leuten  zu 
sprechen,  —  es  ist  nicht  nötig  zu  schreien,  man  muss 
nur  die  Silben  deutlich  und  langsam  aussprechen,  — 
das  brachte  mir  die  Gunst  einiger  sehr  schmeichel- 
hafter Unterhaltungen  mit  Fontenelle  ein;  am  Schlüsse 
seiner  Laufbahn  bewahrte  er  noch  die  Koketterie  des 
Geistes  und  die  gezierte  Ausdrucksweise  seiner  besten 
Zeit;  einmal  fragte  er  mich  mit  ganz  ernster  Miene, 
ob  ich  genau  so  gut  Polnisch  spräche  wie  Französisch. 

Ich  weiss  nicht,  welcher  Laune  zufolge  Madame 
Geoffrin  mich  niemals  zu  einem  ihrer  Künstlerdiners 
zuziehen  wollte;  aus  einigen  Anekdoten,  die  ich  später 
erfuhr,  schliesse  ich,  sie  wollte  nicht,  dass  ich  mit 
anhörte,  wie  jene  Herren  sich  die  Freiheit  nahmen, 
ihr  gar  oft  zu  widersprechen  und  sogar  ihre  Ansich- 
ten lebhaft  zu  tadeln.  Mein  Vater  hatte  mich  ihr  wie 
einer  zweiten  Mutter  empfohlen;  sie  hatte  sich  diese 

i  22 


Rolle  zugelegt  und  wachte  eifersüchtig  über  alles,  was 
dazu  dienen  konnte,  ihr  ihre  Rechte  über  mich  zu 
wahren ;  gewiss  ist,  dass  sie  mir  auch  die  aufrichtige 
Zärtlichkeit  einer  Mutter  bezeugte. 

Ich  kann  es  mir  uicht  versagen,  hier  einer  Persön- 
lichkeit zu  gedenken,  die  mir  zu  sonderbar  erschien, 
als  dass  man  sie  vergessen  dürfte.  Ich  spreche  vom 
Herzog  von  Gevres,  damals  Gouverneur  von  Paris. 
Ich  wurde  ihm  um  die  Mittagsstunde  vorgestellt;  er 
lag  zu  Rett,  die  Vorhänge  waren  zurückgeschlagen 
und  zu  beiden  Seiten  an  der  Wand  festgehalten,  wie 
es  sonst  bei  Damen  gegen  Ende  ihres  Wochenbetts 
üblich  ist,  wenn  sie  bereits  Resuche  empfangen.  Er 
war  sechzig  Jahre  alt,  trug  eine  Frauenhaube,  die 
unter  dem  Kinn  mit  Rändern  schloss,  und  war  mit 
einer  Knüpfarbeit  beschäftigt,  ganz  wie  eine  Frau. 
Und  dieser  Mann  hatte  Kriege  geführt!  Seine  wei- 
bischen Gewohnheiten  verwunderten  bereits  nieman- 
den und  das  Publikum  schien  ganz  mit  ihm  zu- 
frieden. Ich  sagte  mir:  „Man  unternimmt  Reisen,  um 
anderswo  Dinge  zu  sehen,  die  man  zu  Hause  nicht 
sehen  kann;  und  die  Ausserlichkeiten  zeigen  nicht 
immer  das,  was  auf  dem  Grunde  vorhanden  ist,  und 
man  muss  lernen  über  nichts  mehr  zu  staunen." 

Es  spielte  sich  damals  in  Paris  eine  Revolution  ab, 
die  man  in  Anbetracht  des  Interesses,  das  ein  grosser 
Teil  der  Franzosen  ihr  entgegenbrachte,  wichtig  nen- 
nen konnte ;  es  war  gerade  die  Epoche  der  Einführung 
der  italienischen  Musik  in  den  Theatern  von  Paris; 
dem  Eifer  der  Neuerer  wohnte  jener  Enthusiasmus 
inne,  der  neue  Sekten  keanzeichnet,  und  die  Schriften 
Jean-Jacques  Rousseaus  über  diese  Sache  lieferten 
Argumente  dafür  und  verliehen  ihnen  die  grösste  Au- 

I  23 


torität;  die  Anhänger  der  alten  Musik  Lullys  dagegen 
hielten  sich  für  die  kühlsten  Köpfe  der  Nation  und 
für  so  überlegene  Menschen,  dass  sie  so  weit  gingen 
zu  behaupten,  man  wäre  kein  Patriot,  wenn  man  die 
Bouffons  begünstigte.  So  nannte  man  die  wandernde 
Truppe  der  komischen  Oper,  die  aus  Italienern  be- 
stand und  der  es  durch  irgendwelche  glücklichen  Zu- 
fälle gelungen  war,  zwei  Monate  lang  das  Theater 
der  grossen  französischen  Oper  ausschliesslich  zu  be- 
haupten. Man  holte  die  stoischen  Geister  darüber 
stöhnen,  dass  elende  Histrionen  den  Platz  einzunehmen 
wagten,  wo  so  lange  die  falschen  Töne  der  Mademoi- 
selle  Fei  und  das  Meckern  des  grossen  Chasse  ver- 
nommen wurden,  zum  grossen  Erbauen  der  franzö- 
sischen Ohren. 

Da  inmitten  oder  vielmehr  an  der  Spitze  der  Gönner 
der  italienischen  Musik  mehrere  der  hervorragend- 
sten Enzyklopädisten  standen,  die  man  damals  für  ge- 
wöhnlich noch  nicht  mit  dem  Namen  der  Philosophen 
bezeichnete,  die  aber  schon  von  vielen  der  Irreligio- 
sität und  der  Huldigung  republikanischen  Maximen 
angeklagt  wurden,  so  geschah  es  ganz  unmerklich, 
dass  die  theologischen  Leidenschaften  und  der  Geist 
verschiedener  mehr  oder  weniger  monarchisch  ge- 
sinnter Parteien  ihren  Einfluss  in  der  Diskussion  die- 
ses Musikstreites  geltend  machten.  Er  trug  während 
meines  Aufenthalts  in  Paris  nicht  wenig  dazu  bei,  die 
Aufmerksamkeit  der  Interessierten  von  dem  verbann- 
ten Parlament  abzulenken. 

Jene  Verbannung  war  eines  von  den  Beispielen  der 
absoluten  Macht,  die  sich  seit  Ludwig  XIV.  die  Könige 
von  Frankreich  von  Zeit  zu  Zeit  anmassten.  Die  Par- 
lamentarier behaupteten  indessen,  ihr  Exil  wäre  nur 

i  24 


ein  vorüberziehendes  Gewitter  und  ihre  Ausdauer 
würde  sie  endlich  doch  dazu  führen,  eine  von  der  Na- 
tion geachtete  und  vom  Hof  selbst  anerkannte  Reprä- 
sentation des  Volkes  zu  werden.  Ludwig  XV.  wagte  es, 
das  Parlament  aufzulösen,  Ludwig  XVI.  richtete  es 
aber  wieder  auf,  und  obwohl  er  in  einen  Artikel  die 
ausdrückliche  Klausel  hineinbrachte,  er  behalte  sich  das 
Recht  vor,  das  Parlament  nach  Bedarf  wieder  aufzu- 
lösen, ist  die  allgemeine  Stimmung  in  Frankreich  von 
dem  Glauben  erfüllt,  die  Hoffnungen  der  Parlamen- 
tarier  könnten  sich  schliesslich  doch  realisieren  lassen. 

In  jener  Zeit  ahnte  man  noch  gar  nicht,  dass  die 
Auflösung  des  Parlaments  überhaupt  ein  Ding  der 
Möglichkeit  wäre.  Der  Prinz  de  Conti *),  damals  der 
einzige  Bourbon,  der  die  Aussöhnung  des  Parlaments 
mit  dem  König  zu  betreiben  schien  als  eine  für  beide 
Teile  gleich  notwendige  Sache,  erfreute  sich  deshalb 
der  Achtung  und  der  Dankbarkeit  der  Öffentlichkeit, 
trotz  der  Abnahme  seines  Ansehens  beim  König,  der 
ihm  gegenüber  sehr  kühl  geworden  war,  seitdem  der 
Prinz  offensichtlich  seine  Unlust  bezeugt  hatte,  sich 
vor  der  Favoritin  zu  beugen. 

Eine  Zeitlang  arbeitete  der  Prinz  de  Conti  regel- 
mässig alle  acht  Tage  mit  dem  König  zusammen,  un- 
ter Ausschluss  der  Minister,  die  jedoch,  wie  man  sagt, 
deswegen  wenig  Eifersucht  verspürten,  da  sie  voraus- 
sahen, die  Umstände  würden   es  so  fügen,  dass  der 

*)  Louis  Francois  Prinz  de  Conti  (171  7—  1776),  von  der  jün- 
geren Linie  des  bourbonischen  Hauses  Conde,  leitete  die  ge- 
heime Diplomatie  Ludwigs  XV.,  die  den  Ministem  völlig  ver- 
borgen blieb.  Mit  der  Favoritin  Marquise  de  Pompadour  ver- 
feindet, wurde  er  schliesslich  vom  König  in  Stich  gelassen. 
Anm.  d.  Herausg. 

125 


Prinz  die  Krone  Polens  schliesslich  doch  nicht  erlan- 
gen würde.  Er  war  jedoch  von  dieser  Idee  dermassen 
erfüllt,  dass  ein  Witzbold  sagte,  noch  drei  Tage  nach 
dem  jüngsten  Gericht  würde  der  Prinz  de  Conti  daran 
denken,  König  von  Polen  zu  werden.  Er  hatte  es  sich 
zur  Regel  gemacht,  jeden  Polen,  der  nach  Frankreich 
kam,  bestens  aufzunehmen;  so  auch  mich,  und  das 
gab  mir  die  Gelegenheit,  ihn  oft  und  ziemlich  genau 
zu  sehen.  Trotz  der  Popularitäts- Maximen,  die  er  an- 
fänglich sorgfaltig  zur  Schau  trug,  entschlüpften  ihm 
einzelne  Züge,  die  andeuteten,  Polen  würde  in  seiner 
Person  einen  König  erhalten,  der  unumschränkt  Herr 
sein  wollte.  Im  übrigen  war  er  in  Gesellschaft  liebens- 
würdig, liebte  es,  Heiterkeit,  Behaglichkeit  und  viele 
Leute  bei  sich  zu  sehen;  im  allgemeinen  dünkte  mich 
seine  Rede  die  eines  gebildeten  und  sogar  fleissigen 
Mannes;  obgleich  viele  Leute  in  Frankreich  ihn  nicht 
zu  lieben  schienen  und  nicht  an  seinen  guten  Cha- 
rakter glaubten,  sprachen  ihm  dennoch  die  meisten 
ein  gewisses  Genie  und  verschiedene  Talente  zu.  Sehr 
sonderbar  fand  ich,  dass,  trotzdem  man  zugab,  nie- 
mand machte  im  Kriege  kühnere  Projekte  als  er,  den- 
noch mehrere  Personen  an  seiner  persönlichen  Tapfer- 
keit zu  zweifeln  vorgaben. 

Damals  hegte  man  in  Frankreich  ziemlich  allge- 
mein grosse  Hoffnungen  bezüglich  seines  Sohnes,  des 
Grafen  de  la  Marche1);  in  der  Zwischenzeit  ist  man 
davon  ganz  abgekommen,  man  meint  jedoch,  der 
häusliche  Verdruss,  den  der  Prinz  de  Conti  seinem 

*)  Louis  Francois  Josephe  Prinz  de  Conti,  bis  zum  Tode  seines 
Vaters  Graf  de  la  Marche  (1734 — 181 4)->  unterstützte  1791 
die  Parlamente  gegen  die  Regierung.  Er  war  der  letzte  Spross 
des  Hauses  Conti.  Anm.  d.  Herausg. 

I  26 


Sohne  verursachte,  indem  er  ihn  gegen  dessen  Willen 
verheiratete,  hätte  ihn  seinem  Vater  entfremdet,  ihn 
so  niedergeschlagen  und  ihn  gänzlich  aus  seiner  Bahn 
geschleudert.  In  unseren  Tagen  hat  man  gesehen,  dass 
er  allein  von  allen  Prinzen  von  Gehlüt  bei  Ludwig  XV. 
blieb,  indes  sein  Vater  mit  den  anderen  Prinzen  nach 
der  Auflösung  des  alten  Parlaments  den  Hof  verliess. 
Die  Schwester  des  Prinzen  de  Conti,  die  mit  dem 
Herzog  von  Orleans  verheiratet  ist,  verschönte  oft 
durch  ihre  Anwesenheit  den  Aufenthalt  in  Isle-Adam, 
dem  Landhaus  des  Prinzen.  Das  Antlitz  dieser  Prin- 
zessin, ihre  ganze  Person  in  Ruhe  oder  in  Bewegung, 
zu  Fuss,  zu  Pferd,  tanzend  oder  sitzend,  erinnerte  be- 
ständig an  die  schönsten  Gemälde  Watteaus,  und  alles 
was  sie  tat  hätte  für  diesen  berühmten  Künstler  ein 
ganz  natürliches  Vorbild  abgegeben.  Ihr  Gatte '),  der 
sehr  in  sie  verliebt  gewesen  war,  begnügte  sich  jetzt 
damit,  ihr  die  grössten  Gefälligkeiten  zu  erweisen. 
Schon  damals  hatte  dieser  Prinz  den  Ruf  eines  ausge- 
zeichneten Menschen ;  anfänglich  neuen  Bekannt- 
schaften gegenüber  etwas  schüchtern,  wurde  er  bald 
der  beste  Gesellschafter,  lief,  trotzdem  er  sehr  dick 
war,  gerne  viel  herum  und  eignete  sich  dadurch  aus- 
gezeichnet für  die  Rolle  des  Financiers.  Es  gereichte 
mir  in  Anbetracht  meiner  herben  Erziehung  zu  nicht 
geringem  Erstaunen,  den  ersten  Prinzen  aus  könig- 
lichem Geschlecht  vor  fünfhundert  Personen  die  när- 
rischen Rollen  spielen  zu  sehen;  seither  habe  ich  es 
bedacht  und  bin  zu  der  Überzeugung  gekommen,  dass, 

l)  Louis  Philippe,  Herzog  von  Orleans,  gest.  1785,  der  Vater 
von  Philippe  „Egalite".  Nach  dem  Tode  seiner  Gemahlin  zog 
er  sich  auf  sein  Landgut  zu  Bagnolet  zurück,  wo  er  seine  Zeit 
Theateraufführungen  widmete.   Anm.  d.  Herausg. 

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solange  sein  Ansehen  nicht  darunter  litt,  es  ihm  ei- 
gentlich erlaubt  sein  durfte,  sich  einem  Amüsement 
hinzugeben,  durch  das  er  wirklich  ebensosehr  sich 
selbst  wie  den  anderen  eine  Freude  bereitete;  andere 
Zeiten  und  andere  Länder  ändern  auch  die  Ansichten 
und  mit  ihnen  den  wirklichen  Wert  aller  Dinge,  die 
ihrem  Wesen  nach  weder  gut  noch  schlecht  sind. 

Es  war  für  mich  eine  grosse  Freude,  inmitten  der 
Personen,  die  bereits  in  der  dritten  und  vierten  Ge- 
neration den  Hof  des  Herzogs  von  Orleans  bildeten, 
fast  alle  Namen  wiederzufinden,  die  mir  aus  den  Be- 
schreibungen bekannt  waren,  welche  die  berühmte 
Mademoiselle1)  aus  der  Zeit  Ludwigs  XIV.  und  der 
Kardinal  Retz  in  ihren  zeitgenössischen  Memoiren  über 
das  Haus  Orleans  uns  hinterlassen  haben.  Die  alte  Ma- 
dame de  Polignac,  eine  Hofdame  der  Herzogin  von 
Orleans,  spendete  diesem  Hofe  mit  ihrem  Geist  fast 
ebensoviel  Unterhaltung  und  Vergnügen  als  ihre 
Nichte,  die  Marquise  de  Blot,  durch  die  Anmut  ihrer 
Gestalt.  Graf  de  Friesen,  der  in  sie  verliebt  war  ohne 
Gegenliebe  zu  finden,  erfreute  sich  ebenso  wie  Baron 
de  Bezenval  an  diesem  Hofe  eines  besonderen  Vorzuges, 
verkehrte  hier  ganz  intim  und  verschaffte  mir  Zutritt. 
Ich  fand  dort  den  Abbe  A Ilaire,  den  damaligen  Lehrer 
des  Herzogs  von  Chartres.  Früher  war  er  einige  Mo- 
nate lang  mein  Lehrer,  nachdem  er  meinen  ältesten 
Bruder,  der  Abbe  gewesen  war  (er  lebt  nicht  mehr), 
nach  Polen  zurückgebracht  hatte.  Mein  Vater  hatte 
ihn  bei  seiner  letzten  Reise  in  Frankreich  aus  dem 

*)  Anne  Marie  Louise  d'Orleans,  Herzogin  von  Montpensier, 
bekannt  unter  dem  Namen  La  Grande  Mademoiselle,  schrieb 
sehr  interessante  Memoiren,  reich  an  Material  für  die  Sitten- 
geschichte des  französischen  Hofes.  Anm.d.Herausg. 

128 


Hause  der  Bezenvals  mitgenommen.  Sie  waren  es,  die 
mich  jetzt  beim  Marschall  de  Belle-Isle1)  einführten. 

Ich  war  begierig,  jenen  Mann  kennen  zu  lernen, 
der  sich  so  sehr  um  die  Berühmtheit  bemüht  hatte; 
die  Öffentlichkeit  billigte  ihm  einige  wirkliche  Qua- 
litäten zu;  aber  es  war  auch  bekannt,  dass  ausser  den 
gewöhnlichen  Mitteln,  welche  das  Kommando  der 
Armeen,  die  Gesandtschaften  und  das  Ministerium 
jenen  verleihen,  die  mit  geeigneten  Ämtern  bekleidet 
sind,  um  sich  Kreaturen  und  Anhänger  zu  verschaf- 
fen, der  Marschall  de  Belle-Isle  auch  Renten  für  aller- 
lei Leute  jeden  Alters  und  jeden  Berufs  aussetzte, 
darunter  auch  für  Ärzte  und  Beichtväter,  nur  damit 
sie  unter  ihrer  Kundschaft  die  Ansicht  von  seiner  Über- 
legenheit und  seinem  Verdienst  verbreiteten. 

Er  liebte  es,  stets  mit  den  wichtigsten  Dingen  be- 
schäftigt zu  scheinen,  und  bemühte  sich  auch  stets 
diesen  Schein  zu  wahren.  Mit  Vorliebe  sprach  er  in 
Sentenzen  und  konferierte;  so  oft  ich  ihn  in  seinem 
Hause  sah,  hatte  er  immer  eine  ernste,  geschäftige 
Miene  aufgesetzt,  obwohl  er  damals  noch  nicht  Mi- 
nister war;  unter  anderen  trieb  er  oft  einen  verdienst- 
vollen, angenehmen  Menschen  ganz  in  die  Enge,  der 
seinem  Charakter  nach  von  jeder  Wichtigtuerei  frei 
war:  es  war  dies  der  Herzog  de  Nivernais,  den  man 
später  auf  verschiedenen  Gesandtschaften  wichtige  Po- 
sten ehrenvoll  versehen  sah  und  dessen  Tochter  so- 
eben den  Grafen  de  Gisors  geheiratet  hatte,  den  Sohn 
des  Marschalls  de  Belle-Isle.  Schon  wegen  der  eigen- 
tümlichen   Erziehung,   die   ihm  durch  seinen  Vater 

*)  Charles  Louis  Auguste  Fouquet,  Herzog  von  Belle-Isle,  Mar- 
schall von  Frankreich  (1684  —  1761),  erwarb  sich  Verdienste 
um  das  französische  Heerwesen.  Anm.  d.  Herausg. 

9   Poniatowski  1  29 


zuteil  wurde,  war  dieser  junge  Mann  beachtenswert: 
bis  zu  seiner  Verheiratung  hatte  er  nie  einen  Wagen 
besessen,  er  ging  in  Paris  zu  Fuss  und  reiste  stets  nur 
zu  Pferd;  seit  seiner  frühesten  Kindheit  hatte  sein 
Vater  ihn  an  alle  Härten  des  militärischen  Dienstes 
gewöhnt  und  ihn  angehalten,  der  Reihe  nach  alle 
Grade  durchzumachen.  Auch  hatte  er  ihn  ernsthaft 
zu  allen  möglichen  Arten  der  Wissenschaften  an- 
halten lassen  und  ihm  gleichzeitig  den  Ton  der 
Bescheidenheit,  der  Zurückhaltung  und  der  notwen- 
digen Zuvorkommenheit  eingeschärft,  was  im  Verein 
mit  dem  ehrenhaftesten  Naturell  und  den  glücklich- 
sten Eigenschaften  ihm  sowohl  in  dem  Lande,  das  er 
bereiste,  als  auch  in  Frankreich  den  Ruf  eintrug,  er 
wäre  nicht  allein  das  beste  Werk  seines  Vaters,  son- 
dern auch  der  höflichste  und  achtbarste  unter  allen 
Franzosen  seiner  Zeit. 

Durch  die  Marquise  de  Broglie,  die  Schwester  des 
Barons  de  Bezenval,  wurde  ich  auch  Mademoiselle  de 
Charolais1)  vorgestellt,  einer  Prinzessin  aus  könig- 
lichem Geschlecht,  die  man  damals  kurz  Mademoi- 
selle nannte;  sie  war  unter  vielen  anderen  ein  Beispiel 
für  die  Richtigkeit  des  Bonmots  einer  Frau,  die,  von 
einer  alten  Tante  wegen  ihres  Benehmens  zurechtge- 
wiesen, durch  das  sie  sich  selbst  einen  (wie  die  Tante 
meinte)  nicht  wieder  gutzumachenden  Schaden  zuge- 
fügt, erwiderte:  „Beunruhige  dich  nicht,  liebe  Tante, 
ich  werde  mich  rechtzeitig  bessern,  und  in  Paris  wächst 
der  gute  Ruf  nach  wie  die  Fingernägel." 

Mademoiselle  de  Charolais  hatte  in  ihrer  Jugend  ihre 

*)  Mademoiselle  de  Charolais,  der  Tochter  des  Herzogs  von 
Bourbon,  wurde  durch  ein  besonderes  Diplom  Ludwigs  XV. 
der  Titel  „Mademoiselle"  zuerkannt.   Anm.  d.  Herausg. 

i3o 


Schönheit  in  der  weitesten  Bedeutung  des  Wortes  ge- 
nossen; ich  habe  die  wunderlichsten  Geschichten  über 
sie  gehört  von  denselben  Leuten,  die  zu  meiner  Zeit 
sie  bereits  als  eine  der  achtbarsten  Prinzessinnen  und 
Frauen  Frankreichs  bezeichneten,  als  eine  Frau  der 
besten  Gesellschaft,  in  deren  Hause  die  schlimmsten 
und  klatschsüchtigsten  Devotinen  verkehrten,  obgleich 
sie  gerade  damals  einen  offiziellen  Amant  hatte,  der  bei 
ihr  wohnte.  Am  gleichen  Tage,  an  dem  ich  ihr  vorge- 
stellt wurde,  sagte  sie  zu  mir,  als  ich  ihr  mit  ihrer 
ganzen  Gesellschaft  in  den  Garten  folgte:  „Mon- 
sieur, bringen  Sie  mir  bitte  meinen  Popo. "  Sie  wie- 
derholte ihre  Bitte,  und  als  sie  mich  dann  noch  immer 
regungslos  und  bestürzt  dastehen  sah,  fragte  sie  mich 
mit  einer  gewissen  Ungeduld,  ob  ich  denn  nicht  ge- 
hört hätte,  dass  sie  mich  gebeten,  ihr  ihren  Popo  zu 
bringen  ?  Ich  erwiderte,  dass  ich  der  Meinung  wäre,  sie 
hätte  ihn  stets  bei  sich ;  sie  erbarmte  sich  meiner  Un- 
wissenheit und  man  belehrte  mich  unter  grossem  Ge- 
lächter, das  Gewünschte  sei  ein  Kissen,  das  sie  sich 
bei  ihren  Spaziergängen  um  den  Körper  schnalle,  um 
es  stets  bei  sich  zu  haben,  wenn  sie  sich  setzen  wolle. 
Doch  gerade  diese  Unwissenheit  diente  dazu,  mir 
die  Gunst  in  diesem  Hause  zu  gewinnen,  wo  ich  so- 
gar vor  Madame  de  Puisieux  (der  Gattin  des  Mini- 
sters, von  dem  oben  die  Rede  war)  Gnade  fand,  die 
gerne  boshaft  war.  Alles  fügte  sich  gut,  bis  ich  eines 
Tages,  als  Mademoiselle  eine  Kollekte  für  irgend  ein 
Nonnenkloster  veranstaltete,  hörte,  wie  einige  Fran- 
zosen scherzend  Schwierigkeiten  machten  und  vor 
der  Prinzessin  die  Geizigen  spielten.  Es  ergriff  mich 
zu  unrechter  Stunde  das  Verlangen,  sie  nachzuahmen, 
was  Mademoiselle    de  Charolais    so  reizte,    dass  sie 

9*  1 3  i 


ihrem  grössten  Zorn  an  mir  freien  Lauf  Hess;  ich 
trug  eine  so  beträchtliche  Verminderung  der  Gunst 
davon,  dass  die  Kunde  bis  zu  Madame  Geoffrin  drang, 
die,  um  mein  Missgeschick  zu  vollenden,  mich  aus 
diesem  Anlass  drei  Wochen  lang  schalt.  In  ihrem 
Unwillen  ging  sie  sogar  so  weit,  mir  etwas  vorzuwer- 
fen, das  anfangs  den  Gegenstand  ihrer  Belobungen 
gebildet  hatte;  sie  warf  mir  vor,  ich  hätte  eine  Miene, 
als  wüsste  ich  zu  früh  tausend  kleine  Dinge,  welche 
die  Ausländer  in  Frankreich  gewöhnlich  nur  sehr 
langsam  erfahren. 

So  ungerecht  mir  damals  ihr  Vorwurf  erschien, 
habe  ich  doch  seither  begriffen,  dass  in  einer  Welt 
wie  Paris,  wo  so  viele  Leute  ihr  ganzes  Leben  mit 
nichts  verbringen,  der  ausschliesslichen  Kenntnis  tau- 
send kleiner  Dinge  grosser  Wert  beigelegt  wird,  neuen 
Worten,  gewissen  Geschichtchen,  verschiedenen  Ge- 
schicklichkeiten im  Umgang  mit  Menschen,  wodurch 
sie  sich  von  den  profanen  Ausländern  unterscheiden 
und  die  französische  Eleganz  hoch  über  jene  stellen; 
diese  Geheimnisse  muss  man  respektieren,  man  muss 
es  sich  verdienen,  allmählich  in  sie  eingeweiht  zu 
werden;  es  ist  sehr  von  Nutzen,  sie  zu  kennen,  um 
Tölpeleien  zu  vermeiden;  ebenso  notwendig  ist  es 
aber,  den  Schein  zu  erwecken,  als  kenne  man  sie  nicht, 
um  mit  gebührender  Demut  jenen  zu  nahen,  von  de- 
nen man  dem  Anschein  nach  sie  zu  erlernen  wünscht. 
Ein  Ausländer,  der  zum  erstenmal  in  Paris  auftritt, 
wird  immer  gut  tun,  dort  noch  mehr  als  in  jeder  an- 
deren Hauptstadt  den  Schein  zu  erwecken,  als  hielte 
er  sich  für  ein  untergeordnetes  Wesen  im  Vergleich 
zu  den  hohen  Intelligenzen,  die  die  Stadt  bewohnen, 
weil  sie  die  Rolle  der  Protektoren  lieben. 

l32 


Als  der  König  von  Frankreich  nach  Fontainebleau 
übersiedelte,  sah  ich  mit  Staunen,  dass  der  franzö- 
sische Hot  in  jenem  Schlosse,  das  im  Grunde  ge- 
nommen nur  eine  formlose  Anhäufung  meist  gotischer 
Baiiten  ist,  denen,  wie  man  sagt,  jeder  König  seit  dem 
heiligen  Ludwig  noch  einen  hinzugefügt  hat,  sich 
prächtiger  ausnahm  als  in  Versailles;  alle  Prinzen 
von  Geblüt  und  alle  Minister  verweilen  in  Fontaine- 
bleau für  gewöhnlich  mit  ihren  Gemahlinnen,  schei- 
nen hier  zu  Hause  zu  sein,  und  fast  alle  geben  Diners; 
ohne  das  Schloss  zu  verlassen,  findet  man  hier  ge- 
wissermassen  eine  Reihe  von  benachbarten  Höfen  und 
Häusern,  während  mir  in  Versailles  die  Menge,  so 
zahlreich  sie  sich  auch  manchmal  versammelt  haben 
mochte,  in  der  Mehrzahl  immer  aus  Menschen  zu  be- 
stehen schien,  die  nur  auf  den  Augenblick  der  Rück- 
kehr nach  Paris  warteten. 

Fontainebleau  erschien  mir  imposanter  als  das,  was 
ich  in  Hubertusburg  gesehen,  mit  dem  Hauptunter- 
schied, dass  mir  hier  weder  die  Gräfin  Brühl  noch 
der  Chevalier  Williams  zur  Seite  standen;  ich  ver- 
weilte hier  nur  zwei  Wochen;  vor  meiner  Abreise 
war  ich  Zeuge  einer  für  mich  neuen  und  frappieren- 
den Begebenheit,  obwohl  sie  naturgemäss  an  den  Hö- 
fen absolutistischer  Monarchen  sehr  oft  vorkommen 
muss,  solange  es  solche  geben  wird. 

Seit  meiner  frühesten  Kindheit  war  meine  Ein- 
bildungskraft mit  den  Beweisen  der  Wichtigkeit  der 
Rollen  genährt  worden,  die  eine  Reihe  von  Jahren 
hindurch  die  Herren  de  la  Chetardie  und  de  Valorie 
in  Petersburg  und  in  Berlin  gespielt  hatten.  Eines 
Tages  sah  ich  in  einem  Winkel  des  Vorzimmers  zwei 
bejahrte  Männer,  die  von  niemandem  beachtet  wurden 

i33 


und  die  nur  deshalb  miteinander  zu  sprechen  schienen, 
weil  alle  anderen  sie  mieden;  ich  erkundigte  mich, 
wer  sie  seien,  und  man  nannte  mir  ihre  Namen:  die 
Herren  de  la  Chetardie  und  de  Valorie.  Eine  Art  Ent- 
rüstung mischte  sich  in  mein  Erstaunen;  dies  wurde 
von  einem  geistreichen  und  sehr  belesenen  Manne 
bemerkt,  einem  gebürtigen  Polen,  der  jedoch  lange 
Zeit  in  Frankreich  gelebt  hatte,  einem  gewissen  Jaku- 
bowski;  er  erinnerte  mich  bei  dieser  Gelegenheit  an 
eine  Stelle  im  Tacitus:  Corbulon  hat  seinem  Yater- 
lande  in  fremden  Ländern  die  grössten  Dienste  ge- 
leistet, als  er  jedoch  nach  Rom  zurückkehrt,  be- 
grüsst  ihn  sein  Herr  nur  mit  einigen  Worten  des 
Lobes,  dann  wird  er  servientium  turbae  inmissvs,  und 
dabei  blieb  es. 

Selten  verwandte  Frankreich  (bis  dahin)  Männer 
aus  den  ersten  Familien  zu  auswärtigen  Missionen; 
fast  stets  waren  es  Proteges  der  Günstlinge;  so  grosse 
Dienste  sie  Frankreich  im  Ausland  auch  leisten  moch- 
ten, blieben  sie  den  Höflingen  dennoch  fremd  und 
wurden  von  ihnen  wenig  geschätzt,  denn  die  un- 
ermüdliche Tätigkeit  der  Höflinge  kennt  nur  ein 
Ziel:  ihre  eigene  Persönlichkeit,  und  jener  Franzose, 
der  seinen  Fürsten  zehn  Jahre  hindurch  nicht  nur 
ehrenvoll,  sondern  oft  geradezu  pomphaft  und  manch- 
mal mit  Insolenz  vertreten  hat,  ist  am  Hofe  seines 
eigenen  Fürsten  ein  Fremder,  kennt  weder  den  Ton 
noch  die  Parole  des  Tages  und  spielt  ungefähr  die 
Rolle  eines  Gespenstes,  dem  ein  um  so  schlechterer 
Empfang  zuteil  wird,  je  mehr  Menschen  auf  seine 
Erbschaft  gerechnet  haben. 

Ein  Umstand  Hess  mich  am  öftesten  die  Verschie- 
denheit  der  französischen  Sitten  und  jener  unseres 

1.34 


Landes  erkennen:  die  Schwierigkeit  des  Vorgestellt- 
werdeus.  Hundert  Ausländer  hatte  ich  in  Warschau 
ankommen  sehen,  die  an  den  Hof  oder  in  irgend  ein 
Haus  geführt  und  von  dem  Einführenden  allen  im 
Augenblick  dort  Anwesenden  auf  einmal  vorgestellt 
wurden;  das  genügte,  um  bekannt  zu  sein;  man  ge- 
wann dadurch  die  Möglichkeit,  zu  allen,  von  denen 
man  also  einmal  gesehen  wurde,  hinzugehen,  und 
man  konnte  sicher  sein,  überall  gut  und  sogar  zuvor- 
kommend aufgenommen  zu  werden.  In  Frankreich 
bat  ich,  so  oft  ich  eine  angesehene  Persönlichkeit 
nennen  hörte,  um  die  Gunst,  ihr  sofort  vorgestellt  zu 
werden;  manchmal  konnte  ich  noch  so  oft  wiederho- 
len, jene  Person  hätte  bei  verschiedenen  Gelegenhei- 
ten mich  bereits  angesprochen,  ich  hätte  mit  ihr  di- 
niert oder  soupiert  und  man  wisse  sicher,  wer  ich 
sei,  stets  erhielt  ich  zur  Antwort:  „Ich  muss  erst  je- 
nen Herrn  oder  jene  Dame  in  Ihrer  Abwesenheit  um 
die  Erlaubnis  bitten,  Sie  in  ihrem  Hause  einzufüh- 
ren," was  oft  Monate  hindurch  unmöglich  war;  es 
kam  mir  vor  als  belinde  ich  mich  in  einer  Vorhölle 
diesen  Leuten  gegenüber,  denen  ich  angeblich  fremd 
war,  obgleich  sie  sehr  gut  wussten,  wer  ich  war. 

Nach  Paris  zurückgekehrt  (keine  Katze  ist  jetzt 
dort,  so  sagten  die  Höflinge,  obgleich  sieben-  oder 
achthunderttausend  Einwohner  in  Paris  waren,  aber 
freilich  keine  Höflinge)  traf  ich  dort  einige  Engländer, 
die  ich  in  Leipzig  kennen  gelernt,  darunter  auch  My- 
lord  North,  den  heutigen  Premierminister,  und  seinen 
Bruder  Mylord  Dartmouth.  Wir  fuhren  zusammen 
nach  Versailles,  um  uns  während  der  Abwesenheit 
des  Hofes  das  Schloss  mit  Müsse  ansehen  zu  können. 
Ich  will  hier  nicht  wiederholen,  was  so  oft  bereits 

f35 


gedruckt  und  graviert  worden  ist,  aber  es  bleibt  mir 
unvergesslich,  wie  betrübt  ich  war,  als  ich  das  be- 
rühmte Gemälde  von  Le  Brun,  die  Familie  des  Da- 
rius,  das  ich  den  Engländern  im  voraus  schon  so  sehr 
gerühmt  hatte,  den  schönsten  Schmuck  der  könig- 
lichen Gemächer  nicht  mehr  vorfand.  Ich  erkundigte 
mich  und  erfuhr  endlich,  dass  die  Gemälde  in  diesen 
Gemächern  alle  drei  Monate  gewechselt  werden.  Ich 
verlangte  sie  zu  sehen,  und  nur  mit  Mühe  gelang  es 
mir,  in  die  Mobilienkammer  eingelassen  zu  werden, 
wo  jenes  Meisterwerk  der  französischen  Malerei  ver- 
wahrt wurde.  Aber  wie  gross  war  mein  Erstannen, 
als  man  mir  einen  Stoss  von  Gemälden  wies,  höher 
als  ich,  deren  unterstes  gerade  jener  Le  Brun  war ; 
es  lag  mit  der  bemalten  Seite  auf  dem  Boden.  Zu 
jener  Zeit  sah  ich  auch  mitten  im  Hof  des  Louvre 
ein  dreistöckiges  Haus  aus  Quadersteinen,  das  einem 
Privatmann  gehörte;  es  bedurfte  ausser  den  Intrigen 
des  Hofes,  ausser  den  Vorstellungen  aller  Liebhaber 
der  Architektur  noch  der  Schriften  Voltaires,  bis 
dieses  Haus  erst  viele  Jahre  später  niedergelegt  wurde. 
Die  Künstler  und  die  Kunstliebhaber  beklagten  da- 
mals ziemlich  allgemein,  dass  der  französische  Hof 
den  Talenten  so  wenig  Unterstützung  und  Gunst  er- 
weise; kurz  daraufschien  jedoch  Madame  de  Pompa- 
dour mit  Erfolg  ihre  Protektion  walten  zu  lassen; 
sie  selbst  sang,  zeichnete  und  gravierte;  ich  besitze 
fünfzig  Stiche,  die  meisten  von  ihrer  Hand,  einige  da- 
gegen sind  Reproduktionen  von  ihr  selbst  gemeisselter 
Skulpturen;  man  ist  sich  ziemlich  einig,  dass  der  Po- 
sten eines  Oberintendanten  der  Bauten  Frankreichs, 
den  der  Marquis  de  Marigny,  Madame  de  Pompa- 
dours Bruder,  bis  1773  bekleidet  hat,  ihm  vor  zwan- 

i36 


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zig  Jahren  nicht  nur  seiner  Verdienste  wegen,  son- 
dern im  gleichen  Masse  durch  Begünstigung  zuteil 
wurde. 

Nach  einem  zweimonatigen  Aufenthalt  in  Frank- 
reich inusste  ich  mir  gestchen  —  wenn  ich  mir  Re- 
chenschaft anlegte  üher  den  Eindruck,  den  alles,  was 
ich  dort  sah,  auf  mich  machte  — ,  dass  ich  mich  einer 
Reihe  von  angeblichen  Verpflichtungen  unterordnete, 
aus  Furcht,  „die  ganz  besonders  gute  Gesellschaft" 
könnte  mich  verurteilen;  dass  es  mich  empfindlich 
störte,  bestrebt  sein  zu  müssen  alles  zu  vermeiden, 
was  mir  den  Anschein  gegeben  hätte,  dass  ich  in  der 
sogenannten  schlechten  Gesellschaft  verkehrte;  dass 
das  Kartenspiel  für  mich  überall  eine  gar  traurige 
Notwendigkeit  war,  ausgenommen  bei  Madame  de 
Bezenval  und  bei  Madame  Geoffrin,  wo  ich  wie  ein 
Kind  des  Hauses  behandelt  wurde;  dass  jedoch,  wenn 
man  nicht  spielte,  der  Konversationston  für  einen 
Ausländer  sehr  anstrengend  Avar,  denn  nur  selten 
wartete  man  die  Antwort  auf  eine  Frage  ab,  ehe  man 
die  nächste  Frage  stellte,  die  wieder  von  einer  dritten 
Frage  über  ein  ganz  anderes  Thema  durchkreuzt 
wurde,  und  nie  sah  ich  jemanden,  der  sich  bemüht 
hätte,  seine  ersten  Fragen  wieder  aufs  Tapet  zu  brin- 
gen; je  mehr  ich  wünschte,  der  Unterhaltung  zu  fol- 
gen und  meine  Bemerkungen  einzuflechten,  um  so 
mehr  versagte  meine  Aufmerksamkeit,  denn  sie 
wurde  nie  befriedigt  und  es  ging  ihr  sozusagen  der 
Atem  aus,  um  so  mehr  auch  staunte  ich,  wie  diese 
Menschen,  die  einander  nie  anhörten  und  sich  nicht 
zu  bemühen  schienen,  über  irgend  etwas  folgerecht 
nachzudenken  oder  irgend  eine  Tatsache,  irgend 
einen  Vorfall  genau  kennen  zu  lernen,  sich  amüsieren 

i3i 


konnten.  Beim  kleinsten  Spiel,  beim  geringfügigsten 
Vorfall  brachen  sie  in  laute  Ausrufe  und  Schreie  aus, 
gebrauchten  Superlative,  die  mich  veranlassen  muss- 
ten  zu  glauben,  diese  Sache  gehe  ihnen  sehr  nahe, 
von  der  bereits  eine  Viertelstunde  später  nicht  mehr 
die  Rede  war;  ich  habe  nicht  ein  Beispiel  gesehen, 
dass  jemand  sich  nach  vierundzwanzig  Stunden  er- 
innert hätte,  was  am  Tage  vorher  gesagt  oder  getan 
worden  war;  oft  dachte  ich  daran,  wie  doch  in  den 
Ländern,  die  ich  vor  Frankreich  kennen  gelernt,  eine 
ganze  Koterie  und  oft  eine  ganze  Stadt  wochen-  und 
monatelang  an  einem  Bonmot,  einem  Schwank,  ir- 
gend einem  Ereignis  zehrte;  hiermit  vergleichend 
konnte  ich  den  unerschöpflichen  Reichtum  an  immer 
neuen  Gegenständen,  die  ohne  Unterlass  die  leicht  er- 
regbare Aufmerksamkeit  der  Franzosen  nähren,  gar 
nicht  genug  bewundern.  Mit  einem  Wort,  jeden  Abend 
kehrte  ich  erschöpft  heim  und  fühlte,  dass  ich  mich 
alles  in  allem  genommen  doch  langweilte. 

Doch  das  änderte  sich,  und  als  ich  nach  Verlauf 
von  fünf  Monaten  den  Auftrag  erhielt,  nach  England 
abzureisen,  schmerzte  es  mich,  Paris  zu  verlassen, 
und  wieder  fragte  ich  mich,  weshalb?  Denn  es  hatte 
sich  doch  weder  die  Art  der  Unterhaltung  bei  meinen 
Besuchen  noch  die  Menschen  des  Landes  verändert, 
welches  zu  verlassen  mich  schmerzte.  Aber  je  mehr 
ich  in  gewissen  Häusern  festen  Fuss  fasste,  um  so  we- 
niger wurde  ich  gezwungen  dort  zu  spielen;  dank 
meiner  Ausdauer,  nach  den  Soupers  zu  verweilen,  war 
ich  endlich  bei  den  Stunden  angelangt,  wo  die  Ruhe 
der  Nacht  sich  auch  auf  den  Geist  der  Konversation 
zu  übertragen  schien;  manchmal  sprach  man  sogar 
vernünftig;  da  man   an   mich  bereits  gewöhnt  war, 

1 38 


wurde-in  meiner  Gegenwart  offener  medisiert,  und  je 
mehr  Diskietion  von  mir  erwartet  wurde,  um  so  enger 
schloss  ich  mich  an;  und  wenn  ein  Ausländer  erst 
einmal  die  Schwierigkeiten  des  Anfangs  überwunden 
und  seinen  Teil  der  Langeweile  bezahlt  hat,  die  die 
Franzosen  anscheinend  nach  Übereinkommen  den 
Ausländern  auferlegen  (offenbar  um  nicht  von  ihnen 
überschwemmt  zu  werden),  so  kommt  er  oft  noch 
mehr  en  vogue  als  ein  Franzose.  Sobald  die  Franzosen 
sich  daran  gewöhnen,  von  einem  Ausländer  etwas  Gu- 
tes zu  sagen,  so  sind  sie  jederzeit  bereit  alles,  selbst  die 
gewöhnlichsten  Dinge,  bei  ihm  zu  loben,  und  sie  schei- 
nen ganz  erstaunt  zu  sein,  wenn  er  gewisse  Kenntnisse 
von  Dingen  besitzt,  die  im  Augenblick  —  wie  sie 
meinen  oder  zumindest  es  sagen  —  über  ihr  Wis- 
sen gehen,  während  sie  kurz  vorher  diesen  selben 
Ausländer  über  die  Achsel  ansahen  und  auch  bereit 
sind,  beim  ersten  Rückschlag  ihrer  eigenen  Gunst  in 
das  gleiche  Gefühl  zurückzufallen. 

Im  allgemeinen  schienen  mir  die  Frauen,  trotzdem 
ersten  Anschein  extremer  Seichtheit,  in  ihrem  Cha- 
rakter mehr  Tiefe  zu  haben  als  die  Männer;  und  da 
sie  überdies  eine  gefälligere  Bildung  besitzen  als  die 
Frauen  eines  jeden  anderen  Landes,  da  der  Schmuck, 
die  Mode  und  fast  alle  Erfindungen  der  Üppigkeit 
und  des  Geschmacks  zusammenarbeiten,  um  sozusagen 
ihre  neue  Existenz  zu  verdoppeln,  ist  es  schwer  mög- 
lich sich  dem  magischen  Zauber  zu  entziehen,  der 
nach  und  nach  selbst  das  herbste  Gemüt  ummodelt 
und  den  Wunsch  erweckt,  das  Leben  inmitten  dieser 
Nation  zu  verbringen,  die  manchmal  herzlich,  immer 
aber  leichtlebig  und  heiter  ist;  das  Volk  ist  hier  wirk- 
lich gut,  die  Bourgeoisie  im  allgemeinen  sehr  arbeit- 

i39 


sam,  und  obgleich  man  von  dieser  Nation  annimmt, 
dass  sie  leichtfertig  und  oberflächlich  ist,  bringt  sie 
doch  tausende  von  durchaus  beherzigenswerten  Bei- 
spielen jeder  Art  hervor.  Übrigens,  je  länger  man  in 
Paris  lebt,  desto  mehr  hat  man  Gelegenheit  dort  auf 
Männer  zu  stossen,  die  tiefgründige  Kenntnisse  in  je- 
der Wissenschaft  besitzen  und  eine  Überlegenheit  in 
allen  Künsten;  seit  mehr  als  einem  Jahrhundert  haben 
sie  in  ununterbrochener  Folge  ihr  Vaterland  mit  Denk- 
mälern jeglicher  Art  angefüllt,  die  allein  genügen,  um 
den  Geist  eines  jeden  wissbegierigen  Fremden  zu  be- 
schäftigen, zu  belehren  und  zu  bereichern.  Schon  al- 
lein die  französische  Sprache,  die  heutzutage  jeder 
junge  Mann  in  Europa  zum  Beweis  einer  sorgfältigen 
Erziehung  lernen  muss,  flösst,  ohne  dass  man  es  merkt, 
die  Meinung  von  einer  gewissen  Überlegenheit  der 
französischen  Nation  ein.  Ausserdem  hat  eine  gewisse 
Analogie  der  guten  und  schlechten  Eigenschaften 
zwischen  der  französischen  und  der  polnischen  Nation 
eine  Sympathie  geknüpft,  die  schon  seit  langem  be- 
merkt wurde  und  die  wirklich  vorhanden  ist,  genau 
so  wie  die  Antipathie,  die  letztere  für  ihre  Nachbarn 
hat;  dies  war  für  mich  ein  weiterer  Grund. 

Das  Ballett  und  die  Vorstellungen  in  der  Oper,  das 
französische  und  italienische  Theater  brachten  mir 
oft  angenehme  Zerstreuung.  Einige  Franzosen  rech- 
neten es  mir  als  Verdienst  an,  dass  mehrere  Lieder 
der  alten  französischen  Oper  vor  meinem  Ohr  Gefal- 
len fanden.  Der  Pastellmaler  La  Tour  hatte  mir,  so 
schwer  zugänglich  er  sonst  auch  ist,  den  Zutritt  zu 
seinem  Atelier  gestattet;  dem  Abbe  Barthelemy  hatte 
es  gefallen,  dass  ich  die  antiken  und  modernen  Denk- 
münzen des  Königs  von  Prankreich,  die  seiner  Obhut 

i  4o 


unterstehen,  so  eitrig  studierte;  der  berühmte  dAlem- 
bert,  der  strenge  Geometer,  liess  sich  herab,  in  meiner 
Gegenwart  die  italienischen  Buffos  sehr  amüsant  und 
erheiternd  zu  kopieren.  Man  hatte  mich  zu  einigen  je- 
ner üppigen  und  köstlichen  Gelage  zugezogen,  die  der 
Präsident  Henault  veranstaltete  und  von  denen  er  mehr 
Aufhebens  zu  machen  schien  als  von  seinem  Buche;  die 
bösen  Zungen  behaupteten,  dies  geschähe  mit  Recht, 
weil  doch  nicht  er  sein  Buch  geschrieben  hätte;  und 
in  Anbetracht  seiner  leichtsinnigen  und  zu  seinem 
Stand  und  Alter  nicht  passenden  Redeweise  bekam 
man  Lust  dies  zu  glauben.  Ich  muss  mich  jetzt  durch 
die  Niederschrift  meiner  Meinung  über  ihn  schadlos 
halten,  denn  Madame  Geoffrin  schalt  mich  ernsthaft, 
als  ich  damals,  zwanzigjährig,  jenen  berühmten  Mann 
so  beurteilte. 

Monsieur  Marcel,  der  berühmte  Tanzmeister,  der 
damals  achtzig  Jahre  alt  war  und  die  Gicht  hatte, 
lebte  von  seinem  einstigen  Ruhme;  das  Haupt  mit 
einer  Zipfelperücke  bedeckt  erteilte  er  Unterricht  von 
seinem  Fauteuil  aus,  auf  dem  er  sich  taktmässig  hin 
und  her  wiegte  und  sich  zierte;  versammelt  waren  bei 
ihm  abwechselnd  alle  jungen  Ausländer  und  alle  jun- 
gen Französinnen,  denn  alle  glaubten,  sie  könnten 
auf  keinem  Ball,  auf  keinem  Fest  Erfolg  haben  (selbst 
wenn  sie  dort  nur  zu  gehen  brauchten),  würde  ihre 
Grazie  nicht  von  diesem  einzigen  Manne  geformt,  den 
sechzig  Jahre  unausgesetzter  Arbeit  mit  einer  aufrich- 
tigen und  tiefempfundenen  Ehrfurcht  für  seine  Kunst 
erfüllt  hatten :  eines  Tages,  als  man  ihn  behutsam  aus 
einer  tiefen  Träumerei  weckte,  der  er  sich  mit  auf- 
gestützten Ellenbogen  und  verdeckten  Augen  hinge- 
geben hatte,  entfielen  ihm  im  Orakelton  folgende  er- 

141 


habene  Worte:  „Oh,  meine  Herren,  was  Hegt  nicht 
alles  in  einem  Menuett!"  Von  jedem,  der  in  seinem 
Hause  und  vor  seinen  Augen  Unterricht  bei  seinem 
Vortänzer  nahm,  durfte  er  für  die  Stunde  sechs  Fran- 
ken verlangen,  ausserdem  stand  ihm  das  Recht  zu, 
die  schönsten  Frauen  manches  Mal  mit  den  streng- 
sten Worten  zu  schelten,  wenn  er  geruhte,  sie  zurecht- 
zuweisen. Die  Absonderlichkeit  seines  Wesens  und 
die  Menschen,  die  man  bei  ihtn  sah,  gestalteten  sein 
Haus  zu  einem  der  merkwürdigsten  von  Paris;  ich 
sah  dort  manchen  englischen  Dünkel  sich  der  fran- 
zösischen Zurechtweisung  unterwerfen,  nicht  ohne 
gar  oft  in  den  Versuch  einer  Rebellion  zu  verfallen ; 
drei  solcher  Engländer  umarmten  mich  eines  Ta- 
ges, weil  ich  eine  formelle  Argumentation  gegen 
Monsieur  Marcel  gewagt  hatte;  er  hatte  bestritten, 
dass  ich  in  der  Lage  sein  könnte,  sitzend  und  mit 
gekreuzten  Beinen  mich  in  einer  Ehrensache  genau 
so  gut  wie  ein  anderer  zu  behaupten.  Dort  hörte  ich 
auch  wie  eine  Französin,  der  man  gesagt  hatte,  ich 
sei  ein  Ausländer  und,  was  noch  schlimmer  war,  ein 
Pole,  ausrief: 

„Das  ist  nicht  möglich  !  Der  ist  ja  angezogen  wie 
ein  anständiger  Mensch,  der  hat  ja  einen  Anzug  aus 
geschorenem  Samt,  uud  ich  habe  doch  schon  zwan- 
zig Deutsche  gesehen  (und  wer  nicht  Franzose  ist,  der 
ist  für  diese  Art  Damen  ipso  facto  Deutscher,  ehe  sie 
wissen,  aus  welchem  Lande  er  stammt)  mit  Anzügen 
aus  schwarzem  Trauertuch." 

Es  wurde  mir  berichtet,  dass  eine  Freundin  dieser 
selben  Dame,  als  sie  sah,  wie  der  König  von  Däne- 
mark in  Paris  federt  wurde,  ganz  mitleidig  sagte: 
„Was  wird  der  nur  anfangen,  wenn  er  in  sein  Land 


zurückkehrt!  Der  wird  vor  Langeweile  und  Sehn- 
sucht sterben!" 

Ich  kann  Paris  nicht  verlassen  ohne  einige  Worte 
über  den  Herzog  von  Choiseul1)  zu  sagen,  einen  da- 
mals in  Frankreich  sehr  beachtenswerten  Mann;  von 
sehr  hässlichem  Angesicht,  von  ziemlich  kümmer- 
licher Gestalt  und  bekanntermassen  auf  die  Frauen 
äusserst  schlecht  zu  sprechen,  fühlte  er  sich  doch  in 
ihrer  Gegenwart  sehr  glücklich.  Eine  der  schönsten 
und  der  distinguiertesten  Frauen  war  damals  mit  ihm 
liiert  und  blieb  es  bis  ans  Ende  ihres  Lebens;  die  Er- 
folge, die  er  damals  in  seiner  politischen  Karriere  er- 
langte, schrieb  man  grösstenteils  seinen  Liaisons 
zu.  Man  hatte  ihn  kurz  vorher  zum  Gesandten  in 
Rom  ernannt  und  man  prophezeite  ihm  bereits  einen 
noch  höheren  Posten,  indem  man  sagte:  „Er  ist  bos- 
haft, aber  er  hat  Talent  und  ist  unternehmungslustig." 
Die  öffentliche  Meinung  nannte  ihn  als  Nachfolger 
Ludwigs  XV.  bei  Madame  de  Pompadour,  sobald  sie 
nur  noch  die  Freundin  des  Königs  war.  Die  Anhäng- 
lichkeit und  die  Achtung,  die  eine  grosse  Zahl  seiner 
Freunde  ihm  bewahrten,  als  er  beim  König  in  Un- 
gnade fiel,  sprechen  zu  seinen  Gunsten;  vielleicht 
aber  spielte  da  nur  die  Mode  mit  und  seine  Ungnade 
wurde  nur  durch  die  Gunst  der  ersten  Damen  des 
Landes  verschönt,  so  wie  sie  auch  die  Ursache  dieser 

*)  Etienne  Francois  Herzog  von  Choiseul  (i  7  19 — 1  785)  unter- 
stützte das  Bündnis  mit  Österreich  gegen  Friedrich  den  Gros- 
sen und  übernahm  1758  das  Ministerium  des  Auswärtigen. 
Er  bewog  den  König  zur  Aufhebung  des  Jesuitenordens  in 
Frankreich,  wodurch  er  sehr  populär  wurde.  Später  brachte 
er  die  Vermählung  Marie  Antoinettes  mit  dem  Dauphin  zu- 
stande.   Anm.  d.  Herausg. 

l43 


Ungnade  waren,  indem  sie  ihn  veranlassten  in  zu  of- 
fene Opposition  gegen  Madame  du  Barry  zu  treten. 
Ich  werde  in  der  Folge  dieser  Memoiren  wieder  auf 
ihn  zu  sprechen  kommen ;  jetzt  muss  ich  nach  Eng- 
land aufbrechen. 

Ein  Kapitän  aus  dem  angesehenen  Geschlecht  der 
Stunhopes  bot  sich  mir  als  Reisebegleiter  an.  Ich 
willigte  freudig  ein,  und  wir  verliessen  Paris  an  einem 
der  letzten  Februartage  des  Jahres  1 7 54- 

Auf  der  fünften  Post  brach  die  Achse  meines  Wa- 
gens; dieser  Unfall  zwang  mich  zu  einem  unerwar- 
teten Aufenthalt,  und  ich  unternahm  eine  ganz  eigen- 
artige Sache:  ich  schrieb  einen  Brief  an  eine  Frau,  die 
ich  in  Paris  oft  gesehen  hatte  und  die  ich  nie  mehr 
wiederzusehen  glaubte,  und  erklärte  ihr  meine  Liebe, 
was  ich,  solange  ich  sie  sprechen  konnte,  niemals  ge- 
wagt hatte,  obgleich  sie,  wie  ich  vermute,  die  Absicht 
in  mir  erraten  haben  musste;  ich  dachte  nicht,  jemals 
eine  Antwort  zu  erhalten;  das  Gegenteil  trat  ein;  ob- 
gleich ich  ihr  meine  Londoner  Adresse  nicht  angege- 
ben hatte,  spürte  sie  mich  dort  auf  und  ihre  Antwort 
gab  den  Anstoss  zu  einer  Korrespondenz,  die  ein  Jahr 
lang  währte;  ich  habe  die  Briefe  aufbewahrt  und  we- 
nige gibt  es,  die  angenehmer  zu  lesen  wären. 

Auf  dem  Wege  nach  Calais  sah  ich  Chantilly  mit 
der  begierigen  Erwartung,  welche  dieser  Ort,  wo  der 
grosse  Conde  ')  gelebt  hat,  natürlicherweise  erweckt; 

r)  Ludwig  II.  von  Rourbon,  Prinz  von  Conde,  der  grosse  Conde 
genannt  (162  1  — 1686),  einer  der  grössten  Feldherren  seiner 
Zeit,  trat  als  Generalissimus  in  spanische  Dienste  und  kämpfte 
gegen  Frankreich.  In  dem  1659  mit  Spanien  geschlossenen 
Frieden  erlangte  er  völlige  Verzeihung  und  Wiedereinset- 
zung in  die  früheren  Würden.   Anm.  d.  Herausg. 

144 


reges  Interesse  hatte  ich  dort  für  eine  Wachsbüste 
Heinrichs  IV.,  die,  so  heisst  es,  auf  dem  Antlitz  des 
Königs  selbst  modelliert  wurde;  ich  gestehe  jedoch, 
dass  ich  nicht  wenig  erstaunt  war,  gleich  daneben 
ein  Denkmal  zu  sehen,  das  dem  aufgeklärten  Ge- 
schmack, der  unter  Ludwig  XIV.  herrschte  und  dessen 
eine  Quelle  der  grosse  Conde  selbst  war,  wenig  Ehre 
machte.  In  einer  der  Galerien  von  Chantilly  ist  dieser 
Prinz  in  ganzer  Gestalt  zu  sehen,  an  seiner  Seite  eine 
Ruhmesgöttin,  die  in  jeder  Hand  eine  Trompete  hält; 
auf  der  Fahne  der  einen  Trompete  sind  in  Form  einer 
geographischen  Karte  all  jene  Orte  verzeichnet,  wo 
der  grosse  Conde  Kriegstaten  im  Dienste  Frankreichs 
verrichtete;  auf  der  Fahne  an  der  anderen  Trom- 
pete sind  in  gleicher  Weise  jene  Orte  verzeichnet, 
wo  er  gegen  Frankreich  kämpfte.  Aus  dem  Munde 
des  Helden  entrollt  sich  eine  Schrift,  die  nach  der 
zweiten  Fahne  hinweist  und  also  lautet:  „oh,  quantum 
poenituit .' "  Im  übrigen  will  ich  hier  nicht  wieder- 
holen, was  schon  so  oft  über  die  prachtvollen  Stal- 
lungen von  Chantilly  gesagt  wurde,  die  der  Enkel  des 
grossen  Conde  erbauen  liess,  jener, der  nachdem  Tode 
des  Herzogs  von  Orleans,  des  Regenten,  Premiermi- 
nister war,  der  Vater  des  jetzt  lebenden  Conde1). 

x)  Ludwig  Joseph  von  Bourbon,  Prinz  von  Conde(i y36 — i  8  i  8), 
bildete  1792  in  Koblenz  eine  Emigrantenarmee,  trat  später 
in  russischen  und  österreichischen  Dienst  und  kehrte  erst 
1814  nach  Paris  zurück.   Anm.  d.  Herausg. 


10  Poniatowski  1^5 


SECHSTES    KAPITEL 

ÜBERFAHRT  NACH  DOVER.  CANTERBURY.  —  AN- 
KUNFT IN  LONDON.  CHEVALIER  SCHAÜB.  —  DAS 
OBERHAUS.  —  DER  KANZLER  YORKE,LORD  HARD- 
WICK.  —  SEINE  KINDER  UND  SEIN  SCHWIEGER- 
SOHN MYLORD  ANSON.  —  TRAGISCHES  ENDE 
VON  CHARLES  YORKE.  —  LORD  STANLEY.  — 
SEINE  KOTERIE.  DODINGTON.  —  MYLORD  STRAN- 
GE. —  HAHNENKAMPF.  —  ICH  WERDE  GEORG  IL 
VORGESTELLT.  SEIN  PORTRÄT.  —  POPE  IST  IHM 
ÜBEL  GESINNT.  DIE  DARAUS  FOLGENDE  POLI- 
TISCHE WIRKUNG.  —  DER  HERZOG  VON  CUM- 
BERLAND.  DER  HERZOG  VON  NEWCASTLE.  — 
SIR  WALPOLE.  —  WAHL  ZU  WESTMINSTER.  — 
PITT.  —  MEINE  TOURNEE  NACH  BATH,  WILTON, 
OXFORD,  STONE-HINGE.  —  SIR  ALLEN,  DESSEN 
HAUS  POPE  BEWOHNT  HATTE.  MYLORD  LITTLE- 
TON.  —  STOW.  MYLORD  TEMPLE.  SIR  GREN- 
VILLE.  —  ENGLISCHE  ERZIEHUNG.  —  PITTS  EGOIS- 
MUS. —  VERÄNDERUNG  DER  ENGLISCHEN  SIT- 
TEN. —  ERZIEHUNG  DER  MATROSEN.  —  MY- 
LORD CHESTERFIELD.  —  MYLORD   GRANVILLE. 


illlllllttllllliiuill 


Unsere  Überfahrt  von  Calais  nach  Dover  dauerte 
neun  Stunden  und  war  folglich  sehr  schlecht; 
je  enger  die  See  und  je  kürzer  die  Wellen  bei  ungün- 
stigem Winde,  um  so  mehr  leiden  jene,  die  wie  ich 
aufs  heftigste  von  der  Seekrankheit  befallen  werden. 
Ich  litt  noch,  als  ich  bereits  in  Dover  auf  festem  Bo- 
den stand,  bald  jedoch  war  ich  wieder  hergestellt, 
aus  Freude,  in  England  zu  sein  und  gutes  Wasser 
trinken  zu  können,  denn  während  meines  ganzen 
Aufenthalts  in  Paris  hatte  ich  kein  gutes  Wasser  ge- 
trunken. 

Wir  brachen  nach  Canterbury  auf.  Die  erste  Be- 
kanntschaft, die  ich  dort  beim  Verlassen  der  Postchaise 
machte,  war  die  eines  Domherrn  der  dortigen  Kathe- 
drale; bevor  er  vom  heiligen  Thomas  zu  erzählen  be- 
gann, erbot  er  sich,  mir  eine  Büste  von  Cromwell  zu 
zeigen  und  ein  durch  Kanonenpulver  verursachtes 
Erdbeben. 

Diese  beiden  Sehenswürdigkeiten  schienen  mir  recht 
unkanonisch  zu  sein;  ich  verfehlte  die  letztere,  weil 
es  mir  an  Zeit  gebrach;  ich  hörte  nur  noch,  wie 
die  Herbergsmagd  sich  mit  meinem  Postillon  herum- 
stritt, aus  welchem  Lande  ich  stammen  möge,  und  be- 
hauptete, ich  könnte  kein  Franzose  sein  und  wäre 
sicher  etwas  Besseres  als  ein  Franzose,  denn  ich  hielte 

i48 


die  Gabel  mit  der  linken  Hand;  ich  war  gewarnt,  wäh- 
rend meines  Aufenthalts  in  England  die  Gabel  nie- 
mals mit  der  Rechten  zu  halten. 

Der  erste  Mensch,  der  sich  meiner  in  London  an- 
nahm, war  Chevalier  Schaub,  ein  geborener  Schweizer 
und  naturalisierter  Engländer.  Man  hatte  ihn  zu  ver- 
schiedenen Missionen  gebraucht,  hauptsächlich  unter 
Georg  I.  Unter  Georg  II.  war  er  ziemlich  lange  eine 
Art  Bureauchef  für  die  französische  Sprache,  wenn 
auch  ohne  speziellen  Titel.  Sein  hohes  Alter  und  die 
gewöhnliche  Wandelbarkeit  der  höfischen  Gunst  wa- 
ren der  Grund,  dass  er  seit  einiger  Zeit  keine  Beschäf- 
tigung hatte.  Unter  der  Regierung  Augusts  II.  Ge- 
sandter in  Polen,  hatte  er  sich  dort  aufs  innigste  mit 
meiner  Familie  befreundet  und  diese  Freundschaft  so 
bewahrt,  dass  er  sobald  er  mich  sah  sich  als  mein 
Vormund  betrachtete;  diese  Bevormundung  wäre  mir 
noch  vorteilhafter  gewesen,  hätte  ich  ihn  jünger  vor- 
gefunden. Er  ging  selten  aus,  und  bei  unserer  Kon- 
versation sah  ich  in  ihm  nur  einen  wohlwollenden 
Greis,  dessen  Geist  jedoch  bereits  in  hohem  Masse  dem 
leider  nur  zu  gewöhnlichen  Tribut  des  Alters  verfiel. 
Bei  dieser  Meinung  wäre  ich  verblieben,  hätte  ich 
nicht  zufällig  eines  Abends  länger  bei  ihm  verweilt 
als  gewöhnlich.  Mitternacht  war  vorüber,  und  ich 
war  ganz  erstaunt  zu  hören,  dass  er  sich  plötzlich  mit 
einer  Genauigkeit,  Knappheit  und  Richtigkeit  aus- 
drückte und  mit  einem  genialen  Feuer,  wie  ich  es 
noch  nie  an  ihm  bemerkt  hatte;  das  verlockte  mich, 
während  mehr  als  zwei  Stunden  über  allerlei  Gegen- 
stände höchst  ergötzlich  mit  ihm  zu  konvenieren.  Je 
mehr  ich  staunte,  desto  mehr  war  ich  bestrebt  zu  erra- 
ten, weshalb  er  diesmal  sich  selbst  so  unähnlich  schien. 

i49 


Am  nächsten  Morgen  war  ich  ganz  betrübt,  ihn  in  sei- 
nen Reden  und  in  den  Äusserungen  seines  Geistes  noch 
greisenhafter  als  gewöhnlich  zu  finden.  Wenige  Tage 
später,  um  Mitternacht,  war  er  wieder  so  geistreich 
wie  das  erste  Mal.  Mein  dritter  Versuch  und  alle 
späteren  bekräftigten  meinen  Schluss,  dass  der  Lärm 
und  die  Bewegung  einer  so  ungeheuren  Stadt  wie 
London  tagsüber  die  physischen  Organe  des  Greises 
zu  stark  beeinflussten,  was  seinen  Geist  beeinträchtigte, 
und  dass  folglich  erst  die  Ruhe  und  Stille  der  Nacht 
seine  Seele  befreite. 

Gleich  anfangs  hatte  er  mir  gesagt:  „Das  jetzige 
Parlament  tagt  nur  noch  morgen,  Sie  müssen  noch 
zum  mindesten  den  ganzen  Apparat  sehen."  Und  er 
empfahl  mich  dem.  Grafen  Sussex,  der  mich  im  Ober- 
haus einführte.  Ich  gestehe,  dass  ich  nicht  wenig  über- 
rascht war,  als  ich  diesen  Saal  betrat;  ich  hatte  mir 
von  ihm  eine  so  erhabene  Vorstellung  gemacht  und 
fand  ihn,  was  Material,  Grösse  und  Pracht  anlangt, 
weit  unter  unserem  polnischen  Senatssaal;  hingegen 
gab  mir  nichts  einen  solchen  Ansporn,  die  englische 
Sprache  zu  erlernen,  wie  das  Bedauern,  fast  kein  ein- 
ziges Wort  von  dem  zu  verstehen,  was  in  diesem  Ober- 
haus gesprochen  wurde,  obgleich  ich  meinen  Shake- 
speare beim  Lesen  zur  Hälfte  begriff. 

Ich  darf  hier  eine  Begebenheit  nicht  unerwähnt 
lassen,  die  ich,  obgleich  sie  für  mich  sehr  schmeichel- 
haft war,  mit  Schweigen  übergehen  würde,  könnte 
ich  nicht  dadurch  einen  ziemlich  allgemein  erhobenen 
Vorwurf  widerlegen,  den  man  den  Engländern  macht 
(oder  wenigstens  damals  machte),  sie  gäben  sich  keine 
Mühe,  Ausländern  einen  guten  Empfang  zu  bereiten. 

Lord  Hardwick,  der  Grosskanzler  Englands  und 

i  5o 


damals  Sprecher  des  Oberhauses,  bemerkte  meine  An- 
wesenheit mitten  in  der  Ausübung  seines  Amtes  und 
erkundigte  sich  nach  meinem  Namen;  hierauf  grüsste 
er  mich  und  liess  mir  durch  einen  Dolmetsch  sagen, 
er  freue  sich  über  meine  Ankunft  in  England  und 
würde  mich  mit  Vergnügen  bei  sich  empfangen.  Ich 
verstand  sehr  wohl,  dass  ich  diese  Auszeichnung  dem 
Bericht  verdankte,  den  seine  Söhne,  die  jungen  Yor- 
kes,  die  ich  in  Holland  kennen  gelernt,  ihm  über 
mich  gegeben  hatten.  Dennoch,  ich  konnte  die  her- 
vorragendsten Persönlichkeiten  aller  Länder,  die  ich 
bis  dahin  gesehen,  in  meinem  Geiste  an  seine  Stelle 
setzen  und  fand  doch  keine  einzige,  die  —  so  weit 
ich  sie  kannte  —  während  der  Ausübung  eines  so  ho- 
hen Amtes  in  gleicher  Weise  gehandelt  hätte. 

Ich  beeilte  mich,  von  einer  so  liebenswürdigen  Ein- 
ladung Gebrauch  zu  machen;  ich  wurde  mit  der  gröss- 
ten  Höflichkeit,  ja  sogar  Herzlichkeit  empfangen  und 
während  meines  ganzen  Aufenthalts  in  England  dort 
immer  gleich  freundlich  aufgenommen.  Ausser  dem 
wohlverdienten  Ruhm  dieses  Grosskanzlers,  dem  das 
Oberhaus  während  seines  achtzehnjährigen  Dienstes 
keinen  einzigen  Spruch  aufhob,  hatte  sein  Haus  für 
mich  noch  einen  besonderen  Anreiz,  denn  es  war  fast 
das  einzige  von  allen,  die  ich  kennen  lernen  durfte, 
wo  zwischen  Vater  und  Kindern  eine  patriarchalische 
Hierarchie  herrschte;  bei  allen  anderen  Engländern, 
welche  ich  während  der  kurzen  Zeit,  die  ich  unter 
ihnen  verbringen  durfte,  kennen  lernte,  schienen  die 
gegenwärtigen  Sitten  dieses  Verhältnis  abgestreift  zu 
haben. 

Ich  sah  diesen  ehrwürdigen  Mann  gewöhnlich  von 
seinen  fünf  Söhnen  umringt,  deren  ältester,  damals 

i5i 


Lord  Roystori  genannt,  den  Huf  eines  der  befähigte- 
sten Männer  Englands  geniesst,  den  allein  die  Be- 
scheidenheit stets  von  jedem  Amt  fernhält.  Charles 
Yorke,  der  Zweitälteste  Sohn  des  Kanzlers,  damals 
Generaladvokat  des  Königs,  wurde  von  der  öffentli- 
chen Meinung  bereits  als  Nachfolger  im  Amte  seines 
Vaters  bezeichnet.  Den  dritten  habe  ich  schon  früher 
vorgeführt,  er  ist  bis  jetzt  Gesandter  Englands  in 
Holland.  Von  den  beiden  jüngsten  bereitete  sich  der 
eine  für  den  Dienst  der  Kirche  vor,  der  andere  war 
sich  über  seine  Berufung  noch  nicht  im  klaren. 

Ihre  Schwester  war  mit  dem  berühmten  Admiral 
Anson  verheiratet,  dem  sanftmütigsten  und  gesellig- 
sten aller  Menschen;  der  einzige  Vorwurf,  den  man 
ihm  machen  konnte,  war,  dass  der  Gegenstand,  über 
den  zu  sprechen  man  ihn  am  schwersten  bewegen 
konnte,  gerade  sein  Beruf  und  seine  berühmten  Aben- 
teuer waren.  Man  konnte  es  fast  wörtlich  meinen, 
wenn  man  von  dieser  Familie  sagte,  bei  ihren  einzel- 
nen Mitgliedern  könne  man  jede  Wissenschaft  lernen  : 
Kriegskunst,  Politik,  Schiffahrt,  Jurisprudenz,  Natio- 
nalökonomie, Literatur  jeden  Genres,  all  dies  war 
teils  aus  Beruf,  teils  aus  Neigung  unter  ihnen  vertre- 
ten. Ihre  Einigkeit  und  das  mir  bezeugte  Wohlwollen 
liessen  mich  dieses  Haus  als  eine  Quelle  des  Wissens 
und  der  guten  Beispiele  ansehen. 

Am  innigsten  jedoch  befreundete  ich  mich  mit 
Charles  Yorke;  mir  schien,  dass  ihm  ausser  all  den 
Tugenden  seiner  Eltern  noch  eine  ganz  besondere 
Liebenswürdigkeit  des  Charakters  eignete,  die  mich 
sein  tragisches  Ende  niemals  hätte  voraussehen  lassen, 
und  doch  war  gerade  sie  dessen  wirkliche  Ursache. 
Er  hat  sich  nur  deshalb  die  Gurgel  durchschnitten, 

i52 


weil  er  den  Gedanken  nicht  ertragen  konnte,  von 
Mylord  Royston,  seinem  Bruder,  so  heftig  mis^billigt 
worden  zu  sein;  dieser  war  ganz  aus  seiner  gewöhn- 
lichen Beherrschung  herausgetreten,  um  dem  jünge- 
ren Bruder  zu  sagen,  er  werde  den  Verkehr  mit 
ihm  abbrechen,  weil  er  die  Grosskanzlerwürde  von 
Georg  III.  in  einem  Augenblick  und  in  einer  Weise 
entgegengenommen  hatte,  die  der  ältere  mit  den  Über- 
zeugungen der  Partei,  welcher  sie  angehörten,  un- 
vereinbar fand.  Obgleich  dies  sich  neunzehn  Jahre, 
nachdem  ich  England  verlassen,  ereignete,  ergriff  es 
mich  doch  schmerzlich.  Charles  Yorke  hatte  man- 
cherlei Beziehungen  zu  mir  aufrechterhalten;  je  äl- 
ter man  wird,  um  so  schmerzlicher  empfindet  man 
den  Verlust  eines  Herzensfreundes,  wohl  aus  egoisti- 
schen Gründen,  denn  je  älter  man  wird,  desto  schwe- 
rer erwirbt  man  sich  neue  Freunde.  Aber  selbst  wenn 
Charles  Yorke  nicht  mein  Freund  gewesen  wäre,  ist 
es  nicht  entsetzlich  zu  denken,  dass  einer  der  treff- 
lichsten Menschen  aus  übertriebener  Empfindlichkeit 
mit  eigener  Hand  seinen  Lebensfaden  durchschneidet? 

Ich  fühle,  dass  es  mir  bei  meinem  Bericht  ebenso 
schwer  fällt,  dieses  Haus  zu  verlassen,  wie  es  mir  da- 
mals in  Wirklichkeit  schwer  fiel,  in  andere  Häuser 
zu  gehen,  obgleich  mein  Glück  mir  den  Zutritt  zu 
einigen  anderen  auch  auf  ganz  besondere  Art  ermög- 
lichte. 

Am  übernächsten  Tage  nach  meiner  Ankunft  führte 
Mylady  Schaub  mich  an  einem  Empfangstag  bei  My- 
lady  Petersham  ein;  ein  Herr  der  Gesellschaft,  dem 
ich  nicht  vorgestellt  worden  war,  kam  auf  mich  zu 
und  sagte  zu  mir: 

„Sie  sind  hier  fremd,  Sie  haben  gewiss  eine  Menge 

i53 


Fragen  auf  dem  Herzen;  ich  bitte  Sie,  mich  nur  zu 
fragen;  ich  heisse  Stanley,  ich  bin  Madame  Geoffrin 
Dank  schuldig  für  den  Empfang,  den  sie  mir  in  Pa- 
ris bereitet  hat;  sie  hat  mir  über  Sie  geschrieben, 
ich  will  den  Dank,  den  ich  ihr  schulde,  bei  Ihnen  ab- 
tragen; ich  bitte  Sie,  morgen  zum  Diner  zu  mir  zu 
kommen,  ich  werde  Sie  vier  oder  fünf  Freunden  vor- 
stellen, mit  denen   ich  gewöhnlich  zusammen  bin." 

Es  war  derselbe  Stanley,  der  im  Jahre  1761  als 
erster  den  Frieden  zwischen  Frankreich  und  England 
vermittelte,  dessen  Erfolg  später  dem  Herzog  von 
Bedford  zugeschrieben  wurde.  Ich  ging  zu  ihm  und 
traf  dort  unter  anderen  Mylord  Bairington,  heute 
Staatssekretär  im  Kriegsdepartement,  Mylord  Strange, 
einen  gewissen  Dodington  und  einige  andere. 

Zu  allererst  baten  sie  mich,  ihre  schlechte  Ange- 
wohnheit (so  nannten  sie  es)  zu  entschuldigen,  in 
Gegenwart  eines  Ausländers  Englisch  zu  sprechen, 
denn  sie  wüssten,  trotz  der  besten  Vorsätze  würden 
sie  oft  in  diesen  Fehler  verfallen.  Ich  beschwor  sie 
bei  dem  Wohlwollen,  das  sie  mir  bezeugten,  ja  nicht 
Französisch  zu  sprechen,  und  auf  diese  Weise  lernte 
ich  viel  rascher  Englisch  als  durch  Hastin gs,  meinen 
Lehrer. 

Dodington,  den  ich  oben  erwähnte,  war  einer  der 
seltsamsten  Einwohner  Englands;  obgleich  er  das 
sechzigste  Lebensjahr  bereits  überschritten  hatte,  war 
er  im  Park,  im  Theater,  im  Parlament  gewöhnlich 
in  reich  gestickter  Kleidung  anzutreffen,  sogar  seine 
Jagdausrüstung  war  reich  verziert,  im  Gegensatz  zu 
der  Tracht  der  meisten  Engländer;  seine  Equipagen, 
seine  Livreen,  kurz  alles  strotzte  vor  Üppigkeit,  und 
um  so  bemerkenswerter  ist  dies,  als  es  nur  die  Folge 

1  54 


seiner  Sparsamkeit  war.  Dieser  Mann  hatte  einige 
Missionen  im  Ausland  übernommen,  bei  denen  er 
mit  Pomp  auftreten  inusste,  er  fand  es  unvernünftig, 
nicht  alles  bis  auf  den  letzten  Rest  aufzubrauchen, 
was  er  einst  hatte  anschaffen  müssen;  er  war  der  An- 
sicht, dass,  vom  Spott  der  Einfältigen  abgesehen,  ein 
gestickter  Rock  genau  so  dienlich  wäre,  die  Blosse  zu 
bedecken,  wie  irgend  ein  Frack  oder  ein  Überrock; 
und  er  war  so  dagegen  abgeblüht,  dass  alle  Makler 
und  die  Aufseher  bei  den  Hahnenkämpfen  und  der 
ganze  Hof  seit  fünfzehn  Jahren  seine  alte,  reiche 
Garderobe  genau  kannten.  Im  übrigen  liebte  er  es, 
den  jungen  Leuten  gegenüber,  die  seine  Gesellschaft 
bildeten,  einen  väterlichen  Ton  anzuschlagen,  und 
man  brauchte  bloss  seine  antike  Marmorsibylle  zu 
loben  (sie  war  abscheulich  und  bildete  die  Zierde  einer 
Marmorgalerie  oben  an  seinem  Hause),  dann  konnte 
man  sicher  sein,  Papa  Dodington  in  die  beste  Laune  zu 
versetzen  und  in  ihm  den  angenehmsten  alten  Schwere- 
nöter zu  finden,  den  man  sich  vorstellen  könnte. 

Mvlord  Strange  bildete  in  dieser  Gesellschaft  den 
vollendetsten  Konstrast  zu  Dodington.  Erbe  des  sehr 
reichen  Grafen  Derby  und  selbst  bereits  sehr  begütert, 
trieb  er  die  Schlichtheit  in  der  Kleidung  nicht  nur 
so  weit  wie  ein  Quäker,  sondern  sogar  bis  zur  Un- 
sauberkeit.  Er  führte  mich  zu  einem  Hahnenkampf; 
dieses  Schauspiel  war  mir  völlig  neu  und  um  so  merk- 
würdiger, als  ein  geringfügiger  umstand  hierbei  mich 
über  den  Nationalcharakter  der  Engländer  sonderbar 
aufklärte.  Man  stelle  sich  drei-  bis  vierhundert  Per- 
sonen jeden  Standes  vor  (ich  sah  dort  gleichzeitig  den 
Herzog  von  Cumberland  und  einige  Sänftenträger), 
in  einem  kleinen  Zimmer  zusammengedrängt,  all  ihre 

i  5  5 


Leidenschaften  aufs  heftigste  durch  das  Wettspiel 
aufgestachelt,  das  dem  Fremden  völlig  unverständlich 
ist:  man  wähnt  sich  inmitten  eines  Hexensabbats, 
solch  ein  entsetzlicher  Lärm  herrscht  dort,  denn 
gleichzeitig  stossen  alle  vierhundert  Münder  grauen- 
hafte Rufe  aus,  entweder  um  auf  tausend  verschiedene 
Arten  durch  ebensoviel  verschiedene  Wetten  ihr  Hab 
und  Gut  zu  riskieren,  oder  um  ihren  Eifer  für  die  Partei 
des  einen  oder  des  anderen  Hahnenchampions  zu  be- 
kunden. Der  Sturm  dauert  so  lange,  als  in  einem  der 
kämpfenden  Hähne  noch  ein  Lebensfunke  glimmt; 
man  meint,  das  Haus  müsse  einfallen.  Im  Moment, 
wo  einer  der  Hähne  verendet  (über  diesen  Augen- 
blick täuschen  die  Fremden  sich  leicht,  denn  es  kommt 
vor,  dass  diese  stolzen  Tiere  bis  zu  dreimal  wieder 
auferstehen),  im  Moment  also,  wo  er  wirklich  den 
letzten  Lebenshauch  ausatmet,  stirbt  sozusagen  die 
ganze  Versammlung  mit  ihm  eines  plötzlichen  Todes; 
auf  den  heftigsten  Lärm  und  die  schrecklichste  Er- 
regung folgt  mit  einem  Schlag  die  vollkommenste 
Ruhe;  und  dieser  plötzliche  Übergang  widerspricht 
—  ich  glaube  nur  in  England  —  jener  alten  Me- 
tapher, die  sich  bisher  sonst  überall  bewahrheitet  hat: 
dass  eine  erregte  Menge  dem  stürmischen  Meere 
gleicht,  dessen  Wogen  noch  lange,  nachdem  die  Ur- 
sache des  Sturmes  sich  gelegt,  unruhig  sind.  In  Eng- 
land wird  ein  Aufstand  von  fünfzigtausend  Londoner 
Einwohnern,  der  Staat  und  Thron  zu  bedrohen 
scheint,  fast  augenblicklich  auseinandergesprengt,  so- 
bald nur  das  Gesetz  vorgelesen  wird,  das  die  Strassen- 
ansammlungen  verbietet.  Die  Aufständischen  kennen 
dieses  Gesetz  auswendig,  aber  sie  scheinen  ihren  Ruhm 
darein  zu  setzen,  es  sich  von  einem  einzigen  Friedens- 

i56 


richter  oder  von  einem  einzigen  Konstabier  vorlesen 
zu  lassen;  gewöhnlich  scheineu  sie  nur  auf  diese  For- 
malität gewartet  zu  haben,  um  sich  dann  ohne  Lärm 
und  ohne  Zwang  zu  zerstreuen  und  hierdurch  zu  be- 
zeugen, dass  sie  das  Gesetz  lieben  und  achten.  Da  es 
nun  ein  Gewohnheitsgesetz  ist,  bei  den  Hahnenkämp- 
fen keinen  Laut  von  sich  zu  geben,  sobald  auf  der 
Arena  keine  zwei  lebenden  Champions  vorhanden  sind, 
so  geben  die  Engländer  keinen  Laut  von  sich,  sobald 
dieser  Fall  eintritt;  ich  habe  während  einer  Sitzung 
diesen  Wechsel  von  Sturm  und  Schweigen  einigemal 
erlebt;  sie  scheinen  stets  Herr  ihrer  Leidenschaften  zu 
sein,  oder  aber  es  hängt  deren  Dauer  von  einer  me- 
chanischen Triebfeder  ab. 

Der  Leser  erwartet  vielleicht,  dass  Chevalier  Wil- 
liams mich  bei  Hofe  einführen  wird,  aber  ich  traf 
ihn  nicht  in  London.  Ich  wurde  von  meinen  Bekann- 
ten nur  an  den  Kammerherrn  vom  Dienst  gewiesen, 
der  mich  dem  damals  regierenden  König  Georg  II. 
vorstellen  sollte.  Als  Williams  sechs  Monate  vorher 
nach  England  zurückgekommen  war,  hatte  der  König 
ihn  gefragt,  weshalb  er  mich  nicht  mitgebracht,  und 
Williams  hatte  geantwortet,  ich  sei  nach  Paris  ge- 
gangen um  Englisch  zu  lernen,  ehe  ich  nach  London 
käme.  Dieses  sonderbare  Motiv  versetzte  den  König 
in  gute  Laune  und  beeinflusste,  so  glaube  ich,  die  un- 
gemein liebenswürdige  Aufnahme,  die  mir  zuteil 
wurde.  Ich  erinnere  mich,  dass  er  unter  anderem  sich 
bei  mir  detailliert  über  die  Ostrog-Affäre  erkundigte, 
die  damals  ganz  Polen  beschäftigte.  Ich  wusste  ihm 
Dank  dafür,  um  so  mehr  als  ich  von  den  anderen  Sou- 
veränen, die  ich  gesehen,  in  dieser  Hinsicht  nicht  ver- 
wöhnt worden  war. 

I  57 


Wenn  ich  alles,  was  ich  über  diesen  Fürsten  gele- 
sen und  gehört  habe,  zusammenstelle,  glaube  ich  dar- 
aus schliessen  zu  können,  dass  er  ein  durchaus  recht- 
lich denkender  Mensch  war,  der  die  Angelegenheiten 
mit  der  nötigen  Beflissenheit  betrieb,  ohne  sich  jedoch 
hervortun  zu  wollen  wie  jene,  die  alles  selbst  getan 
und  selbst  erdacht  haben  wollen.  Er  war  tapfer  wie 
alle  Braunschweiger  und   liebte  es,  über  den  Krieg 
zu  sprechen ;  er  hatte  mehreren  Schlachten  persönlich 
beigewohnt,    dennoch  galt  er  nicht  als  geschickter 
General;  die  Minister  und  Diener,  die  lange  in  seinem 
Dienst  standen,  haben  ihn  geliebt,  obgleich  er  im  all- 
gemeinen nicht  freigebig  war;  es  wurde  sogar  erzählt, 
er  habe  versucht  bei  den  Subsidien,  die  die  Nation 
den  Ausländern  aussetzte,  Ersparnisse  zu  machen  und 
schicke  jährlich  ungefähr  hundert  Millionen  Duka- 
ten  nach   Hannover,    um   dort   seinen   persönlichen 
Schatz  zu  mehren.  Über  letzteres  sind  die  Ansichten 
sehr  geteilt,  aber  gerade  das  hat  seinen  Widersachern 
den  meisten  Stoff  geliefert,  ebenso  wie  seine  konstante 
Vorliebe  für  alles,  was  zu  Hannover  Bezug  hatte,  wo- 
durch seine  politischen  Entschlüsse  manchmal  in  einer 
Weise  beeinflusst  wurden,  über  die  die  Engländer  sich 
mit  Recht  zu  beklagen  glaubten;  dennoch  meineich, 
hier  eine  Ansicht  wagen  zu  können:  wäre  nicht  der 
Dichter  Pope  gewesen,  so  hätte  Georg  II.  sich  fünfzehn 
Jahre  früher  der  Achtung,  der  Verehrung  und  sogar 
des   grenzenlosen  Vertrauens  erfreut,  mit  dem  sein 
Volk  ihn  während  seiner  letzten  Lebensjahre  ehrte. 
Die  Natur  hatte  es  diesem  Fürsten  versagt,  an  der 
Poesie  Gefallen  zu  finden;  es  waren  ihm  einige  Be- 
merkungen entschlüpft,  die  den  Dichtern  im  allge- 
meinen und  Pope  im  besonderen  Gleichgültigkeit  und 

i58 


beinahe  Verachtung  bezeugten;  in  Pope  sah  er  über- 
dies einen  Mann,  der  seiner  Regierung  wenig  gewo- 
gen sein  konnte,  weil  er  katholisch  und  ein  intimer 
Freund  von  Mylord  Bolingbroke1)  und  Doktor  Swift 
war  und  als  solcher  im  Verdacht  stand,  gegen  die 
hannoversche  Erbfolge  mit  dem  Geistdes  Widerspruchs 
erfüllt  zu  sein.  Es  ist  lange  her,  seit  Horaz  gesagt  hat: 
genus  irritabile  vatum,  und  Pope  dementierte  nicht 
diese  Maxime  des  alten  Meisters;  seine  Berühmtheit 
war  so  gross,  dass  jeder  Schöngeist  en  titre,  jeder  Mann 
aus  altem  Geschlecht,  der  nach  literarischem  Ruhme 
strebte,  und  sogar  jene,  die  sich  nur  durch  ihre  Bon- 
mots auszeichnen  wollten,  sich  zu  kompromittieren 
fürchteten,  wenn  sie  einer  Meinung  huldigten,  der 
Pope2)  entgegentrat;  er  hatte  in  seinem  Lande  fast 
ebensoviele  Anbeter  wie  Voltaire  heute  in  Frankreich. 
Addison,  der  einzige  hervorragende  Schöngeist  seines 
Jahrhunderts,  der  es  wagte,  nicht  immer  Popes  Freund 
und  ein  entschiedener  Whig  zu  sein,  war  bereits  lange 
tot,  und  die  Regierung  Georgs  II.  erfreute  sich  noch 
nicht  jener  glänzenden  militärischen  und  kommerzi- 
ellen Erfolge,  die  geeignet  sind  jede  Nation  zu  begei- 
stern und  die  englische  Nation  mehr  als  jede  andere. 

*)  Henry  Saint  John  Bolingbroke  (1678  —  iySi)  gehörte  zur 
Torypai  tei,  musste  1  7  1  5  nach  Frankreich  fliehen,  da  er  wegen 
hochverräterischer  Verbindungen  mit  den  Stuarts  angeklagt 
war,  durfte  zwar  1723  nach  England  zurückkehren,  blieb 
aber  vom  Oberhaus  ausgeschlossen  und  bekämpfte  deshalb 
das  Ministerium  Walpole.    Anm.  d.  Herausg. 

*)  Alexander  Pope  (1688 — 1744)  gründete  mit  Swift  und  Ar- 
buthnot  eine  satirische  Zeitschrift  „Miscellanies",  in  der  die 
zeitgenössischen  Schriftsteller  schonungslos  gegeisselt  wurden. 
Anm.  d.  Herausg. 

159 


Noch  ein  anderer  Umstand  trug  dazu  bei,  dass 
Georg  II.  die  Huldigung  und  die  Liebe  der  Nation 
erst  so  spät  gewann;  als  Prinz  von  Wales  war  er  ein 
Gegner  der  Minister  seines  Vaters  gewesen;  als  eine 
Art  Vergeltung  war  sein  ältester  Sohn  der  Feind  seiner 
Minister.  Mylord  Carteret,  der  spätere  Lord  Granville, 
Mylord  Chesterfield,  Sir  Pulteney  und  zahlreiche 
andere  der  gewandtesten  und  begabtesten,  die  Sir 
Robert  Walpoles1)  steigendes  Glück  mit  scheelen  Au- 
gen ansahen,  hatten  es  für  richtig  befunden,  den  Prin- 
zen von  Wales  zum  Haupt  ihrer  Partei  zu  ernennen, 
und  sowohl  dieser  Prinz  als  auch  sein  ganzer  Anhang 
glaubten  sich  selbst  zu  ehren,  indem  sie  Pope  ehrten, 
welcher  es  so  gut  verstanden  hatte,  gegen  Georg  II. 
den  Ton  der  Kritik  und,  was  noch  schlimmer  ist,  den 
Ton  der  Ironie  anzuschlagen,  dass  es  eines  besonderen 
Mutes  bedurfte  oder  einer  ungewöhnlichen  Beflissen- 
heit, durch  Minister  Walpole  Karriere  zu  machen 
und  —  wenn  man  so  sagen  kann  —  es  zu  wagen,  sich 
in  schlechte  Gesellschaft  zu  begeben,  indem  man  sich 
für  den  König  erklärte.  Doch  schliesslich,  wie  alles 
ein  Ende  hat,  starb  auch  Pope,  der  Prinz  von  Wales 
folgte  ihm,  und  noch  zu  dessen  Lebzeiten  waren  fast 
alle  seine  Anhänger  Royalisten  geworden,  indem  sie 
sich  in  Walpoles  Erbe  teilten. 

Der  Herzog  von  Cumberland,  Georgs  II.  zweiter 
Sohn,    war  nach  der  Schlacht  von  Culloden  einige 

l)  Robert  Walpole,  Graf  von  Oxford  (1676 — 1 74s),  war 
18  Jahre  hindurch  erster  Lord  des  Schatzes  und  Kanzler  der 
Schatzkammer,  unterstützte  Industrie  und  Handel  und  för- 
derte die  amerikanischen  Kolonien.  Unpopulär  war  er  durch 
seine  Begünstigung  der  hannoverschen  Politik  des  Königs. 
Anm.  d.  Herausg. 

IÖO 


Jahre  hindurch  der  Abgott  der  Engländer.  Als  ich 
nach  England  kam,  wurde  er  noch  von  den  vernünftig- 
sten Leuten  sehr  geschätzt;  er  war  seinem  Vater  stets 
ein  sehr  zärtlicher  und  überaus  respektvoller  Sohn 
und  stützte  in  bedeutendem  Masse  dessen  Ansehen 
in  der  Öffentlichkeit.  Als  ich  in  England  war,  verlor 
Georg  II.  den  Oberschatzmeister  Pelham.  Der  Her- 
zog von  Newcastle1),  sein  älterer  Bruder,  übernahm 
sein  Amt,  das  in  England  gewöhnlich  mit  dem  Titel 
des  Premierministers  verbunden  ist. 

Dieser  wirklich  merkwürdige  Mensch,  eine  bizarre 
und  oft  sogar  komische  Zusammensetzung  mehrerer 
einander  widersprechender  Eigenschaften,  verwaltete 
sein  Amt  genau  so  unumschränkt  wie  einst  Walpole; 
aber  er  wurde  weniger  gehasst  als  sein  Vorgänger, 
denn  jener  hatte  sich  erlaubt  zu  sagen,  „er  besitze  den 
Tarif  jeder  englischen  Redlichkeit",  eine  geistreiche 
Bemerkung,  die  Walpole  um  so  teurer  zustehen  kam, 
als  er  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  es  nur  zu  deut- 
lich zeigte,  wie  sehr  er  seine  Zeitgenossen  missachtete, 
und  ohne  Hehl  die  Korruption  zur  hauptsächlichsten 
und  beinahe  einzigen  Triebfeder  seiner  Verwaltung 
erhob. 

Walpole,  der  von  niedriger  Herkunft  war,  gelangte 
ans  Ruder  und  hinterliess  seinen  Kindern  eine  Pair- 
schaft  und  ein  grösseres  Vermögen,  als  er  von  seinem 
Vater  geerbt  hatte. 

Der  Herzog  von  Newcastle  hatte  bei  seinem  Amts- 
antritt eine  Rente  von  fünfundzwanzigtausend  Pfund 

*)  Thomas  Pelham  Holles,  Herzog  von  Newcastle  (i  694 — 1  768), 
gehörte  zu  den  eifrigsten  Anhängern  des  hannoverschen  Hau- 
ses. 1754  wurde  er  zum  Oberschatzmeister  ernannt,  1765 
iura  Geheimsiegelbewahrer.    Anm.  d.  Herausg. 

1 1  Poniatowski  1  ß  I 


Sterling,  bei  seinem  Abgang  hatte  er  nur  noch  eine 
Rente  von  neunzehntausend  Pfund. 

Walpole  erschien  immer  gelassen  und  heiter,  erha- 
ben über  alle  Geschehnisse  und  über  die  Sarkasmen, 
die  ihm  ins  Gesicht  geschleudert  wurden  und  über  die 
er  gewöhnlich  hinwegging,  ohne  darauf  zu  erwidern. 

Die  Bewegungen,  die  Allüren,  die  Sprache,  das 
ganze  Gebaren  des  Herzogs  von  Newcastle  war  ein 
Bild  der  Sorge  und  Geschäftigkeit;  man  sagte  von 
ihm,  er  laufe  gewöhnlich  den  ganzen  Tag  einer 
Sache  nach,  die  er  am  Morgen  vergessen  habe;  bei 
seinen  Levers  oder  Audienzen  kam  es  oft  vor,  dass  er 
sich  auf  einen  Mann  stürzte,  von  dem  er  glaubte,  dass 
er  mit  ihm  etwas  zu  tun  habe;  diesen  schleppte  er 
dann  eine  Stunde  lang  mit  sich  herum,  während  er 
durch  die  Menge  eilte  und  zu  fünfzig  anderen  Per- 
sonen sprach;  plötzlich  packte  er  aus  dem  gleichen 
Grunde  einen  zweiten  Mann  und  beide  stiess  er  dann 
ganz  plötzlich  mit  erstaunter  Miene  zurück,  als  er 
merkte,  dass  er  sie  mit  sich  herumführte,  ohne  im 
geringsten  zu  wissen,  was  er  ihnen  eigentlich  zu  sagen 
hatte.  Zerstreutheiten  und  Missgriffe  folgten  einander, 
er  stammelte  Entschuldigungen,  verschwendete  die 
Beteuerungen  seiner  Dienstfertigkeit  und  die  banalen 
Popularitätsphrasen,  an  die  er  sich  in  seiner  Jugend 
gewöhnt  hatte,  denn  damals  hatte  er  —  wie  er  selbst 
gestand  —  sich  mit  Vorliebe  an  die  Spitze  des  Wahl- 
mobs gestellt.  Er  war  durchaus  kein  guter  Redner 
und  schien  niemals  irgend  eine  Sache  auch  nur  mit 
der  geringsten  Exaktheit  anpacken  zu  können,  so 
rasch  und  verworren  war  seine  Rede ;  seine  geschäft- 
lichen Briefe  dagegen  (und  er  schrieb  viele  eigenhän- 
dig) waren  beispiellos  genau  und  lakonisch,  ohne  dass 

I  62 


der  Stoff  durch  die  Kürze  gelitten  hätte;  ich  habe 
mehrere  gelesen.  Er  liebte  nicht  die  geistreich-witzi- 
gen Gespräche,  denn  er  war  nicht  schlagfertig  und 
litt  sehr  unter  der  strengen  und  oft  ungerechten  Kri- 
tik, der  jeder  englische  Minister  von  Amts  wegen  aus- 
gesetzt zu  sein  scheint ;  er  schien  in  beständiger  Sorge 
um  sein  Amt  und  um  sein  Ansehen  sowohl  bei  der  Na- 
tion als  auch  beim  König,  der  ihm  Mylord  Carteret 
vorgezogen  hätte,  aus  Neigung  oder  weil  er  ihn  für 
befähigter  hielt,  sich  jedoch  genötigt  sah,  den  Herzog 
von  Newcastle  zu  behalten,  weil  die  eifrigen  Whigs 
übereinstimmten,  in  ihm  ihren  berufenen  Führer  zu 
erblicken. 

Im  übrigen  bot  die  Zeit  meines  Aufenthalts  in  Eng- 
land keine  stürmischen  Szenen  dar,  wie  sie  eine  Regie- 
rung in  Verlegenheit  bringen  und  für  die  Ausländer 
ein  merkwürdiges  Schauspiel  abgeben.  Es  gab  damals 
fast  keine  Opposition,  so  dass  ich  mir  ohne  Fährlich- 
keit  die  Westminsterwahlen  ansah,  ohne  Geleit  irgend 
eines  Engländers.  Ich  hatte  sogar  den  Vorzug  von 
einer  Austernhändlerin  herzlich  umarmt  zu  werden, 
die  mir  die  beiden  Kandidaten  des  Tages  nannte, 
Cross  und  Cornwallis,  denen  ich  den  gleichen  Erfolg 
wünschte  wie  diese  Dame.  Ich  nenne  die  Händlerin 
mit  Absicht  so,  weil  ich  hörte,  wie  ein  Mann  in  ihrer 
Gesellschaft  einen  Kameraden,  der  sich  vor  ihr  auf- 
gestellt hatte,  mit  folgenden  heftigen  Worten  zurecht- 
wies: „It  is  a  scoundrels  behaviour  to  stand  before  the 
ladies.ai) 

England  erfreute  sich  damals  der  tiefsten  Ruhe; 
kaum     dass    man    über   einen    Hader    in   Amerika 

*)  Ein  Schurke,  wer  sich  vor  die  Damen  hinstellt. 

i63 


zwischen  französischen  und  englischen  Kolonisten 
sprach,  die  man  nur  als  einen  jener  unvermeidlichen 
Zwischenfälle  an  den  fernsten  Grenzen  der  Metro- 
polen betrachtete.  Man  dachte  so  wenig  an  den  Krieg, 
dass  ich,  ganz  im  Gegenteil,  aufgeklärte  Menschen  oft 
prophezeien  hörte,  was  sich  erst  drei  Jahre  später 
offenbarte:  so  sehr  habe  der  Krämergeist  den  grössten 
Teil  der  Navigatoren  und  der  Kriegsmarine  erfasst, 
so  sehr  scheine  die  Regierung  alles  zu  vernachlässigen, 
was  die  Wehrfähigkeit  des  Landes  betreffe,  dass  das 
Debüt  des  ersten  kommenden  Krieges  für  England 
unbedingt  schlecht  sein  und  auch  schlecht  bleiben 
werde,  bis  die  Schmach  verschiedener  Misserfolge  den 
Nationalstolz  erwecken  und  der  englischen  Regierung 
einen  neuen  Impuls  verleihen  würde.  Diesen  Impuls 
gewann  sie  sich  erst  wieder,  als  Georg  II.  den  drän- 
genden Bitten  des  Herzogs  von  Newcastle  nachgab 
und  seinen  persönlichen  Widerwillen  gegen  Herrn 
Pitt  beiseite  Hess,  den  letzten  seiner  berühmten  Geg- 
ner, die  seine  ersten  Regierungsjahre  bedrängt  hatten, 
von  dessen  Begabung  und  dessen  Ansehen  es  jedoch 
in  der  Öffentlichkeit  hiess,  sie  seien  zur  Stütze  des 
Staates  unumgänglich  nötig. 

Ich  habe  Pitt  gesehen ;  aber  ich  will  von  ihm  sagen 
wie  Pope  von  Dryden:  Virgilium  vidi  tantum.  Ich 
hatte  nicht  den  Vorzug,  mich  mit  ihm  zu  unterhalten. 
Jedoch  allein  schon  sein  Anblick  wird  mir  eine  in- 
teressante Erinnerung  bleiben :  von  grosser  Gestalt, 
hager,  die  Physiognomie  eines  Adlers;  mehrere  Rei- 
sende, die  verschiedene  Cäsarbüsten  gesehen  hatten, 
sagten  mir,  er  sei  diesen  ähnlich. 

Ich  bemerkte  schon  damals  manches  heimliche  Ent- 
gegenkommen des  Hofes  oder  zumindest  der  Minister, 

i64 


die  Herrn  Pitt  durch  jenen  oben  erwähnten  Charles 
Yorke  zu  gewinnen  versuchten,  mit  dem  ich  eine 
Reise  ins  Innere  des  Landes  unternahm,  wo  wir  mit 
Pitt  zusammentrafen. 

Diese  Reise  brachte  mir  ausser  dem  Vergnügen, 
Bath,  Wilton,  Oxford,  Stone-Hinge  und  einige  andere 
benachbarte  Orte  kennen  zu  lernen,  noch  die  Be- 
kanntschaft einiger  hervorragender  Persönlichkei- 
ten ein.  In  der  Nähe  von  Bath  (dessen  Schönheit 
damals  erst  im  Aufblühen  begriffen  war)  kam  ich  in 
das  Haus  eines  gewissen  Sir  Allen,  den  Pope  in  sei- 
nen Werken  erwähnt  und  dessen  Tochter  mit  Dok- 
tor Warburton  verheiratet  war.  Er  hatte  mit  Pope 
intim  verkehrt  und  sprach  mit  solchem  Enthusias- 
mus über  ihn,  dass  ich  gewissermassen  die  Nähe  jenes 
berühmten  Mannes  zu  fühlen  begann,  so  lebhaft  war 
auch  der  Eindruck  all  dessen,  was  mir  in  diesem 
Hause,  wo  Pope  so  lange  gelebt  und  wo  jedes  Möbel- 
stück an  ihn  erinnerte,  über  ihn  berichtet  wurde,  und 
ich  verstand,  wie  die  Geschichte  der  ersten  Zeitalter 
durch  mündliche  Tradition  überliefert  werden  konnte. 
Der  Chevalier,  nachmals  Lord  Lyttleton  *),  nahm  mich 
mit  ganz  besonderem  Wohlwollen  auf  und  bezeugte 
es  mir  bis  an  sein  Lebensende  von  Zeit  zu  Zeit  immer 
wieder.  Er  ist  der  Autor  der  Briefe  über  die  Tro- 
glodyten  und  hat  auch  noch  andere  Werke  verfasst. 

In  Stow  traf  ich  Mylord  Temple  an.  den  gegen- 
wärtigen Besitzer,  und  seine  Brüder,  die  Herren 
Grenville;  einer  von  ihnen  ist  inzwischen  zum  ersten 
Schatzmeister  ernannt  worden.  Mylord  Temple  zeigte 
mir  inmitten  seiner  riesigen  Gärten  einen  Tempel  der 
*)  George,  Lord  Lyttleton  (1709 — 1773),  englischer  Staats- 
mann, Historiker  und  Dichter.  Anm.  d.  Herausg. 

l65 


Freundschaft,  worin  Mylord  Cobham,  weiland  sein 
Schwiegervater,  von  dem  alle  Dekorationen  dieses 
Ortes,  sowohl  die  Gartenkünste  wie  die  Bauten, 
stammen,  die  Büste  des  Prinzen  von  Wales,  Georgs  II. 
Sohn,  aufstellen  liess,  sowie  die  Büsten  aller  berühm- 
ten Männer,  die  unter  des  Prin/en  Auspizien  Wal- 
pole angegriffen  und  schliesslich  gestürzt  hatten.  Und 
er  erzählte  noch  folgende  Anekdote:  Ein  Spassvogel, 
der  es  mit  erlebt  hatte,  wie  die  meisten  jener  illustren 
Männer  und  schliesslich  Mylord  Cobham  selbst  aus 
der  Partei  des  Prinzen  von  Wales  desertierten,  um 
sich  der  Hofpartei  anzuschliessen,  fragte  diesen  My- 
lord Cobham,  als  er  ihm  seinen  Tempel  zeigte,  wem 
er  die  Schlüssel  übergeben  werde  und  wer  diesen 
armen,  verlassenen  Prinzen  weiter  bewachen  solle? 
Das  Haus  und  die  Gärten  von  Stow,  dazumal  der . 
grösste  Privatbesitz  in  England,  fesselten  um  so  mehr 
meine  Aufmerksamkeit,  als  an  diesem  Orte  der  Ge- 
schmack der  chinesischen  Gartenkunst  zum  ersten- 
mal zur  Schau  gestellt  worden  war.  Zu  meiner  Zeit 
hatte  sich  dieser  Geschmack  auf  anderen  Landsitzen 
bereits  verfeinert  und  vervollkommnet.  Auf  Stow 
blickte  man  jedoch  mit  einer  Art  Verehrung,  weil  es 
die  Wiege  dieses  neuen  Geschmacks  war,  der  die 
symmetrischen  Gärten  in  Verruf  brachte,  die  trau- 
rigen Taxusbäume  und  all  jene  holländischen  Spie- 
lereien, die  Wilhelm  III.  in  England  eingeführt  hatte. 
Diese  neue  Geschmacksrichtung,  die  hauptsächlich 
darin  bestand,  künstliche  Landschaften  zu  erzeugen, 
hatte  sich  zu  einer  Art  neuer  Sekte  ausgebaut  und 
trat  mit  dem  Eifer  und  der  unduldsamen  Antipathie 
einer  solchen  gegen  die  alte  Lehre  auf.  Ich  wagte  nur 
ein-  oder  zweimal,  ein  gewisses  Bedauern  zu  äussern 

166 


aber  die  völlige  Verbannung  der  Geradlinigkeit  bei 
Alleen  und  künstlichen  Teichen.  Ich  sah,  dass  ich 
Gefahr  lief,  die  Gunst  zu  verlieren,  die  mir  ziemlich 
allgemein  zuteil  wurde,  da  Charles  Yorke  mich  als 
seinen  Freund  einführte;  meine  aufrichtige  Geneigt- 
heit, die  Engländer  und  fast  jede  ihrer  Geschmacks- 
richtungen und  ihr  ganzes  Gebaren  zu  verehren  und 
zu  lieben,  verhinderte  doch  nicht,  dass  sich  verschie- 
denes in  ihrer  Art  zu  sehen  und  zu  fühlen  mit  meinen 
Anschauungen  nicht  deckte. 

Am  meisten  erstaunte  mich  ihre  Erziehung;  im 
Gegensatz  zu  allem,  was  ich  sonst  überall  gesehen, 
dass  man  sich  nämlich  beeifert,  die  Kinder  gut  zu  er- 
ziehen, schien  mir  in  den  englischen  Schulen  das 
Ehrgefühl  völlig  vernachlässigt  zu  werden.  Die 
Peitsche  und  nur  die  sehr  freigebig  angewandte 
Peitsche  scheint  dort  den  Ausschlag  zu  geben,  und 
die  Erfahrung  spricht  bei  den  Engländern  für  den 
Erfolg.  Es  gibt  heutzutage  keine  Nation,  wo  so  viele 
Individuen  die  lateinischen  und  sogar  mehrere  grie- 
chische Klassiker  verstehen  und  auswendig  kennen; 
jedoch  scheinen  die  Lehrer  an  diesen  Schulen  sich 
nur  zu  dieser  Unterweisung  verpflichtet  zu  fühlen; 
sobald  die  Schulstunden  vorüber  sind,  werden  die 
Kinder  völlig  sich  selbst  überlassen,  als  wären  sie 
Handwerker,  die  ihr  Tagewerk  vollbracht;  sie  machen 
absolut  nur  das,  was  ihnen  beliebt,  und  man  ist  so  weit 
davon  entfernt,  ihnen  wie  anderwärts  gute  Manieren 
beibringen  zu  wollen,  dass  man  nichts  auszusetzen 
findet,  wenn  ein  Kind  aus  einem  englischen  College 
niemanden  grüsst,  sich  vor  niemandem  erhebt  und 
niemandem,  wem  es  auch  sei,  irgend  eine  Zuvorkom- 
menheit erweist.   Im  Hause  ihrer  Eltern  sieht  man 

167 


die  zehn-  und  zwölfjährigen  Knaben  sich  auf  Sofas 
und  Tischen  herumwälzen,  den  Fremden  ihre  Füsse 
auf  die  Knie  legen,  wenn  man  sie  fragt,  geruhen  sie 
keine  Antwort  zu  geben,  —  und  die  nachsichtigen 
Eltern  sagen  hierzu:  „fis  a  tnte  rough  school  boy"  1). 

Ich  habe  die  Engländer  behaupten  gehört,  dass, 
wenn  die  Jugend  nach  den  in  anderen  Ländern  üb- 
lichen Höflichkeitsmaximen  erzogen  wird,  man  ihr 
die  frische  Originalität  des  eigenen  Charakters  raubt 
und  der  Verlust  dieser  Originalität  nicht  wiedergut- 
zumachen ist;  tatsächlich  trifft  man  sie  —  wenigstens 
dem  Anschein  nach  —  in  England  häufiger  an  als 
anderswo;  ich  glaube  es  in  der  Folge  verständlich  zu 
machen,  weshalb  ich  sage  „dem  Anschein  nach". 

Nach  vollendetem  fünfzehnten  Lebensjahr  schickt 
man  gewöhnlich  die  jungen  Engländer  von  den  nie- 
deren Schulen  an  die  Universitäten  von  Cambridge 
oder  Oxford,  und  es  wird  von  ihnen  erwartet,  dass 
sie  dort  Geschichte,  Jurisprudenz,  Mathematik,  Philo- 
sophie und  sogar  Theologie  lernen.  Ich  glaube  jedoch, 
die  Engländer  werden  mich  nicht  desavouieren,  wenn 
ich  behaupte,  dass  trotz  der  wirklich  sehr  tüchtigen 
Lehrer  kaum  zehn  von  hundert  Schülern  dort  etwas 
lernen,  so  gross  ist  die  Freiheit  der  Studenten. 

Wenn  sie  endlich  das  achtzehnte  Jahr  vollendet 
haben,  manchmal  auch  früher,  sollen  sie  nach  allge- 
meinem Übereinkommen  auf  Reisen  gehen ;  ich  war 
nicht  wenig  erstaunt  zu  sehen,  dass  diese  Nation,  die 
im  allgemeinen  den  Ruf  der  grössten  Besonnenheit 
geniesst,  in  der  Wahl  eines  Mentors  als  Reisebegleiter 
genau  so  wenig  oder  noch  weniger  wählerisch  ist  als 
andere  Nationen  (und  nicht  immer  gibt  man  den> 
2)  Er  ist  ein  richtiger  ungestümer  Schulknabe. 

168 


-  I  H£_ brave /jarfj'/ana 

Josef  Potocki,  Woiwode  von  Kiew,  Grosshetman  der 
Krone  und  Kastellan  von  Krakau,  -j-  1761 


Jünglingen  überhaupt  einen  Mentor  mit).  So  ziehen 
sie  denn  aus,  das  Gehirn  gespickt  mit  gutem  Latein 
und  einigen  englischen  Klassikern  und  von  der  Über- 
zeugung erfüllt,  dass  die  Regierung,  das  Erdreich,  die 
Sitten,  der  Geschmack,  überhaupt  alles  in  England 
besser  ist  als  irgendwo  anders.  Solchermassen  ausge- 
rüstet und  voller  Missachtung  für  die  Nationen,  die 
sie  aufsuchen  gehen,  sind  sie  sehr  erstaunt,  dass  sie 
überall,  wo  sie  hinkommen,  von  vornherein  wie 
Wilde  angestaunt  werden,  weil  sie  nicht  einmal  zu 
grüssen  verstehen,  nicht  einmal  wissen,  wie  man  ein 
Zimmer  betritt  und  verlässt;  da  sie  die  „nichtssagen- 
den französischen  Übungen"  stets  verachtet  haben 
und  gewöhnlich  ausser  ihrer  Sprache  keine  andere 
beherrschen,  fallen  sie  notwendigerweise  allen  zur 
Last  und  infolgedessen  auch  sich  selbst. 

Da  jedoch  die  meisten  Engländer  klug  und  stolz 
sind,  empfinden  sie  diese  Demütigung  aufs  lebhaf- 
teste, die  zwei  Rückwirkungen  auf  sie  ausübt,  eine 
gute  und  eine  schlechte:  die  Langeweile  treibt  sie 
fast  alle  dem  Spiel  zu  und  den  niedrigsten  Aus- 
schweifungen, der  Überdruss  nach  diesen  Ausschwei- 
fungen führt  sie  jedoch  zur  Lektüre,  und  so  lernen 
sie  notdürftig  eine  andere  Sprache.  Da  jedoch  diese 
Lektüre  wieder  ganz  ungeregelt  ist,  erlangen  sie  oft 
eine,  wenn  man  so  sagen  kann,  bizarre  Gelehrsamkeit 
in  gewissen  Dingen,  mit  denen  sie  sich  zufolge  der 
völligen  Freiheit  ihrer  Gedanken  und  Handlungen 
vorzugsweise  beschäftigen,  während  sie  meist  auf  an- 
deren Gebieten  nicht  über  die  krasseste  Unwissenheit 
hinauskommen.  Einige  wieder  (ihre  Anzahl  ist  sehr 
beschränkt)  geben  sich  den  Bemühungen  um  die 
„guten   Manieren"    hin   oder,   um   es   besser  auszu- 

169 


drücken,  geraten  auf  die  Irrwege  der  Geckenhaftig- 
keit. Wenn  sie  sich  aber  einmal  dieser  Neigung  hin- 
geben, dann  übertreffen  sie  die  berüchtigtsten  Vor- 
bilder aller  anderen  Nationen,  denn  auch  darin  fordert 
der  englische  Stolz  für  sich  den  Vorrang. 

Von  der  ersten  ausländischen  Stadt,  wo  sie  die 
äusserste  rauhe  Schale  bereits  etwas  abgestreift  haben, 
begeben  sie  sich  gewöhnlich  nach  Italien  oder  nach 
Wien.  Ihre  Ausgaben  bewirken,  dass  man  sie  in 
ersterem  Lande  gut  aufnimmt.  Die  langjährigen  Ver- 
pflichtungen Österreichs  gegenüber  England,  die  Anti- 
pathie, welche  die  Deutschen  Jahrhunderte  hindurch 
gegen  Frankreich  genährt  haben,  gestalteten  auch 
Wien  zu  einem  den  Engländern  günstig  gesinnten 
Orte.  Erfolge  ermutigen  und  entfalten,  ehe  sie  ver- 
derben, —  und  so  kommt  es,  dass  diese  jungen  Eng- 
länder, die  vor  einem  Jahre  beim  Antritt  ihrer  Reise 
wie  Menschen  von  der  anderen  Halbkugel  angestaunt 
wurden,  uns  jetzt  durch  ihre  Sicherheit  und  Anmut 
in  Erstaunen  setzen;  man  darf  jedoch  nicht  vergessen, 
dass  sie  bei  Antritt  ihrer  Reise  eine  gewisse  Grund- 
lage guter  literarischer  Rildung  besassen,  dass  sie  im 
allgemeinen  klug  sind  und  dass  die  Demütigung  bei 
ihrem  ersten  Debüt  sie  gezwungen  hat,  ihr  notdürf- 
tiges Wissen  zu  erweitern.  Der  Wahrheit  gemäss  muss 
man  hinzusetzen,  dass  die  politische  Bedeutung  ihrer 
Nation,  die  Berühmtheit  ihrer  wirklich  überlegenen 
Männer  und  schliesslich  sogar  die  Absonderlichkeit 
ihrer  Individuen  in  vielen  Ländern  ein  ihnen  günsti- 
ges Interesse  erweckt;  all  das  zusammengenommen 
bringt  es  zuwege,  dass  diese  jungen  Engländer  nach 
beendigter  Reise  zu  sich  sagen:  „So,  wie  wir  nun  ein- 
mal sind  und  indem  wir  nur  das  taten,  was  uns  passte, 

I  70 


ist  unsere  Reise  dennoch  ganz  gut  verlaufen."  Und 
das  bestärkt  sie  in  der  bequemen  Angewohnheit,  nicht 
so  zu  sein  wie  alle  Welt,  sondern  jeder  nach  seinem 
Belieben. 

Mit  den  Ideen  und  den  Gewohnheiten  der  grössten 
Freiheit  erfüllt  gebrauchen  sie  sie  gar  oft  gegen  den 
eigenen  Hof,  und  je  vermögender  sie  von  Haus  aus 
sind,  um  so  länger  beharren  sie  in  dieser  Opposition, 
die  stets  von  einer  gewissen  dem  Selbstbewusstsein 
schmeichelnden  Volksgunst  begleitet  wird.  Im  Par- 
lament und  in  allen  Bureaus  treffen  sie  Männer  von 
grösster  Versiertheit  in  den  Wissenschaften  der  Be- 
rechnung, der  Politik,  des  Rechts,  der  Geschichte 
usw.,  neben  denen  sie  nicht  bestehen  können,  wenn 
sie  nicht  so  viel  dazulernen,  um  wenigstens  annähernd 
ihnen  zu  gleichen;  dadurch  werden  sie  gezwungen, 
ihre  Dosis  an  Wissen  noch  zu  vergrössern.  Ich  will 
hier  nicht  von  der  Art  ihrer  Beredsamkeit  sprechen, 
denn  dies  würde  eine  besondere  Abhandlung  er- 
fordern. 

Solange  also  diese  jungen  Republikaner  die  patrio- 
tische Rolle  (oder  was  dafür  gehalten  wird)  durch- 
führen, beglückwünschen  sich  jene,  die  einst  die  true 
rough  school  boys  lobten,  zu  ihrer  Erziehung,  aber  sie 
sind  um  die  Antwort  verlegen,  wenn  man  sie  fragt, 
warum  so  viele  dieser  Engländer,  die  anscheinend 
doch  so  originell  und  einander  so  unähnlich  sind,  in 
einem  Punkte  einander  gleichen,  nämlich  im  Eintre- 
ten für  folgende  Ansicht: 

„Die  Republik,  —  sehr  schön,  dennoch  muss  vor 
allem  mein  Individuum  dort  den  Platz  finden,  der 
mir  passt;  meine  Originalität,  die  ich  nicht  abstreifen 
will,  hat  mir  bizarre  und  kostspielige  Liebhabereien 

171 


angewöhnt;  ich  bedarf  grosser  Mittel,  um  ihnen  zu 
genügen,  also  ergreifen  wir,  was  sich  bietet;  die  Volks- 
gunst wird  mich  beim  Hofe  in  Ansehen  bringen,  er 
wird  mich  brauchen;  wenn  ich  ihn  nur  recht  in  Ver- 
ruf bringe,  wird  er  mich  schliesslich  kaufen,  und  dann 
kann  ich  mich  über  den  Götzen  der  Popularität  lustig 
machen,  dem  ich  zuerst  scheinbar  geopfert  habe;  ich 
bin  nicht  so  einfältig,  habe  selbständig  denken  gelernt 
und  die  Vorurteile  zu  gut  abgeschüttelt,  um  mich  in 
eine  lächerliche  Abhängigkeit  von  jenen  Gemein- 
plätzen zu  begeben,  die  in  den  alten  Büchern  Pflich- 
ten genannt  werden:  Primo  mihi,  das  ist  unser  Wahl- 
spruch." 

Ich  frage  jene,  die  fünfzehn  oder  zwanzig  Jahre 
später  in  England  waren,  ob  sie  nicht  unendlich  viele 
Engländer  jeden  Standes  diese  Moral  ganz  öffentlich 
vertreten  gehört?  Und  woraus  resultiert  dieser  allge- 
meine Egoismus?  Was  hat  ihn  so  üppig  ins  Kraut 
schiessen  lassen,  wenn  nicht  jene  Erziehung,  die,  an- 
statt die  Schüler  zu  lenken  und  zu  zügeln,  ihnen  zu- 
zurufen schien:  „Jeder  für  sich,  Gott  für  alle,  sehet 
zu,  wie  ihr  vorwärts  kommt!" 

Vielleicht  wird  man  mir  einwenden,  es  sei  wohl 
leichtfertig  und  ungerecht,  so  schwerwiegende  Folgen 
einer  so  geringfügigen  Ursache  entspringen  zu  lassen, 
wie  es  die  Ausserachtlassung  der  „Manieren"  ist;  man 
wird  einwenden,  wenn  es  daran  in  England  gebricht, 
so  gibt  es  dagegen  kein  Land,  wo  man  mehr  von  der 
Gutmütigkeit  (good  nature)  spricht  und  wo  man  sie 
häufiger  antrifft.  Darauf  entgegne  ich,  genau  so  wie 
jedes  Übel  schrittweise  fortschreitet,  so  wird  auch  das 
Kind,  das  man  daran  gewöhnt,  sich  keinerlei  Zwang 
aufzuerlegen,  niemandem  gefällig  zu  sein,  dessen  ein- 

172 


ziges,  all  seine  Handlungen  bestimmendes  Motiv  die 
Willkür  ist  oder  die  zwingende  Macht  der  Peitsche, 
die  sich  ihm  mit  dem  Begriff  des  Schicksals  verbin- 
det, —  so  wird  ein  solches  Kind  sich  notwendiger- 
weise einer  Geistesrichtung  nähern,  deren  einzige 
Richtschnur  der  Eigennutz  bildet. 

Man  wird  mir  entgegnen,  da  müsste  ja  aber  Eng- 
land seit  langem  verraten  und  verkauft  sein  .  .  . 
Worauf  zu  erwidern  ist:  „Das  Leben  der  Staaten 
währt  etwas  länger  als  das  Leben  der  Menschen; 
prüfen  wir  jedoch,  ob  auf  die  Apotheose  des  Ruhmes 
und  der  Bedeutung,  in  der  sich  England  vor  kaum 
zwölf  Jahren l)  befand,  nicht  ein  zu  rascher  und  sieht 
barer  Absturz  erfolgt  ist,  der  vielleicht  ein  tiefwur 
zelndes  Übel  verkündet." 

Und  wieder  wird  man  mir  entgegnen:  Wäre  Herr 
Pitt  bis  jetzt  an  der  Spitze  des  Ministeriums  seines  Lan- 
des geblieben,  so  wäre  England  noch  jetzt  die  erste 
Macht  in  Europa.  Und  ich  würde  die  Antwort  wagen: 
Wäre  Herr  Pitt  etwas  weniger  egoistisch,  so  wäre  er 
noch  Minister,  hätte  (nach  seiner  Verabschiedung)  nicht 
die  Kabalen  geschürt,  hätte  die  amerikanischen  Kolo- 
nisten nicht  so  aufgehetzt,  und  die  Regierung  befände 
sich  nicht  in  der  unangenehmen  Zwangslage,  ent- 
weder eine  Nachsicht  zu  üben,  die  bereits  an  Schwäche 
grenzt  und  ihren  Rechten  Abbruch  tut,  oder  eine 
Strenge  zu  zeigen,  die  stets  grausam  erscheint  und 
die  leicht  verhängnisvoll  werden  kann,  wenn  man 
gezwungen  wird,  das  Blut  der  Bürger  zu  vergiessen. 

Aber  weiter,  ist  Herr  Pitt  denn  der  Inbegriff  der 
ganzen  Nation?  Nein,  gewiss  nicht,  und  eben  weil  er 
es  nicht  ist,  weil  die  alten  nationalen  Tugenden  und 
*)  Anra.  des  Königs:   Dies  habe  ich  1775  niedergeschrieben. 

i73 


die  Wirkungen  der  früheren  Ereignisse  der  englischen 
Geschichte  auf  diese  Nation  den  Rest  eines  Einflusses 
ausüben  —  ungefähr  so  wie  die  religiösen  Grund- 
sätze, die  uns  in  der  Jugend  eingeprägt  wurden, 
manchmal  noch  einen  bejahrten  Libertin  zurück- 
halten können  — ,  läuft  die  politische  Maschine  durch 
diesen  ursprünglichen  Impuls  weiter.  Ich  bin  weit 
entfernt  zu  behaupten,  dass  sie  sich  nicht  wieder  her- 
stellen Hesse,  und  vielleicht  wird  gerade  ein  Umstand, 
den  die  Engländer  als  ein  Symptom  des  Verfalls  an- 
sehen, ihr  zur  Läuterung  dienen. 

Vor  zwanzig  Jahren  geruhte  kaum  eine  von  vierzig 
englischen  Frauen  französisch  zu  sprechen ;  alle  Frauen 
ohne  Ausnahme,  sogar  die  rothaarigen,  legten  weder 
Puder  noch  Schminke  auf;  sie  vernachlässigten  ihre 
Zähne;  in  ihrer  Kleidung  und  in  ihrem  Benehmen 
bildeten  sie  den  vollständigen  Gegensatz  zu  den  Fran- 
zösinnen. Heutzutage  hat  nicht  nur  in  all  diesen 
Punkten  eine  grosse  Annäherung  an  ihre  Nach- 
barinnen stattgefunden,  sondern  sie  haben  auch  be- 
reits einen  bemerkenswerten  Umschwung  in  dem 
Gebaren  der  Engländer  bewirkt.  Die  Rigoristen  wol- 
len darin  nur  eine  Annäherung  an  den  monarchischen 
Geist  erblicken;  ich  im  Gegenteil  würde  zu  glauben 
wagen,  dass  wenn  diese  beiden  Nationen  mehr  mit- 
einander verkehrten,  als  in  der  Vergangenheit,  sie  sich 
gegenseitig  nützen  könnten:  die  Franzosen  sind  be- 
sonnener geworden  und  weniger  leichtlebig,  und  die 
Engländer  glauben  zwar,  dass  sie  nur  aus  Entgegen- 
kommen für  die  Frauen  ihres  Landes  einen  Teil  der 
französischen  Lebensart  annehmen,  doch  sie  werden 
vielleicht  unmerklich  den  Fehler  ihrer  nationalen 
Erziehung   ausmerzen,  die  ihnen  zuerst  eine  über- 

174 


massige  Freiheit  verleiht,  sie  jedoch  in  der  Folge 
durch  das  Zusammenwirken  verschiedener  Umstände 
in  eine  zu  grosse  Abhängigkeit  von  ihren  Leiden- 
schaften geraten  lässt. 

Da  ich  von  ihrer  Erziehung  spreche,  kann  ich  es 
mir  nicht  versagen,  ein  Wort  über  die  Erziehung 
einer  Klasse  von  Männern  verlauten  zu  lassen,  die  in 
jenem  Lande  eine  wichtige  Rolle  spielen,  nämlich  die 
Matrosen.  Wenn  man  sie  kennen  lernt  ist  man  ge- 
neigt zu  sagen,  hier  sei  der  Versuch  gemacht  worden, 
mit  welchem  Mindestmass  an  Ideen  und  Kenntnissen 
es  möglich  ist,  menschliche  Wesen  existieren  und 
agieren  zu  lassen.  Gewöhnlich  treten  sie  bereits  im 
zartesten  Kindesalter  in  den  Dienst;  sie  hören  so  we- 
nig von  Gott  und  dem  Teufel,  dass  man  allen  Grund 
hat  zu  glauben,  jene  Geschichte  habe  sich  tatsächlich 
ereignet,  die  da  berichtet:  ein  Schiffskaplan  hielt  sei- 
nen Schäflein  eine  Predigt  und  wusste  sie  nicht  bes- 
ser vor  der  Übertretung  der  Gebote  zu  warnen  als 
durch  die  Versicherung,  sie  würden  in  die  Hölle 
kommen,  so  wahr  er  die  Fliege  in  seiner  Hand  halte, 
die  er  soeben  gefangen;  als  er  jedoch  die  Hand  öff- 
nete und  die  Fliege  nicht  fand,  erlaubte  er  ihnen  über 
diesen  Umstand  zu  glauben,  was  ihnen  beliebte. 

Ich  meine,  dass  diese  selbe  Gedankenarmut  am 
meisten  dazu  beiträgt,  den  englischen  Matrosen  jene 
Bravour  einzuflössen,  die  sie  so  auszeichnet.  Sie  den- 
ken nicht  an  das,  was  im  anderen  Leben  ihrer  wartet, 
und  bemühen  sich  in  diesem  Leben  nur  dem  drückend- 
sten Ungemach  aus  dem  Wege  zu  gehen ;  ein  solches 
sind  die  sehr  strengen  körperlichen  Strafen,  die  ihnen 
für  die  geringste  Übertretung  oder  Nachlässigkeit  im 
Dienst  zuteil  werden;   Gewohnheit  und    Erziehung 


befreunden  sie  so  gut  mit  dem,  was  man  gemeinhin 
Gefahr  nennt,  dasssiedas  physische  Gefühl  der  Furcht 
verlieren  oder  vielmehr  niemals  erwerben.  Sie  sind 
stets  guter  Laune,  denn  sobald  der  Dienst  beendet  ist, 
lastet  keine  Sorge  auf  ihnen.  Ihre  Nahrung  und  die 
Befriedigung  all  ihrer  Bedürfnisse  ist  ihnen  gesichert ; 
das  einzige  Verlangen,  das  sie  in  Ermanglung  der 
Frauen  an  Bord  nicht  stillen  können,  wird  dann  in 
den  Häusern,  die  von  der  Regierung  ad  hoc  begün- 
stigt werden,  vollauf  befriedigt.  Sobald  sie  den 
festen  Boden  betreten,  vergeuden  sie  ihre  ganze  Löh- 
nung; sie  erhalten  die  Löhnung  erst  an  Land  und 
zwar  für  die  ganze  Dauer  der  vollbrachten  Reise  oder 
Kampagne;  sobald  sie  alles  verausgabt  haben,  sehen 
sie  sich  wieder  genötigt  und  sind  geneigt,  neuen 
Dienst  zu  nehmen  und  sich  sofort  einzuschiffen. 

Wenn  es  einmal  vorkommt,  dass  sie  nicht  ihr  gan- 
zes Geld  bei  den  Weibern  lassen,  so  geben  sie  das, 
was  ihnen  noch  bleibt,  dem  ersten  besten,  der  sie  dar- 
um angeht.  Es  beunruhigt  sie  keine  Sorge  um  die  Zu- 
kunft, aber  auch  kein  Gedanke  an  die  Schicklichkeit. 
Eine  ganz  besondere  Art  Menschen,  deren  Leben  von 
einer  einzigen  Triebfeder  gelenkt  wird,  der  Furcht 
vor  körperlicher  Züchtigung,  doch  sind  sie  deshalb 
weder  feig  noch  traurig.  Jeder  Matrose  will,  sobald 
er  seinen  vierstündigen  Dienst  beendigt  hat,  von  sei- 
nem Recht  Gebrauch  machen  und  sich  ruhig  nieder- 
legen, obgleich  ein  Gewitter  heraufzieht  oder  das  Was- 
ser steigt,  denn  er  meintjetztistan  einem  andern  die 
Reihe,  das  Schiff  zu  retten;  es  sei  denn,  dass  der  Kapi- 
tän von  seiner  Macht  Gebrauch  macht;  dann  fürchtet 
der  Matrose  nur  die  Strafe,  nicht  den  Tod,  denn  so 
wurde  er  auferzogen.  Man  könnte  sagen,  die  Land- 

I  76 


iruppen  gewisser  Mächte  seien  ihnen  darin  gewisser- 
massen  ähnlich,  dennoch  erreichen  sie  nicht  diese 
Macht  der  Matrosenschule,  die  tatsächlich  den  Vorteil 
hat,  die  Schüler  in  noch  jüngeren  Jahren  abzurichten. 
Die  Engländer  erfreuen  sich  auf  ihrer  Insel  der  Frei- 
heit —  das  ist  richtig,  dagegen  gibt  es  nirgends  ein 
despotischeres  Kommando  noch  eine  gehorsamere  Un- 
terwürfigkeit als  jene,  der  man  auf  ihren  Kriegsschif- 
fen begegnet. 

Ich  kann  England  nicht  verlassen,  ohne  noch  zweier 
hervorragender  Persönlichkeiten  dieses  Landes  Er- 
wähnung zu  tun,  deren  man  voraussichtlich  einige 
Zeit  gedenken  wird. 

Nach  dem,  was  Doktor  Mathy,  Sekretär  der  Royal 
Society,  vor  kurzem  über  Mylord  Chesterfield  gesagt 
hat,  bliebe  seiner  Beschreibung  des  Lebens  und  Charak- 
ters des  Lords  fast  nichts  hinzuzufügen,  hätte  er  nicht 
gewisse  Eigentümlichkeiten  dieses  berühmten  Mannes 
ausser  acht  gelassen,  die  mich  gerade  in  dem  Gedan- 
ken bestärkten,  dass,  wenn  ein  Engländer  sich  irgend 
einer  Manie  hingibt,  er  auch  darin  viel  weiter  geht  als 
irgend  ein  Mann  einer  anderen  Nation.  Mylord  Che- 
sterfield sprach  ein  viel  korrekteres  und  sogar  ein  viel 
besseres  und  eleganteres  Französisch  als  alle  anderen 
Engländer,  die  ich  damals  gehört,  zu  einer  Zeit,  wo 
der  antigallikanische  Geist  und  Ton  noch  viel  weiter 
getrieben  wurde  als  heute;  er  liebte  es  jedoch  sosehr, 
mit  dieser  Gabe  zu  prahlen,  dass  er  sich  einen  be- 
sonderen Korrespondenten  in  Paris  hielt,  der  ihm  alle 
neuen  Ausdrücke  und  Redensarten  mitteilen  musste, 
die  die  Mode  aufkommen  liess. 

Noch  eine  andere  sonderbare  Gewohnheit  hatte  er : 
er  behauptete,  sein  Sehorgan  sei  ganz  anders  wie  das 

12    Poniatowski  177 


aller  anderen  Menschen,  und  er  lobte  die  Eleganz 
meines  grünen  Fracks,  während  dieser  doch  von  kaf- 
feebrauner Farbe  war.  Auch  merkte  man  ihm  bald 
eine  leichte  Manieriertheit  der  Ausdrucksweise  an, 
die  auch  aus  einigen  seiner  Schriften  spricht. 

Trotz  alledem  und  trotz  seiner  wirklich  empfindli- 
chen Taubheit  fand  man  doch  grossen  Gefallen  au 
seiner  Konversation,  da  er  sehr  geistreich  und  gebildet 
war  und  auf  seinen  Reisen  und  den  hervorragenden 
Ämtern,  die  er  im  eigenen  Lande  bekleidet,  viele 
Leute  kennen  gelernt  hatte.  Er  war  einer  der  Schön- 
redner von  Walpoles  Gegenpartei,  sprach  jedoch  nie- 
mals ex  tempore.  Stets  bereitete  er  sich  auf  seine  Re- 
den vor;  man  sagte  von  ihm:  his  oratory  is  not  in 
ready  money,  but  in  hüls  (sein  Rednertalent  ist  keine 
Münze,  sondern  ein  Wechsel). 

Sein  Zeitgenosse,  Mylord  Granville  (früher  Carte- 
ret),  war  damals  Präsident  des  Kabinettsrats;  er  sprach 
nicht  so  gerne  Französisch  wie  Ghesterfield,  dagegen 
hatte  er  eine  unglaubliche  Leidenschaft  für  die  spa- 
nische Sprache  und  ganz  besonders  für  den  Don 
Quijote,  den  er.  auf  seine  Kosten  gar  prächtig 
drucken  Hess.  Auch  er  war  einer  der  heftigsten  Geg- 
ner Walpoles,  dennoch  gelang  es  ihm,  Georgs  II. 
Gunst  völlig  wiederzugewinnen,  so  dass  dieser  Fürst 
wiederholt  den  Wunsch  äusserte,  ihn  an  die  Spitze 
des  Ministeriums  zu  stellen,  doch  konnte  er  sich  dort 
nicht  lange  halten. 

Er  war  ein  Whig,  das  Gros  der  Whigs  hatte  jedoch 
kein  Vertrauen  zu  ihm,  obgleich  alle  sich  über  seine 
hohe  Begabung  einig  waren.  Als  im  Jahre  1 74^  der 
König  darauf  bestand,  ihm  die  Stelle  des  Herzogs  von 
Newcastle  zu  übertragen,  den  er  seines  Amtes  enthob. 

178 


ie;;ten  einige  hundertvierzig  Personen  in  den  höchsten 
Stellungen  ihre  Amter  nieder.  Mylord  Carteret  sah 
sich  genötigt  dem  König  zu  sagen:  „Geruhen  Ew. 
Majestät  mich  meines  Amtes  zu  entheben,  denn  ich 
kann  die  Geschäfte  nicht  führen;  ich  sehe,  dass  ich 
die  Mehrzahl  des  Parlaments  gegen  mich  haben 
werde."  Der  König  sah  sich  gezwungen,  zwei  Tage 
nach  Mylord  Granvilles  Erhebung  dieser  Bitte  zu 
willfahren;  die  Witzbolde  Hessen  ein  kleines  Buch  in 
Folio-Format  jedoch  in  Daumengrösse  drucken,  das 
betitelt  war:  „Geschichte  des  Ministeriums  Gran  vi  lle" ; 
die  zweihundert  Seiten  dieses  Buches  bestanden  je- 
doch nur  aus  zwei  Zeitungsartikeln:  der  eine  kündigte 
Granvilles  Berufung,  der  andere  seine  Demission  an. 


^9 


SIEBENTES    KAPITEL 

MEINE  ABREISE.  ANKUNFT  IN  HOLLAND.  BANGIG- 
KEIT. —  DER  JUDE  TOBIAS  BOAS  KOMMT  MIR 
ZU  HILFE.  —  WOHLWOLLENDER  EMPFANG  MEI- 
NER MUTTER.  —  DER  OSTROG-REICHSTAG.  — 
FRANKREICHS  ABSICHTEN.  —  DIE  WOIWODIN 
VON  SMOLENSK.  —  DIE  FÜRSTIN-GENERAL- 
WACHTMEISTERIN.  —  MORALISCHER  UND  POLI- 
TISCHER STAND  MEINER  FAMILIE.  —  DAS  TRI- 
BUNAL VON  WILNO  UNTER  FLEMMING.  — WILNO 
UND  EINE  REASSUMPTION  IN  WILNO.  —  PARTEI- 
GEIST IN  LITAUEN.  —  FLEMMINGS  UND  SA- 
PIEHAS  EIFERSUCHT.  —  FRAUSTADT.  —  ICH 
WERDE  TRUCHSESS.  —  MEIN  BRUDER  HÄLT 
MIR  EINE  PREDIGT.  —  RENDEZVOUS.  ABEN- 
TEUER. —   ABREISE  NACH  RUSSLAND. 


Im  Juni  1754  erhielt  ich  von  meinem  Vater  die  Or- 
der, nach  Polen  zurückzukehren.  Ich  machte  eine 
sehr  glückliche  Überfahrt  von  Harwich  nach  Helwet- 
Sluyss  in  vierzehn  Stunden.  Aber  noch  nie  hatte  ich 
solch  eine  Bangigkeit  und  Herzbeklemmung  verspürt 
als  wie  bei  meiner  Ankunft  im  Haag.  Ich  hatte  we- 
der getrunken,  noch  gespielt,  noch  mich  mit  Frauen- 
zimmern abgegeben,  hatte  nichts  von  jenen  Dingen 
getan,  die  man  gemeinhin  Jugendtorheiten  nennt,  und 
hatte  doch  das  ganze  Geld,  das  meine  Familie  mir 
für  die  Reise  mitgegeben  l),  restlos  verbraucht,  so  dass 
ich  zusammen  mit  Cienski,  einem  jungen  Gardeoffi- 
zier, der  mich  begleitete,  und  meiner  ganzen  Diener- 
schaft nach  Bezahlung  der  letzten  Postpferde  keinen 
roten  Heller  übrig  behielt.  Ich  zitterte,  dass  irgend 
ein  Unfall  mich  in  die  Verlegenheit  bringen  könnte, 
meine  Mittellosigkeit  gestehen  zu  müssen,  eine  Ver- 
legenheit, die  überall  peinlich,  in  Holland  aber  viel 
schrecklicher  als  anderswo  ist,  da  die  angeborene  Ge- 

*)  Anm.  d.  Königs:  Mein  Vater  hatte  mir  für  diese  Reise  35oo 
polnische  Gulden  gegeben,  meine  Grossmutter  1000,  der  Woi- 
wode  von  Ruthenien  schickte  mir  5oo  Dukaten;  damit  reiste 
ich  fünfzehn  Monate  in  Österreich,  Sachsen,  Holland,  Frank- 
reich und  England  und  liess  mir  in  Paris  eine  Garderobe  an- 
fertigen. 

l8"2 


^chicklichkeit  der  unteren  Klassen  dieser  Nation  in 
Gaunerstückchen  und  ihre  Keckheit  die  Ausländer 
tausend  Missgeschicken  ausliefern. 

Kaum  war  ich  ausgestiegen,  so  liess  ich  Kauder- 
bach bitten,  bei  mir  vorzusprechen;  ich  hatte  ihm  bei 
einer  früheren  Zusammenkunft  einen  Gefallen  erwie- 
sen, jetzt  bat  ich  ihn  um  Hilfe,  und  eine  Stunde  spä- 
ter brachte  er  mir  dreihundert  Dukaten,  die  mir  auf 
'-eine  Gutsage  hin  ein  Jude  namens  Tobias  Boas  vor- 
streckte; an  diesen  Dienst  erinnernd  schrieb  er  mir 
später  nach  meiner  Erwählung  einen  Glückwunsch- 
brief, den  ich  aufs  freundlichste  beantwortete. 

Am  nächsten  Tage  reiste  ich  weiter  und  kehrte  ei- 
ligst über  Hannover  und  Dresden  nach  Warschau  zu- 
rück in  der  sicheren  Annahme,  Landbote  zu  werden. 

Bei  meiner  Ankunft  liess  meine  Mutter  mir  nur  die 
Zeit,  meinen  Vater  zu  begrüssen,  dann  nahm  sie  mich 
<ofort  beiseite  um  mich  zu  fragen,  wie  viel  Schulden 
ich  gemacht.  Als  ich  ihr  antwortete,  ich  wäre  nur  drei- 
hundert Dukaten  im  Haag  schuldig,  glaubte  sie  einen 
Augenblick,  dass  ich  ihr  nicht  alles  gestehen  wollte; 
meine  Wahrhaftigkeit  kennend,  schenkte  sie  jedoch 
meinen  Beteuerungen  bald  Glauben  und  sagte:  „Das 
wird  bezahlt."  Gleich  darauf  führte  sie  mich  an  ein 
Fenster,  um  mir  eine  (für  jene  Zeiten)  prächtige  Equi- 
page zu  zeigen,  die  für  mich  bestimmt  war,  und  alles 
an  diesem  Tage  schien  mir  eine  weitere  Reihe  ange- 
nehmer Tage  zu  verkünden.  Aber  das  war  nur  ein 
trügerischer  Traum  von  kurzer  Dauer,  der  bald  den 
drei  traurigsten  Monaten  meines  Lebens  weichen 
musste. 

So  zärtlich  und  wohlwollend  meine  Eltern  beim 
«ersten  Empfang  waren,  ebenso  missmutig  und  mit 

i83 


tausend  kleinen  Dingen  unzufrieden  waren  sie  her- 
nach, und  die  geringfügigen  Ursachen  ihrer  Unzu- 
friedenheit Hessen  mich  diese  um  so  schmerzlicher 
empfinden,  als  ich  fand,  dass  sie  ungerecht  waren, 
und  ich  sie  doch  herzlich  liebte.  Später  glaubte  ich 
zu  verstehen,  dass  diese  Übellaune  seitens  meiner 
Mutter  mehr  gewollt  als  aufrichtig  war  und  sie  mich 
dadurch  zu  grösserer  Sorge  um  meine  häuslichen  An- 
gelegenheiten anzuhalten  gedachte,  die  ich  ihrer  An- 
sicht nach  zu  leicht  nahm. 

Doch  jetzt  versetzte  es  mich  in  eine  tiefe  Melan- 
cholie, die  sich  noch  bedeutend  durch  die  Idee  ver- 
stärkte, dass  man  mich  nicht  lange  genug  in  Frank- 
reich und  England  gelassen,  wo  ich  tatsächlich  nui 
ein  Viertel  von  allem  gesehen  hatte,  was  ich  zu  sehen 
und  zu  studieren  gewünscht.  Noch  viel  schmerzlicher 
wurde  dieses  Bedauern,  als  meine  Eltern  mir  erklär- 
ten, sie  wünschten  nicht,  dass  ich  mich  zum  diesjäh- 
rigen Reichstag  als  Landbote  wählen  Hesse,  und  zwar 
aus  dem  Grunde,  weil  mein  Schwager  wegen  der  be- 
rühmten Ostrogaffäre  in  offenem  und  sehr  lebhaftem 
Gegensatz  zu  meinen  Oheimen  Czartoryski  stand  umi 
meine  Eltern  nicht  wollten,  dass  ich  auf  dem  Reichs- 
tag in  die  Lage  geriete,  entweder  gegen  meinen 
Schwager  oder  gegen  meine  Oheime  aufzutreten. 

Diese  aufgezwungene  Untätigkeit  kränkte  mich 
tief,  sie  erschien  mir  demütigend;  ich  beneidete  jene, 
die  Gelegenheit  hatten,  sich  auf  diesem  Reichstag 
auszuzeichnen. 

Vier  Landboten  lenkten  die  meiste  Aufmerksam- 
keit auf  sich.  Von  diesen  sind  Skrzetuski  und  Da.- 
browski  tot,  Sosnowski  (heute  litauischer  Feldhet- 
man)  und  Czaplic  (jetzt  Oberjägermeister  der  Krone) 

184 


Franziskus  Salesius  Potocki,  Woiwode  von  Ki 


ew,    ]•   1772 


erlangten  damals  den  Ruf  mutiger  und  beredter  Pa- 
trioten. Sie  gehörten  zur  Partei  meiner  Oheime,  waren 
also  Gegner  des  Grosshetmans  und  des  Hofes.  Man 
kann  sich  leicht  vorstellen,  wie  verlockend  es  für 
einen  jungen,  aus  England  heimgekehrten  Menschen 
sein  musste,  eine  Rolle  zu  übernehmen,  die  nicht  nur 
Mut  erforderte,  sondern  auch  gerecht  war. 

Folgende  Umstände  hatten  in  mir  diesen  Glauben 
erweckt:  Der  Rezess  des  Reichstags  vom  Jahre  1677 
hatte  diese  Angelegenheit  in  Schwebe  gelassen.  Kein 
einziger  späterer  Reichstag  hatte  sie  entschieden,  und 
offensichtlich  konnte  nur  ein  Reichstag  sie  gesetzlich 
regeln.  Die  Zulassung  der  Malteser  zur  Nutzniessung 
der  Ostrogskischen  Resitzungen  wurde  allgemein  als 
dem  Staate  schädlich  erachtet  und  unvereinbar  mit 
dem  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  Jahre  1609,  welches 
als  Erben  der  Ostrogskischen  Besitzungen  nur  Bluts- 
verwandte näheren  oder  entfernteren  Grades  zuzu- 
lassen schien. 

Und  doch  sah  ich,  dass  der  Grosshetman  durch  mi- 
litärische Übermacht  eine  Sache  entscheiden  wollte, 
die  zum  mindesten  zweifelhaft  war,  und  zwar  auf 
solche  Weise,  dass  ein  begüterter  Edelmann,  Fürst 
Janusz  Sanguszko,  Marschall  des  litauischen  Hofes, 
ohne  richterliches  Dekret  von  seinem  sehr  ansehnli- 
chen Gute  vertrieben  wurde  und  dieser  sehr  reiche 
Magnat  sich  plötzlich  sogar  dergrössten  Armut  gegen- 
übersah, aus  der  er  sich  nur  dadurch  retten  konnte, 
dass  jene,  zu  deren  eventuellen  Gunsten  er  seinen  Be- 
sitz verschrieben,  zu  seinem  Unterhalt  beisteuerten. 

Der  verstorbene  König  hatte  sich  verleiten  lassen, 
die  Schritte  des  Grosshetmans  durch  königliche  Akte 
zu  unterstützen  und  zu  ermutigen;  diese  Akte  wurden 

1^ 


damals  ziemlich  allgemein  als  ungesetzlich  angesehen 
und  verletzten  mich  um  so  mehr,  als  man  Grund  zu 
der  Annahme  hatte,  sie  wären  niemals  zustande  ge- 
kommen ohne  den  neuerlichen  Einfluss  Mniszechs, 
des  Marschalls  der  Krone  und  eines  Schwiegersohnes 
des  Grafen  Brühl,  der  durch  diese  Sache  eine  Gelegen- 
heit suchte,  meinen  Oheimen  entgegenzuarbeiten  und 
sie  zu  demütigen. 

Auch  Frankreich  hatte  seine  besonderen  Absichten 
und  Gründe  (sie  sind  fast  aller  Welt  verborgen  ge- 
blieben), den  Grosshetman  zu  unterstützen.  Diese 
Absichten  Frankreichs  waren  (wie  ich  es  erst  viel 
spater  erfuhr):  durch  die  Unruhen,  die  diese  Ange- 
legenheit in  Polen  verursachte,  der  Partei  des  Gross- 
hetmans  und  der  ihm  günstig  gesinnten  Krone  ein 
solches  Übergewicht  über  die  von  Russland  unter- 
stützte Partei  der  Czartoryskis  zu  verschaffen,  dass 
schliesslich  der  Vorwand  zu  einer  Konföderation  ge- 
geben wäre;  diese  nun  gedachte  Frankreich  durch 
Geld  und  Waffenlieferungen  (einige  tausend  Stück 
gelangten  tatsächlich  heimlich  nach  Danzig)  und 
durch  die  Truppen  des  Königs  von  Preussen  zu  ver- 
stärken, und  das  alles  sollte  gemeinsam  gegen  Russ- 
land auftreten,  denn  es  hatte  Frankreich  schmerzlich 
berührt,  dass  Russland  bereits  zweimal  durch  die 
Anwesenheit  seiner  Truppen  in  Deutschland  die  Ent- 
scheidung der  Kriege  der  Bourbons  gegen  das  Haus 
Österreich  beeinflusst  hatte.  Frankreich  gedachte  so- 
gar, zur  Ausführung  dieses  Projektes  nach  und  nach 
Schweden  mit  der  Pforte  zusammenbringen  zu  kön- 
nen, und  dieses  Projekt  hätte  vielleicht  dahin  geführt, 
dem  sächsischen  Hause  die  Sukzession  des  polnischen 
Thrones  zu  sichern. 

»86 


Die  wirklichen  Motive  Frankreichs  waren  mir  da- 
mals unbekannt;  da  jedoch  der  König  von  Preussen, 
sein  damaliger  Bundesgenosse,  in  dieser  Affäre  mit 
ihm  gemeinsam  handelte,  erschien  mir  diese  preussi- 
sche  Unterstützung  noch  als  ein  weiterer  Makel  der 
Partei  des  Grosshetmans. 

Da  andererseits  mein  Herz  und  mein  Verstand 
einen  grossen  Unterschied  zwischen  dem  Grosshet- 
man  und  meinen  Oheimen  machte,  und  zwar  zugun- 
sten der  letzteren,  erfüllte  es  mich  in  Anbetracht  all 
der  Umstände  mit  bitterem  Schmerz,  in  diesem  Au- 
genblick zur  Untätigkeit  verdammt  zu  sein. 

Da  kam  Williams  an;  er  dachte  genau  so  wie  ich, 
weil  er  sich  einerseits  gegen  Frankreich  und  den  Kö- 
nig von  Preussen  auflehnte,  andererseits  auch  den 
Woiwoden  von  Ruthenien  ungemein  schätzte. 

Nichts  konnte  mich  über  meine  Untätigkeit  trö- 
sten, ich  war  aller  Vergnügungen  überdrüssig  und 
glaubte  nicht  einmal  an  die  Möglichkeit,  dass  irgend 
eine  Frau  an  mir  Gefallen  finden  könnte,  so  närrisch 
und  widerwärtig  kam  ich  mir  vor. 

In  dieser  Geistesverfassung  traf  mich  mein  guter 
Freund  Graf  Rzewuski  an,  der  damals  als  der  elegan- 
teste junge  Mann  Polens  galt  und  von  dem  schönen 
Geschlecht  sehr  begünstigt  wurde;  er  kam,  um  mir 
zu  sagen:  „Ich  gratuliere  dir  zu  deinem  Glück:  eine 
sehr  hochstehende  und  bisher  unbescholtene  Frau 
will  dich  haben ! " 

Anfänglich  wollte  ich  ihm  nicht  glauben,  ihn  nicht 
einmal  anhören.  Als  er  nicht  nachgab,  erkundigte  ich 
mich  endlich  nach  dem  Namen  der  Dame1).  Ich  sollte 
J)  Es  war  Johanna  Sapicha,  die  Gattin  von  Peter  Sapieha, 
Woiwoden  von  Smoleiisk.   Anna.  d.  Herausg. 

187 


raten.  Ich  nannte  alle  Frauen  Warschaus  ehe  ich  auf 
jene  verfiel,  die  meiner  Überzeugung  nach  bei  ihrer 
extremen  Heiterkeit,  Jugend  und  Beliebtheit  am  we- 
nigsten mit  einem  so  grämlichen  Manne  sympathie- 
sieren  konnte,  der  so  wenig  sprach  und  auch  noch 
nie  das  Wort  an  sie  gerichtet  hatte.  Ich  konnte  kaum 
annehmen,  dass  sie  mich  überhaupt  kannte,  da  doch 
eine  ganze  Schar  sie  umdrängte.  Doch  Rzewuski  (der 
mit  ihr  sehr  liiert  war)  sagte  zu  mir: 

„Nun  ja,  als  ich  ihr  mein  Erstaunen  ausdrückte, 
dass  sie  noch  keine  Wahl  getroffen,  und  sie  mich  ra- 
ten Hess,  wem  sie  am  günstigsten  gesinnt  sei,  habe 
ich  genau  dasselbe  getan  wie  du  jetzt:  ich  habe  dich 
zu  allerletzt  genannt!  Und  doch  hat  sie  gerade  dich 
erwählt,  und  wenn  du  mir  nicht  glauben  willst,  so 
sprich  mit  ihr  und  du  wirst  sehen!" 

Derselbe  Abend  überzeugte  mich,  dass  er  die  Wahr- 
heit gesprochen.  Mein  Erstaunen,  meine  Dankbar- 
keit, die  Traurigkeit,  in  der  ich  dahin  geschmachtet, 
und  vor  allem  die  geschmeichelte  Eigenliebe  beein- 
flussten  mich  mehr  als  eine  wirkliche  Neigung.  Ich 
hielt  mich  für  verpflichtet,  dieses  Abenteuer  regel- 
recht weiterzuführen.  Vierzehn  Tage  hindurch  war 
die  Dame  mir  huldvoll  geneigt,  aber  sobald  sie  sah. 
dass  ich  mich  ernsthaft  engagierte,  stiess  sie  mich 
plötzlich  zurück  und  liess  auch  den  sonderbarsten 
Launen  freien  Lauf,  die  je  eine  Schöne  sich  erlaubt, 
um  mich  zur  Verzweiflung  zu  treiben.  Ich  war  noch 
ein  Neuling  und  nahm  alles  wörtlich,  vor  allem  re- 
dete ich  mir  ein,  nur  durch  fortgesetzte  Treue,  Auf- 
richtigkeit und  eine  genaue  Protokollierung  meines 
Tuns  und  Lassens  mit  allen  seinen  Folgen  und  Kon- 
sequenzen würde  ich  schliesslich  meine  Dame  doch 

188 


bezwingen,  so  wie  man  ein  Rechenexempel  löst.  Ich 
sah  nicht,  dass  ich  für  diese  lustige  Kokette  ein  Spiel- 
zeug war,  ein  neues  und  ganz  anderes  Spielzeug  als 
alle  ihre  bisherigen  Courtisans;  es  belustigte  sie,  einen 
zweiundzwanzigjährigen  Menschenfeind  Feuer  fan- 
gen zu  lassen.  Solchermassen  amüsierte  sie  sich  zwei 
Monate,  dann  reiste  sie  in  die  Provinz  zu  ihrem 
Gatten,  von  dem  sie  erzählte,  er  wäre  sehr  eifersüch- 
tig; vor  und  nach  ihrer  Abreise  ehrte  sie  mich  durch 
ihre  Korrespondenz  und  ich  fand  stets,  dass  sie  mich 
schriftlich  innig  liebte,  in  Präsenz  jedoch  ganz  und 
gar  nicht;  das  alles  bildete  einen  Kontrast,  der  mich 
quälte  und  mich  oft  fühlen  liess,  ich  hätte  meine 
wirkliche  Bestimmung  verfehlt. 

Täglich  kam  ich  mit  meiner  Cousine  zusammen, 
die  sogar  Gefallen  daran  fand,  meine  Beziehungen  zu 
der  Dame  zu  begünstigen;  damals  gab  sie  vor,  sie 
sehr  zu  lieben.  Über  alles  waren  wir  ein  und  dersel- 
ben Ansicht :  über  die  Leute,  das  Vorgehen,  die  Lek- 
türe, die  Kunst,  die  Vergnügungen;  wir  besprachen 
alles  und  waren  uns  in  unserem  Geschmack  und  Ur- 
teil stets  einig.  Es  war  für  mich  das  zärtlichste  Ver- 
hältnis und  ich  fühlte  unwillkürlich,  dass  ich  in  die 
andere  nur  aus  einer  Art  Hartnäckigkeit  verliebt  war, 
dass  diese  jedoch  mein  Herz,  meine  Achtung  und  mein 
Vertrauen  besass.  Ich  fand,  dass  ihr  mehr  Verstand 
und  mehr  Gefühl  eignete  als  allen  anderen  Frauen.  Sie 
schien  damals  über  alle  Schwächen  ihres  Geschlechts 
erhaben,  als  stammte  sie  aus  einer  höheren  Sphäre, 
und  es  beglückte  mich  bereits,  wenn  sie  nur  geruhte 
das  Wort  an  mich  zu  richten.  Dies  alles  band  mich 
immer  fester  an  den  Fürst-Woiwoden  von  Ruthenien, 
der  seinerseits  die  ganze  Grazie  und  Scharfsinnigkeit 

189 


seines  Geistes  auf  mich  wirken  Hess  und  es  besser  al> 
jeder  andere  verstand,  meiner  Treuherzigkeit  und 
Sensibilität  zu  schmeicheln. 

Ich  sah  meinen  Vater  sich  mit  fortschreitendem 
Alter  mehr  und  mehr  von  den  Geschäften  zurückzie- 
hen, während  alle  politischen  Manöver  und  Hand- 
lungen durch  meine  Oheime  aufs  beste  geführt  wur- 
den. Meine  Mutter  befasste  sich  meiner  Meinung  nach 
zu  sehr  mit  dem  Unrecht,  das  ihr  Bruder  ihr  einst 
zugefügt,  und  mit  der  Sorge  um  meine  Zukunft,  in- 
dem sie  mich  allzu  sorgfältig  jegliches  vermeiden  liess, 
was  mich  mit  den  Machthabern  in  Kollision  bringen 
konnte. 

Sechs  Monate  später  durfte  ich  mich  jedoch  schad- 
los halten.  Fürst  Radziwül,  der  Woiwode  von  Wilno 
und  litauische  Grosshetman,  derselbe,  von  dem  be- 
reits früher  die  Rede  war,  hatte  seinen  Sohn,  den 
heutigen  Woiwoden  von  Wilno,  auf  dem  Landtag 
von  Maria  Lichtmess  des  Jahres  1755  zum  Landbo- 
ten wählen  lassen  mit  der  Absicht,  ihm  das  Mar- 
schallsamt des  diesjährigen  Tribunals  zu  verschaffen. 
Allein  schon  der  Gedanke,  ein  so  junger,  schlecht  er- 
zogener, unwissender  und  übel  beratener  Mensch 
könnte  der  Gerichtsbarkeit  der  ganzen  litauischen  Pro- 
vinz vorstehen,  versetzte  alle  Notabein  in  grösste  Be- 
stürzung. Mein  Onkel,  der  Kanzler,  sah  darin  ausser- 
dem noch  einen  Versuch  der  Hofpartei,  zu  der  Rad- 
ziwül gehörte,  sich  ein  Übergewicht  zu  verschaffen. 
Er  verdoppelte  seine  Umsicht  und  veranlasste  seine 
beiden  Schwiegersöhne  Flemming  und  Sapieha,  sich 
nach  Wilno  zu  begeben,  um  wenn  möglich  dort  Ein- 
spruch zu  erheben  oder  zumindest  zu  versuchen, 
diesem  sonderbaren  Marschall  die  grösstmöglichste 

190 


Anzahl  rechtschaffener  und  befähigter  Richter  beizu- 
gesellen. 

Meine  Eltern  meinten,  dies  Schauspiel  könnte  für 
mich  interessant  und  belehrend  werden,  und  Hessen 
mich  daher  in  Begleitung  des  Grossschatzmeister- 
Gralen  Flemming  hinfahren. 

Flemming  liebte  mich  damals  sehr.  Dieser  merk- 
würdige Mann  verdient  es,  dem  Leser  besser  bekannt 
zu  werden.  In  Pommern  geboren  und  auferzogen, 
hatte  er  in  seiner  Jugend  in  Frankreich  gedient;  der 
Titel  eines  Neffen  des  Feldmarschalls  Flemming,  er- 
sten Ministers  Augusts  II.,  führte  ihn  nach  Sachsen 
und  später  hierher;  als  August  II.  starb,  war  Flem- 
ming mit  der  Fürstin  Wisniowiecka  in  einer  Weise 
liiert,  die  ihm  einen  grossen  Einfluss  auf  den  Geist 
ihres  Mannes  sicherte,  damals  einer  der  Hauptpersön- 
lichkeiten Litauens 1).  Flemming  gelang  es,  ihn  so  stark 
zu  beeinflussen,  dass  er  während  der  Wahl  Leszczyii- 
skis  im  Jahre  1734  beinahe  als  einziger  polnischer 
Magnat  für  August  III.  eintrat,  und  das  brachte 
Flemming  alsbald  die  Starostei  von  Szereszöw  und 
das  Amt  eines  litauischen  Artilleriegenerals  ein. 

Bald  gesellte  sich  seinem  beginnenden  Glücke  der 
Rufeines  geschickten  Landmanns  und  Financiers,  so 
dass  er  zum  Pächter  der  königlich-litauischen  Öko- 
nomie ernannt  wurde.  Hier  bereicherte  er  sich  sehe 
und  erlangte  die  Mittel,  das  Amt  eines  Grossschatz- 
kanzlers zu  kaufen,  gestützt  auf  seine  Eigenschaft 
eines  Schwiegersohnes  des  litauischen  Kanzlers,  des- 
sen zwei  ältesten  Töchter  er  hintereinander  geheira- 
tet hatte. 

')  Der  Kanzler  Michael  Wisniowiecki  wurde  später  litauischer 
Grosslietman. 

IO  7 


So  sehr  er  durch  seine  originellen  und  lustigen  Ein- 
fälle oft  gefiel,  so  beschwerlich  war  er  seinen  Freun- 
den durch  seine  plötzliche  sprunghafte  Übellaunig- 
keit,  der  er  sich  häufig  hingab.  Sein  ganzes  Wesen 
und  Gebaren  schien  durchaus  nicht  mit  den  Sitten 
und  dem  Wesen  der  Polen  und  der  Sarmaten  zu 
sympathisieren,  mit  denen  er  oft  zusammenleben 
musste,  deren  Sprache  er  jedoch  nur  schlecht  be- 
herrschte, obgleich  er  ebenso  wie  sein  Onkel  als  ge- 
bürtiger Pommer  im  Besitz  des  polnischen  lndigenats 
war.  Er  verweigerte  oft  die  Erfüllung  der  Wünsche 
verschiedener  Petenten  und  brüskierte  sie,  trotzdem 
war  es  ihm  gelungen,  sich  in  Litauen  grosses  Anse- 
hen und  Einfluss  zu  verschaffen.  Einerseits  vertraute 
man  mit  Bestimmtheit  seinem  gegebenen  Worte,  an- 
dererseits verschaffte  ihm  sein  Amt  eines  General- 
pächters der  königlichen  Ökonomie  und  eines  Gross- 
schatzmeisters für  Litauen  häufig  die  Gelegenheit,  all 
jene,  mit  denen  er  zufrieden  war,  sich  zu  verpflich- 
ten und  jene,  die  ihm  missfielen,  zu  verdriessen,  und 
er  verstand  dies  auszunützen. 

Mit  ihm  also  ging  ich  nach  Wilno.  Diese  Haupt- 
stadt Litauens  bewahrte  noch,  trotz  dem  Verfall  ihres 
Handels,  dem  Mangel  an  Ordnung  und  den  häufigen 
Feuersbrünsten,  die  Spuren  einstiger  Herrlichkeit 
und  man  begriff,  dass  die  früheren  Herzöge  und  Kö- 
nige aus  dem  Hause  der  Jagiellonen  dort  prunkvoll 
residieren  konnten.  Die  Kapelle  des  heiligen  Kasimir 
ist  wirklich  ein  schönes  Stück  Architektur.  Ich  fand 
eine  Brücke  über  die  Wilia  vor,  doch  gab  es  noch 
keine  über  die  Weichsel.  Was  meine  Aufmerksam- 
keit jedoch  festhielt,  war  der  Unterschied  einer  Wie- 
dereröffnung oder  (um  den  im  Lande  üblichen  Aus- 

192 


druck  zu  gebrauchen)  einer  Reassumption  des  Tribu- 
nals in  Litauen  und  einer  Reassumption  des  Tribu- 
nals der  Krone. 

In  der  Krone  begaben  sich  die  Parteihäupter,  vor 
allem  die  bejahrten,  nur  selten  persönlich  zur  Reas- 
sumption von  Piotrköw,  und  wenn  ihre  Vertreter  in 
der  Zahl  eine  Stütze  suchten,  so  bemühten  sie  sich 
gewöhnlich,  die  dazu  erforderlichen  Individuen  aus 
Einwohnern  der  an  Piotrköw  angrenzenden  Woiwod- 
schaften zusammenzubringen;  hauptsächlich  lieferte 
solche  die  Woiwodschaft  von  Sieradz,  oder  vielmehr 
dort  wurden  sie  zu  Hunderten  ausgeliehen,  denn  dort 
lebte  ein  zahlreicher  armer  Adel. 

Manchmal  geschah  es,  wie  im  Jahre  1749,  dass  die 
Befehlshaber  der  Staatstruppeu  diese  missbrauchten; 
gewöhnlich  war  jedoch  das  Schauspiel  einer  Reas- 
sumption von  Piotrköw  weit  weniger  imposant  als 
jener  von  Wilno,  denn  der  Woiwode  von  Wilno  ver- 
eint gleichzeitig  in  seinem  Amt  auch  die  Würde 
eines  Starosten  des  adeligen  Gerichtshofes  dieses  Or- 
tes und  somit  die  Funktion,  den  Eid  der  Deputier- 
ten in  einem  Saale  des  Schlosses  entgegenzuneh- 
men, dessen  Gouverneur  er  ist.  Ausserdem  war  der 
Woiwode  von  WTilno  meist  gleichzeitig  auch  Gross- 
hetman  von  Litauen,  weil  damals  noch  kein  Gesetz 
die  Unvereinbarkeit  dieser  beiden  Würden  vorschrieb, 
und  ferner  war  entweder  ein  RadziwiM  oder  ein  Sa- 
pieha,  immer  aber  ein  Mann  aus  den  ersten  Ge- 
schlechtern der  Provinz  Träger  dieser  Würden  uod 
es  folgte  ihm  zu  dieser  Reassumption  eine  zahlreiche 
Schar  von  Edelleuten  und  hervorragenden  Militärs. 

Das  Gesetz  vom  Jahre  17 17  untersagte  in  Wirk- 
lichkeit   den    Grosshetmans,    der  Zusammensetzung 

i3   Poniatowski  '9^ 


der  Tribunale  beizuwohnen;  da  jedoch  die  gleiche 
Persönlichkeit  hier  auch  Woiwode  von  Wilno  war, 
dispensierte  sie  das  Gesetz  kraft  dieser  Eigenschaft 
von  jenem  Verbote. 

Wer  nun  die  Absichten  dieser  Woiwoden  von  Wilno 
durchkreuzen  wollte,  die  durch  ihre  Ämter  und  durch 
den  Ort  selbst,  wo  sie  ihrer  Ämter  walteten,  solchen 
Einfluss  auf  die  Zusammensetzung  der  Tribunale 
hatten,  der  war  selbstverständlich  genötigt,  möglichst 
viele  Edelleute  zu  seiner  Unterstützung  herbeizu- 
ziehen, und  zwar  nicht  nur  arme,  sondern  auch  an- 
gesehene, die  es  wagten  und  vermochten,  gegen  die 
Woiwoden  von  Wilno  aufzutreten. 

Der  Marschall  eines  jeden  neuen  litauischen  Tri- 
bunals hatte  (bis  zur  jetzigen  Regierung)  das  Vor- 
recht, nach  eigenem  Gutdünken  das  Register  aller 
Prozesse  zu  ordnen,  welche  das  vorhergehende  Tri- 
bunal nicht  entschieden  hatte,  und  aller  neuen  Pro- 
zesse, zu  denen  sich  die  Parteien  bei  Beginn  des  jähr- 
lichen Tribunals  einschrieben:  dadurch  wurde  eine 
Unzahl  Litauer  genötigt,  bei  jeder  Reassumption  per- 
sönlich zu  erscheinen. 

Diese  sämtlichen  Umstände  hatten  die  Litauer  al- 
ler Woiwodschaften  allmählich  daran  gewöhnt,  jedes 
Jahr  nach  Wilno  zu  kommen;  so  konnte  man  dort 
beim  Zusammentritt  des  Tribunals  gewöhnlich  meh- 
rere tausend  Edelleute  jeden  Ranges  sehen,  die  ent- 
weder zur  Wahrung  ihrer  Geschäfte,  oder  aus  Neu- 
gierde, oder  zum  Amüsement  zusammenkamen,  wie 
zu  einem  öffentlichen  Rendezvous,  oder  gar  oft  auch 
gegen  Entgelt  und  auf  Kosten  der  grossen  Herren, 
die  miteinander  wetteiferten. 

Die  seit  zwei  Jahrhunderten  bestehende  Rivalität 

194 


zwischen  den  Sapiehas  und  den  Radziwills,  die  etwas 
jüngere  Eifersucht  der  letzteren  auf  die  Czartoryskis 
und  das  bedeutende  Übergewicht  dieser  drei  Häuser 
(durch  ihren  Reichtum  und  ihren  Einfluss  bei  Hof) 
über  alle  anderen  in  Litauen  hatten  die  nationale  Ge- 
sinnung der  Litauer  unmerklich  zu  einer  fast  erblich 
gewordenen  Abhängigkeit  von  einem  dieser  Häuser 
umgestaltet,  so  sehr  dass  die  meisten  es  sich  nicht  ein- 
mal vorzustellen  vermochten,  wie  sie  allein  existieren 
könnten,  und  zu  guter  Letzt  ihre  Anhänglichkeit  an 
ihren  Patron  als  eine  Tugend  ansahen;  und  es  war  in 
der  Tat  eine  Tugend,  je  nachdem  die  Eigenschaften 
des  Patrons  mehr  oder  weniger  Achtung  heischten. 

Da  jedoch  die  Erziehung  der  Radziwills  sich  seit 
einigen  Generationen  schrittweise  verschlechtert  hatte, 
konnte  es  geschehen,  dass  zur  Zeit,  von  der  ich  spreche, 
unter  ihren  ergebensten  Klienten  die  berühmtesten 
Trunkenbolde  und  zügellosesten  Ruhestörer  Litauens 
zu  finden  waren.  Sie  waren  dem  Publikum  so  unbe- 
quem und  so  missliebig  geworden,  dass  man  diese 
Truppe  der  Eisenfresser,  die  das  Gefolge  der  Radzi- 
wills bildeten,  allgemein  nur  Hajdamaken1)  nannte. 
Die  verschiedenen  Gewalttaten,  die  sie  unter  dem 
Protektorat  ihrer  Patrone  gewöhnlich  ungestraft  ver- 
üben konnten,  zwangen  schliesslich  ihre  Landsleute, 
sich  zu  ihrer  Verteidigung  ungefähr  derselben  Mittel 
zu  bedienen,  mit  denen  sie  angegriffen  wurden,  und 
so  hatte  allmählich  ganz  Litauen  einen  kriegerischen 
Anstrich  gewonnen. 

Ein  ledernes,  mit  Seidenfäden  besticktes  Wams  un- 

*)  Hajdamaken  sind  herumstreifende  Zaporoger,  vom  Raube 
lebende  Kosaken.  Im  weiteren  Sinne  streitsüchtige,  tollkühne 
Männer,  Gewalttäter,  Räuber.   Anm.  d.  Herausg. 

i3*  ig5 


ter  dem  Obergewand,  ledergefütterte  Handschuhe 
und  Mützen  bildeten  die  gewöhnliche  Kleidung.  Sä- 
bel, deren  Griff  ein  Drahtgitter  umspannte  und  die 
Katzenköpfe  genannt  wurden,  Pistolen  in  den  Stiefeln 
und  im  Gürtel,  sogar  gezogene  Musketen,  die  quer 
über  die  Brust  oder  über  die  Schulter  getragen  wur- 
den, mit  scharfen  Patronen,  —  so  trugen  sich  die 
zahlreichen  Suiten,  mit  denen  man  sich  in  Wilno 
während  der  acht  Tage,  die  man  —  zwei  Wochen 
nach  dem  Osterfeste  —  dort  zubrachte,  gegenseitig 
besuchte.  Ein  Fremder,  der  diese  lärmenden  Um- 
züge gesehen  hätte,  mit  Tausenden  von  Pferden,  ge- 
wappnet vom  Scheitel  bis  zur  Sohle,  wie  sie  in  Wilno 
eine  Woche  hindurch  fortwährend  stattfanden,  der 
hätte  nicht  erraten,  dass  man  sich  nur  gegenseitig 
Besuche  machte,  um  einen  Gerichtshof  einzusetzen. 
Es  war  dort  üblich,  jede  Nacht  in  den  Strassen  Pisto- 
lenschüsse zu  hören.  Das  war  die  gewöhnliche  Her- 
ausforderung der  Nichtstuer,  auch  wenn  es  keinen 
Anschlag  galt. 

Inmitten  dieser  dräuenden  Umgebung  ging  man  zu 
Diners,  Soupers,  zum  Tanze  und  zu  Festlichkeiten,  oft 
auch  in  die  Häuser  der  Gegenpartei,  wo  man  während 
des  Balls  die  Geschäfte  besprach  auf  die  Gefahr  hin, 
beim  Verlassen  des   Hauses  die  Klingen  zu  kreuzen. 

In  diese  Art  der  Unterhandlungen  also  wurde  ich 
damals  eingeführt.  Es  handelte  sich  darum,  entweder 
zu  verhindern,  dass  der  junge  Radziwill  Marschall 
wurde,  oder  mindestens  unserer  Partei  die  Mehrheit 
der  Deputierten  zu  sichern  und  zwar  durch  verschie- 
dene ähnliche  Manöver,  wie  ich  sie  bei  Erwähnung 
der  Geschehnisse  von  Piotrköw  im  Jahre  1 74^  De_ 
schrieben. 

196 


Aber  beides  misslang  diesmal,  denn  Flemming  und 
der  Vizekanzler  Sapieha  konnten  sich  nicht  verstän- 
digen. Flemming  war  von  Eifersucht  gegen  seinen 
Schwager  erfasst,  weil  er  glaubte,  dass  ihr  gemein- 
samer Schwiegervater,  der  Fürst  Czartoryski,  jenen 
bevorzugte. 

Graf  Brühl  hatte  dieses  Gefühl  in  Flemming  gar 
bald  entdeckt.  Ausserdem  war  es  ihm  nicht  unbe- 
kannt, dass  Sapieha,  den  der  Pädagogenton  des  Fürst- 
kanzlers verletzte,  allmählich  von  ihm  abrückte.  Er 
verstand  es,  diese  Schwächen  auszunützen  und  zwi- 
schen diese  beiden  Männer  den  Samen  der  Verstim- 
mung auszustreuen,  der  zwar  erst  später  zum  Aus- 
bruch gelangte,  jedoch  bereits  jetzt  den  Einfluss  be- 
einträchtigte, den  ihre  Partei  bei  grösserer  Eintracht 
hätte  erlangen  können. 

Ich  sah  also  zuerst  sehr  viele  fruchtlose  Konferen- 
zen ;  hernach,  am  Tage  der  Reassumption  selbst,  der 
damals  auf  den  zweiten  Montag  nach  dem  Osterfeste 
fiel,  das  ganze  Ritual  dieser  Feierlichkeit;  während 
derselben  legten  die  Eisenfresser  der  Radziwillpartei 
bereits  die  Hand  an  den  Säbel  griff,  da  sie  infolge 
eines  Missverständnisses  glaubten,  es  sei  die  Kampf- 
losung gegeben  worden.  Ich  erinnere  mich,  dass  ein 
gewisser  Ciechanowiecki  seinen  Säbel  schon  zur  Hälfte 
herausgezogen  hatte,  als  Flemming  ihm  auf  die  Schul- 
ter klopfte  und  in  schlechtem  Polnisch  zu  ihm  sagte: 
„Lassen  Sie  das,  es  ist  nicht  nötig",  und  zwar  mit 
einer  ruhigen  und  überlegenen  Miene,  die  ihm  stark 
imponierte.  Meine  Reise  brachte  mir  als  Resultat  nur 
die  Bekanntschaft  vieler  Litauer  ein,  die  Kenntnis  ihres 
Gebarens  und  ihrer  politischen  Manöver;  auch  sah 
ich  die  schlechte  Wirkung  der  Leidenschaften  unse- 

!97 


rer  Führer  sich  in  dem  Sieg  unserer  Gegner  offen- 
baren. 

Achtzehnjährig  wurde  der  junge  Radziwill,  der 
kaum  seinen  Namen  schreiben  konnte,  Marschall  des 
Tribunals;  er  benahm  sich,  was  seine  Person  betraf, 
noch  mehr  als  leichtfertiger  Schüler,  denn  als  schlech- 
ter Richter,  aber  seine  Partei  missbrauchte  seinen  Na- 
men, um  während  der  Tagung  dieses  Tribunals  gros- 
ses Unrecht  und  zahlreiche  Ungesetzlichkeiten  zu  be- 
gehen. 

Ich  verliess  Wilno  so  betrübt,  als  wäre  ich  selbst 
an  dem  Ereignis  schuld.  Mein  Alter  und  meine  Ver- 
anlagung Hessen  mich  jede  Niederlage  meiner  Partei 
schmerzlich  empfinden,  ich  sah  in  jedem  Misserfolg 
eine  persönliche  Schande  und  ein  dem  Staat  zuge- 
fügtes Übel,  denn  während  der  Jahre,  wo  das  Tribunal 
im  Sinne  meines  Onkels  zustande  kam,  wurde  die  Ge- 
rechtigkeit weit  besser  gehandbabt  und  die  Bramar- 
basse der  Radziwillpartei  waren  in  weit  geringerem 
Masse  eine  öffentliche  Plage.  Aber  es  sollte  sich  mir 
ein  anderer  Schauplatz  eröffnen. 

Im  Frühling  des  Jahres  1 755  berief  der  König  ein 
senatus  consilium  nach  Fraustadt.  Diesmal  sollte  er 
einem  türkischen  Minister  Audienz  gewähren,  der 
Polen  die  Thronbesteigung  des  neuen  Sultans  zu  ver- 
künden kam. 

Jedes  Erscheinen  des  Königs  auf  polnischem  Bo- 
den versammelte  eine  Menge  Polen  um  ihn,  allein 
schon  wegen  der  verschiedeneu  Vakanzen,  die  er  zu 
besetzen  hatte. 

Dieser  Umstand  bewog  meine  Eltern,  mich  mit 
meinem  Onkel,  dem  Kanzler,  hinzuschicken,  um  mich 
um  die  Stelle  des  Truchsess  von  Litauen  zu  bewer- 

198 


ben,  die  damals  frei  war.  Mein  älterer  Bruder l)  wurde 
beauftragt,  sich  ganz  besonders  für  diese  Beförde- 
rung einzusetzen.  Er  war  hierzu  der  geeignete  Mann, 
denn  sein  Zerwürfnis  mit  dem  Woiwoden  von  Ruthe- 
nien  hatte  ihn  seit  langem  von  allen  Massnahmen 
des  letzteren  ferngehalten,  die  in  einer  Opposition 
zum  Hofe  standen.  Ich  hatte  viele  Mitbewerber:  mein 
Bruder  verstand  es,  sie  beiseitezudrängen  und  alle 
Hindernisse  zu  überwinden,  die  nicht  gering  waren, 
denn  Mniszech  wiederholte  unaufhörlich  zum  Gra- 
fen Brühl,  man  müsste  die  Partei  der  Czartoryskis 
vernichten,  wenn  er  wollte,  dass  die  Hofpartei  re- 
spektiert würde,  der  meine  Gesinnung  manche  Fehde 
ankündigte.  Graf  Brühl  jedoch,  der  genau  wie  sein 
Fürst  Polen  bloss  als  ein  Objekt  zweiten  Ranges  an- 
sah, von  dem  nur  der  Titel  Vorteile  brachte,  sonst 
jedoch  kein  wesentlicher  Gewinn  zu  erlangen  war, 
—  Graf  Brühl  also  war  allem  geneigt,  was  ein  ge- 
wisses Gleichgewicht  zwischen  den  angesehensten 
Familien  herstellte  und  allzu  grosse  Verbitterung  und 
heftige  Reibungen  verhinderte;  daher  liebte  er  es,  die 
Wohltaten  des  Königs  auf  alle  Parteien  gleichmässig 
zu  verteilen.  Bei  den  Reichstagen  verfolgte  er  kaum 
einen  anderen  Zweck  als  ihre  Auflösung,  um  den 
König  so  schnell  wie  möglich  nach  Sachsen  zurück- 
zubringen, wo  er  sich  viel  wohler  fühlte. 

Dies  verhalf  mir  zu  meinem  Amte,  um  das  ich 
mich  nicht  im  geringsten  bemühte,  da  mir  das  Bück- 
lingemachen fremd  war.  Ich  übertrieb  sogar  diese 
Sorglosigkeit,  und  mein  Bruder  hielt  mir  dieserhalb 
eine  Predigt,  die  mir  im  Gedächtnis  haften  blieb, 
weil  sie  sehr  vernünftig  war.  Er  sagte: 
*)  Kasimir,  Kämmerer  der  Krone.   Anm.  d.  Herausg. 

1 99 


„Wenn  du  dir  nichts  aus  Auszeichnungen  machst, 
darfst  du  deine  Rivalen  nicht  unnötig  ärgern,  indem 
du  welche  annimmst;  wenn  du  sie  aber  annimmst, 
dann  musst  du  zum  wenigsten  eine  gewisse  Dankbar- 
keit bekunden.  Kein  geleisteter  Dienst,  kein  überle- 
gener Vorzug  gestattet  dir  bisher,  die  Gnaden,  die 
man  dir  erweist,  als  eine  Belohnung  hinzunehmen, 
und  es  ist  durchaus  nicht  richtig  zu  sagen:  der  König 
qibt  nur  das,  tvas  er  kraft  des  Gesetzes  an  jemanden 
vergeben  muss,  ebenso  wie  der  Empfänger  ihm  keinen 
Dank  schuldet,  um  so  weniger  als  er  meistens  ganz  wahl- 
los gibt.  Du  bist  der  Ansicht,  dass  mancher  zu  Un- 
recht ausgezeichnet  wurde:  frage  deine  Rivalen  und 
selbst  viele  Indifferente,  ob  sie  dein  Avancement  be- 
gründet finden.  Das  sind  ebenso  viele  Malkontente,  die 
der  König  und  sein  Günstling  durch  deine  Begünsti- 
gung gegen  sich  aufgebracht  haben;  wäre  es  nur  dies, 
du  müsstest  es  ihnen  anrechnen;  man  muss  sich  der 
Reinheit  seiner  Motive  genau  bewusst  sein  und  mit 
grosser  Wahrscheinlichkeit  auf  einen  für  das  ganze 
Land  glücklichen  Erfolg  rechnen,  wenn  man  sich  um 
die  Rolle  eines  Volkstribunen  bewirbt.  Glaubst  du 
übrigens,  dass  ich  die  Mühsal  der  grossen  Geduld  und 
Sorgfalt  nicht  spüre,  deren  man  bedarf,  um  die  Erfül- 
lung seiner  Wünsche  vom  Hofe  zu  erlangen  ?  Es  verletzt 
mich  zu  sehen,  wie  gering  du  die  Mühe  einschätzest, 
die  ich  mir  in  deiner  Angelegenheit  gegeben ;  und  doch 
wird  es  dir  bei  mancher  Gelegenheit  angenehm  sein, 
dass  du  einen  angesehenen  Rang  bekleidest." 

Mein  Bruder  hatte  recht,  ich  gab  es  zu  und  er  ver- 
zieh mir,  denn  er  ist  wirklich  ebenso  gut  als  lebhaft 
und  tapfer,  und  das  will  viel  sagen. 

In  Fraustadt  traf  ich  meine  Dame  an,  sie  war  aber 

200 


5»#!Ö*    A? 


^r^- 


Karl  Stanislaw  Rad zi will,  genannt  „Panie  Kochankn", 
Woiwode  von  Wilno  und  litauischer  Grosshetman 

(Phot.  Anderle,  Rrakau) 


noch  launischer  als  gewöhnlich,  so  dass  ich  ihr  nach 
acht  Tagen  grösster  Geduld  zu  verstehen  gab,  ich 
würde  sie  für  immer  verlassen,  sobald  ich  Fraustadt 
verHess.  Das  rührte  sie:  sie  gab  mir  ein  Rendezvous, 
das  gleich  anfangs  von  ihrem  Manne  unterbrochen 
wurde.  Ich  hatte  kaum  genügend  Zeit  mich  zu  ver- 
beigen; er  blieb  so  lange,  dass  der  Tag  bereits  graute, 
als  er  sich  entfernte.  Ich  musste  meinen  Abschied 
kurz  gestalten.  So  unvollständig  der  Erfolg  dieses 
Rendezvous  war,  behauptete  sie,  es  hätte  tiefen  Ein- 
druck auf  sie  gemacht.  In  meiner  Seele  keimte  aber 
bereits  der  Wunsch,  meine  Kette  zu  zerreissen,  die 
ich  mehr  aus  Zufall  denn  durch  eigene  Wahl  auf 
mich  genommen  und  die  ich  mehr  aus  einer  Art  Ver- 
pflichtung denn  aus  Neigung  getragen. 

Als  Williams  das  letzte  Mal  in  Warschau  war 
hatte  er,  mit  Einverständnis  meiner  Eltern,  mich  ver- 
sprechen lassen,  dass,  wenn  er  jemals  nach  Russland 
;;chen  sollte,  ich  ihn  begleiten  würde;  kurz  vor  mei- 
ner Abreise  nach  Fraustadt  schrieb  er  mir,  er  sei  zum 
Gesandten  an  jenem  Hofe  ernannt  worden,  und  ge- 
mahnte mich  an  mein  Versprechen. 

Meine  Eltern  ergriffen  willig  diese  Gelegenheit, 
mich  in  ein  Land  zu  schicken,  dessen  Kenntnis  sie 
seit  langem  für  mich  als  erforderlich  erachteten;  aber 
so  sehr  ich  mich  beeilte,  Williams  einzuholen,  der 
während  meines  Aufenthalts  in  Fraustadt  von  Dres- 
den nach  Petersburg  aufgebrochen  war,  kam  ich  erst 
nach  ihm  dort  an,  Ende  Juni  1755. 

Da  sich  mir  in  Petersburg  eine  neue  Welt  offenbarte, 
die  Zeit  meiner  Erziehung  gewissermassen  beendet 
war  und  ich  meine  Kräfte  frei  zu  betätigen  begann, 
beende  ich  hier  den  ersten  Teil  meiner  Memoiren. 

20  i 


ZWEITER      TEIL 


ERSTES     KAPITEL 

POLITISCHE  ERZIEHUNG  BEI  WILLIAMS.  —  DAS 
ABENTEUER  DER  UNTERSCHRIFT.  HJGHD1SPLEA- 
SURE.  —  DOUGLAS  UND  MESSONIER.  —  DISPUT 
ÜBER  DEN  FREIEN  WILLEN.  LEHNDORFF.  —  LEW 
ALEXANDROWITSCH.  —  ERSTE  ZUSAMMEN- 
KUNFT. —  PORTRÄT  DER  KAISERIN  KATHA- 
RINA II.  —  VERTRAULICHE  MITTEILUNG  AN 
BESTUSCHEW.  SEIN  PORTRÄT.  PORTRÄT  VON 
MADAME  BESTUSCHEW.  —  PORTRÄT  DER  KAI- 
SERIN ELISABETH.  —  ABRISS  DER  RUSSISCHEN 
GESCHICHTE  SEIT  DEM  TODE  PETERS  I.  —  POR- 
TRÄT VON  KATHARINA  I.  —  PORTRÄT  VON 
ALEXEJ  RAZÜMOWSKI.  —  PORTRÄT  DES  HET- 
MANS  CYRILL  RAZÜMOWSKI.  —  ERZIEHUNG 
UND  PORTRÄT  PETERS  III.  —  HÖRN.  —  MEIN 
PORTRÄT.  —  BESUCH  IN  ORANIENBAUM.  KATHA- 
RINAS RIVALITÄT  MIT  LUDWIG  XIV.  —  LEKTÜRE 
DER  PUCELLE.  —  WINDPOCKEN.  —  KANZLER. 
ESTERHAZY.  MEINE  ABREISE.  HÖRN.  RIGA.  — 
DIE  TABATIERE. 


Die  Zeit  meines  ersten  Aufenthalts  in  Russland 
im  Hause  des  Chevalier  Williams  war  für  mich 
eine  neuartige  Schule.  Seine  Freundschaft  zu  mir 
und  sein  Vertrauen  gingen  so  weit,  dass  er  mich 
manches  Mal  die  geheimsten  Depeschen  leseu  Hess, 
ich  durfte  sie  chiffrieren  und  dechiffrieren.  Es  war 
eine  Art  Instruktion,  die  mir  in  meiner  damaligen 
Stellung  nur  von  ihm  zuteil  werden  konnte. 

Diese  Intimität  machte  mich  zum  Zeugen  einer 
Anekdote  von  solcher  Wichtigkeit,  dass  sie  die  Poli- 
tik ganz  Europas  zu  interessieren  vermochte.  Wil- 
liams war  beauftragt,  über  eine  Allianz  mit  Russ- 
land zu  verhandeln,  wonach  gegen  Vorausbezahlung 
gewisser  Subsidien  fünfundfünfzigtausend  Mann  rus- 
sischer Landtruppen  und  eine  bestimmte  Anzahl  von 
Kriegsschiffen  England  zur  Verfügung  gestellt  wer- 
den sollten,  um  gegen  den  König  von  Preussen  vor- 
zugehen, dessen  Namen  zwar  im  Traktat  nicht  er- 
wähnt wurde,  dessen  Länder  jedoch  darin  so  deutlich 
bezeichnet  waren,  dass  ein  Irrtum  ausgeschlossen  war. 
Anfänglich  hatte  Williams  einen  raschen  und  für 
all  jene  erstaunlichen  Erfolg,  die  die  Langsamkeit 
des  russischen  Hofes  zu  jenen  Zeiten  und  die  Unent- 
schlossenheit  der  Kaiserin  Elisabeth  kannten.  Kaum 
zwei  Monate  nach  seiner  Ankunft  in  Petersburg  war 


20 


7 


das  Traktat1)  unterzeichnet.  Williams  erhoffte  sich 
einen  seinem  Dienste  entsprechenden  Dank,  jedoch 
der  Kurier,  durch  den  er  die  Ratifikation  des  Trak- 
tats erwartete,  üherbrachte  ihm  einen  Brief  des  Staats- 
sekretärs, worin  die  Worte  standen:  „Sie  haben  sich 
das  Missfallen  des  Königs  zugezogen,  weil  Sie  Seine 
Dignität  herabgesetzt,  indem  Sie  nach  den  russischen 
Ministern  unterzeichnet  haben;  ehe  dieser  Fehler 
nicht  wieder  gutgemacht  ist,  wird  der  König  das  von 
Ihnen  unterzeichnete  Traktat  nicht  ratifizieren." 

Erst  jetzt,  nach  der  niederschmetternden  Lektüre 
dieses  Briefes,  bemerkte  Williams  das  ihm  unterlau- 
fene Versehen;  in  Wirklichkeit  war  es  nicht  so  ernst- 
haft, wie  man  in  England  angenommen,  wurde  je- 
doch für  Williams  verhängnisvoll.  Er  hatte  auf  der 
Kopie,  die  in  den  Händen  der  Russen  blieb,  als  erster 
unterzeichnet,  sie  hingegen  als  erste  auf  jener,  die 
Williams  nach  England  schickte.  Er  selbst,  zwei  rus- 
sische Kanzler,  zwei  russische  Sekretäre,  Williams' 
Sekretär  und  ich,  also  sieben  Personen,  die  an  dem 
Erfolg  der  Sache  interessiert  waren,  hatten  an  einem 
Versehen  partizipiert,  das  der  Schicksalslenker  offen- 
bar zur  Erreichung  seiner  Ziele  herbeigeführt  natte. 

Anfänglich  schien  nichts  einfacher,  als  es  zu  re- 
dressieren. Die  russischen  Minister  bekamen  von 
ihrer  Fürstin  eine  leichte  Rüge,  wechselten  dann 
ohne  weitere  Schwierigkeiten  die  beiden  Exemplare 
aus  und  der  englische  Kurier  reiste  ab.  Seine  erste 
Reise    war    sehr    rasch    vonstatten    gegangen,    wid- 

*)  Das  Petersburger  Traktat  wurde  am  3o.  September  unter- 
zeichnet. England  sollte  jährlich  eine  halbe  Million  Pfund 
Sterling  zahlen.   Anm.  d.  Herausg. 

208 


rige  Winde  behinderten  jedoch  die  zweite  und  ver- 
schiedene Unistände  verursachten  eine  weitere  Ver- 
zögerung; als  er  schliesslich  die  Ratifikation  zurück- 
brachte, hatte  sich  die  Szene  geändert.  Der  König  von 
Preussen  hatte  von  diesem  Traktat  Wind  bekommen 
und  England  hatte  erfahren,  dass  Österreich  mit 
Frankreich  über  eine  neue  Allianz  verhandelte.  Das 
führte  den  plötzlichen  Entschluss  einer  Union  Eng- 
lands mit  dem  König  von  Preussen  herbei,  und  jetzt 
wurde  die  Allianz  zwischen  diesem  und  Georg  IL, 
durch  die  letzterer  sich  verpflichtete,  keinesfalls  einen 
Einfall  fremder  Truppen  in  Deutschland  zu  dulden, 
einige  Tage  früher  unterzeichnet  als  jene,  durch  die 
Osterreich  im  Bedarfsfalle  französische  Truppen  zu 
Hilfe  rief. 

Somit  war  der  Gegenstand  des  von  Williams  mit 
Russland  abgeschlossenen  Traktats  hinfällig,  welches 
sich  auf  den  alten  Irrtümern  des  Systems  aufbaute, 
England,  Osterreich  und  Russland  seien  die  Gegner 
Frankreichs  und  Preussens ;  dies  allein  hätte  genügt,  die 
Kaiserin  Elisabeth  misszustimmen,  auch  wenn  sie  nicht 
durch  die  Mission  eines  gewissen  Douglas  vorbereitet 
gewesen  wäre,  eines  Jakobiten,  dessen  sich  Frankreich 
(ohne  amtlichen  Charakter  und  ganz  alleiu  auf  dessen 
Risiko  hin)  bediente,  um  neue  Wege  anzubahnen. 

Zuerst  wandte  sich  dieser  an  den  Chevalier  Wil- 
liams, indem  er  sich  für  einen  schottischen  Katho- 
liken, aber  guten  Untertan  Georgs  II.  ausgab,  der  aus 
Gesundheitsrücksichten  im  Norden  reiste.  Dieser  Vor- 
wand und  der  Mangel  an  irgendwelchen  Briefen  für 
Williams  bestärkten  diesen  sofort  in  der  Annahme,  es 
müsse  ein  französischer  Agent  sein.  Er  benachrichtigte 
das  russische  Ministerium,  jedoch  Douglas  fand  bald 

i4    Poniatowski  ~°(J 


Mittel,  einigen  Ministem  zu  gefallen,  und  nachdem 
er  eine  Zeitlang  geduldet  worden,  gestand  er  ganz 
offen,  dass  er  nur  der  Vorläufer  eines  akkreditierten 
Ministers  sei,  den  Frankreich  nach  Russland  schicken 
wolle,  um  die  Verbindung  der  beiden  Höfe  wieder- 
herzustellen, die  seit  der  Abreise  des  Herrn  dAllion  '; 
unterbrochen  war. 

Einige  Monate  vor  Douglas  war  ein  gewisser  Mes- 
sonier  vorgeschickt  worden,  der  den  Fürsten  Adam 
Czartoryski  in  Turin  kennen  gelernt  hatte  und  sich 
von  ihm  hatte  Briefe  mitgeben  lassen,  die  ihm,  einem 
mit  seinem  Vaterlande  unzufriedenen  Franzosen,  Zu- 
tritt bei  Williams  und  eine  Anstellung  in  dessen  Hause 
verschaffen  sollten. 

Messonier  wandte  sich  zuerst  an  mich,  stets  auf 
meinen  Vetter  bezugnehmend.  Als  ich  mit  Williams 
über  ihn  sprach,  zeigte  mir  dieser  eine  schriftliche 
Warnung,  die  ihm  Kaiser  Franz  1.  einige  Tage 
früher  hatte  zukommen  lassen;  sie  enthielt  eine  ge- 
naue Beschreibung  von  Messonier  und  der  Art,  wie 
er  sich  bei  ihm  einzuführen  versuchen  würde,  um 
seinen  Spionendienst  auszuüben.  Da  alles  überein- 
stimmte, überbrachte  ich  Messonier  die  Antwort,  er 
könne  sich  glücklich  schätzen,  auf  einen  so  mensch- 
lich denkenden  Mann  wie  Williams  gestossen  zu  seinr 
der  ihn  nicht  unglücklich  machen  wolle  und,  obgleich 
er  seinen  Plan  kenne,  ihn  bloss  warne  und  ihm  rate, 
dieses  Land  so  rasch  als  möglich  zu  verlassen,  ihm  so- 
gar einen  Pass  verschaffen  wolle,  ohne  den  niemand 
das  russische  Reich  verlassen  könne. 

J)  Im  Jahre  1746  wurden  die  Beziehungen  zwischen  dem  fran- 
zösischen und  russischen  Hofe  abgebrochen,  als  die  russisch- 
österreichische  Allianz  zustande  kam.  Anm.  d.  Hcrausg. 

210 


Messonier  leugnete  alles  ab.  ohne  irgendwelche  Be- 
stürzung zu  verraten,  beklagte  sich  sogar,  dass  man 
ihn  eines  solchen  Metiers  verdächtigte,  welches  seinem 
Charakter  so  ferne  läge. 

Ich  konnte  ihm  noch  so  oft  wiederholen,  er  solle 
dies  sein  lassen,  er  kenne  das  Land  nicht,  die  Fran- 
zosen seien  hier  schlecht  angeschrieben  (das  stimmte 
damals)  und  auf  den  leisesten  Spionageverdacht  hin 
würde  ihm  von  seiten  der  Regierung  die  strengste  Be- 
handlung zuteil  werden,  selbst  wenn  er  zu  seiner  Ver- 
teidigung vorbrächte,  dass  er  nicht  die  Russen, 
sondern  den  englischen  Gesandten  auszuspionieren 
beabsichtigte;  es  war  alles  umsonst;  er  wollte  nicht 
aus  Petersburg  abreisen.  Franzose  und  ohne  Beruf, 
war  er  bald  verdächtig,  und  da  die  Polizei  wusste, 
dass  er  im  Hause  des  Chevalier  Williams  gewesen, 
wurde  dieser  vom  Ministerium  über  ihn  befragt.  Jetzt 
konnte  Williams  nicht  mehr  verheimlichen,  was  er 
von  ihm  wusste,  und  Messonier  wurde  in  strengste 
Haft  genommen.  Als  im  Jahre  1757  der  Marquis 
de  l'Höpital  als  Gesandter  Frankreichs  nach  Russ- 
land kam,  erwirkte  er  seine  Befreiung,  und  ich 
habe  seither  erfahren,  dass  Messonier  sich  beson- 
ders über  mich  persönlich  beklagte  und  dass  der 
französische  Hof  mir  dies  als  ein  weiteres  Unrecht 
anrechnete,  während  ich  doch  alles  getan  hatte, 
was  in  meiner  Macht  stand,  um  diesen  Franzosen 
vor  seinem  Missgeschick  zu  bewahren.  Aber  es  war 
nicht  das  einzige  Mal,  dass  mir  meine  Dienste  schlecht 
gelohnt  wurden. 

Douglas  machte  bald  solche  Fortschritte,  dass  Wil- 
liams auf  diesem  Schauplatz,  von  dem  er  sich  eine 
glanzvolle  Repräsentation  versprochen  hatte,  nur  noch 

«4  211 


Unannehmlichkeiten  widerfuhren  *).  Sein  ungestümes 
Temperament,  die  Sensibilität  seiner  Nerven  und  die 
Kränkungen  seines  Selbstbewusstseins  Hessen  ihn  bald 
fühlen,  wie  richtig  der  Ratschlag  des  berühmten  eng- 
lischen Chirurgen  Cheselden  gewesen,  den  dieser  ihm 
vor  einigen  Jahren  erteilt  hatte :  „Ziehen  Sie  sich  von 
den  Geschäften  zurück,  sie  bringen  Ihnen  Verderben ! " 

Williams  begann  zu  kränkeln,  er  wurde  grämlich, 
Hess  sich  von  jedem  unangenehmen  Eindruck  völlig 
beherrschen,  und  ich  sah  diesen  Mann,  dessen  Geist 
und  Überlegenheit  ich  so  lange  bewundert  hatte,  in 
einer  Weise  schwach  werden,  dass  er  seine  Tränen 
nicht  zurückhalten  konnte,  wenn  er  zweimal  hinter- 
einander im  Spiel  verlor,  selbst  wenn  um  Stecknadeln 
gespielt  wurde.  Ein  andermal  wieder  verfiel  er  um 
ein  Nichts  in  unwürdige  Wutausbrüche,  zu  denen  er 
sich  früher  nie  hatte  hinreissen  lassen. 

Unter  anderem  entsinne  ich  mich  einer  Soiree,  bei 
der  Williams  sich  lange  mit  zwei  englischen  Reisen- 
den, namens  Comb  und  Woodward,  die  damals  in 
Petersburg  verweilten,  mit  Dumaresque,  dem  Pastor 
der  dortigen  englischen  Kolonie,  und  mit  mir  unter- 
hielt; zum  Schluss  fiel  das  Gespräch  zufällig  auf  die 
endlosen  Fragen  des  freien  Willens  und  der  Präde- 
stination, sprang  auf  verwandte  Fragen  über,  von 
denen  eine  Williams  zu  der  Rehauptung  veranlasste, 
es  gäbe  im  menschlichen  Leben  kein  einziges  Ereig- 
nis, dessen  unglücklicher  oder  erfolgreicher  Ausgang 

*)  Sir  Charles  Hanbury  Williams  litt  so  schwer  unter  dem 
Eindruck  dieses  Missgeschicks,  dass  er  ernstlich  erkrankte 
und  sein  seelisches  Gleichgewicht  nie  wiedergewann.  Er  kehrte 
bald  darauf  nach  England  zurück,  wo  er  im  Jahre  i  759  durch 
Selbstmord  endete.   Anm.  d.  Herausg. 

2  I  2 


nicht  auf  irgend  einen  Fehler  oder  irgend  ein  Ver- 
dienst des  Menschen  zurückzuführen  wäre.  Ich  war 
der  Meinung,  dass  z.  B.  ein  Donner  an  einem  heiteren 
Tag  oder  das  erste  Erdbeben  in  einem  Lande,  wo  es 
nie  vorher  ein  Erdbeben  gegeben  hatte,  als  Fatali- 
täten angesehen  werden  müssten,  die  keine  mensch- 
liche Klugheit  voraussehen  konnte  und  die  genüg- 
ten, alle  noch  so  geschickt  kombinierten  Pläne  um- 
zustossen. 

Jeder  äusserte  seine  Meinung:  es  traf  sich,  dass  alle 
meiner  Ansicht  zustimmten,  nur  Williams  nicht,  des- 
sen Laune  sich  bereits  verdüsterte,  weil  niemand  seine 
Meinung  teilte.  Die  Unterhaltung  stockte;  ich  war  so 
unvorsichtig,  das  Schweigen  zu  unterbrechen,  um 
meine  Ansicht  mit  einem  weiteren  Argument  zu  be- 
kräftigen. Williams  konnte  sich  nicht  länger  beherr- 
schen, er  sprang  auf  wie  ein  Rasender  und  sagte: 

„Ich  kann  nicht  dulden,  dass  mir  in  meinem  eige- 
nen Hause  derart  widersprochen  wird.  Verlassen  Sie 
mein  Haus,  ich  will  Sie  zeit  meines  Lebens  nie  wie- 
dersehen." 

Er  verliess  uns  und  warf  die  Tür  seines  Schlafzim- 
mers krachend  zu. 

Die  anderen  verschwanden.  Ich  blieb  allein  und 
überliess  mich  den  traurigsten  und  beschämendsten 
Gedanken.  Einerseits  sagte  ich  mir:  „Diesen  Schimpf 
darf  ich  nicht  auf  mir  sitzen  lassen!"  Und  anderer- 
seits wieder :  „  Wie  soll  ich  dies  rächen  ?  Er  ist  Gesand- 
ter, ja,  noch  mehr,  er  ist  mein  Wohltäter,  denn  er 
war  mein  Erzieher,  mein  Lehrer,  mein  Vormund. 
Meine  Eltern  haben  mich  ihm  anvertraut,  lange  Jah- 
re hat  er  mich  zärtlich  geliebt.  Gewiss,  sein  Unrecht 
ist  gross,  jedoch  hätte  ich  seine  Empfindlichkeit  be- 

2  i  3 


rücksichtigen  sollen,  da  ich  doch  seinen  Zustand 
kannte." 

Wahrend  diese  widerstreitenden  Gefühle  in  mir 
kämpften,  ging  ich  ganz  mechanisch  zur  Tür  seines 
Schlafzimmers;  er  weigerte  sich  zu  öffnen.  Ich  kehrte 
in  das  Zimmer  zurück,  wo  wir  disputiert  hatten.  Die 
Glastür  nach  dem  Balkon  stand  auf.  Ich  trat  auf  den 
Balkon  hinaus;  es  war  dunkle  Nacht;  ich  überliess 
mich  tiefen  Träumereien.  Lange  stand  ich  über  die 
Brüstung  des  Balkons  gebeugt,  da  fühlte  ich,  wie 
Verzweiflung  sich  meiner  bemächtigte.  Schon  hob  ich 
den  Fuss,  um  mich  über  die  Brüstung  hinabzuschwin- 
gen, da  fühlte  ich  mich  plötzlich  umschlungen  und 
kraftvoll  zurückgezogen. 

Es  war  Williams,  der  in  diesem  Augenblick  hinzu- 
kam. Er  hatte  seine  Leute  gefragt,  was  ich  täte?  Man 
erwiderte,  ich  wäre  schon  geraume  Zeit  auf  dem  Bal- 
kon. Er  lief  herbei  und  rettete  mich.  Lange  Zeit  konn- 
ten wir  beide  kein  Wort  äussern.  Schliesslich  führte 
er  mich  in  sein  Schlafzimmer.  Als  ich  meine  Stimme 
wiederfand,  sagte  ich:  „Töten  Sie  mich,  aber  sagen 
Sie  es  nie  wieder,  dass  Sie  mich  nicht  mehr  sehen 
wollen!"  Statt  aller  Antwort  umarmte  er  mich,  in 
seinen  Augen  standen  Tränen;  er  hielt  mich  einige 
Zeit  umschlungen,  dann  bat  er  mich,  das  Vorgefallene 
zu  vergessen  und  nie  wieder  zu  erwähnen.  Ich  ver- 
sprach es  freudigst. 

Was  meine  Lage  auf  jenem  Balkon  noch  fürchter- 
licher gestaltet  hatte,  war  der  Zustand  meines  Herzens, 
das  zu  jener  Zeit  in  der  heftigsten  und  aufrichtigsten 
Weise  engagiert  war.  Bewunderung,  Zärtlichkeit,  eine 
Achtung,  die  an  Verehrung  grenzte,  dies  alles  erfüllte 
in   gleichem  Masse  meine  Sinne  wie  meinen  Geist. 

2  I  4 


Williams  war  mein  Vertrauter,  mein  Ratgeber,  mein 
Helfer.  In  seiner  Eigenschaft  als  Gesandter  konnte  er 
sieh  mit  Leichtigkeit  einer  Persönlichkeit  nähern,  der 
ich  mich  öffentlich  nicht  nähern  durfte,  und  mir  so 
tausenderlei  Mitteilungen  verschaffen.  Da  ich  in  sei- 
nem Hause  wohnte,  genoss  ich  auch  aus  diesem 
Grunde  verschiedene  Sicherheiten,  die  ich  anderswo 
entbehrt  hätte.  Wenn  Williams  mit  mir  brach,  ging 
mir  dies  alles  verloren.  Und  konnte  ich  wissen,  ob 
nach  einem  eklatanten  Bruch  mein  Geheimnis  noch 
sicher  war  und  das  Geheimnis  jener  Persönlichkeit, 
deren  Wohlbefinden  mir  mehr  galt  als  mein  eigenes? 
Zu  jedem  anderen  Zeitpunkt  hätte  ich  den  Gedanken 
einer  solchen  Unredlichkeit  meines  Freundes  Willi- 
ams mit  Verachtung  zurückgewiesen.  Der  jüngste 
Vorfall  gab  jedoch  meiner  Vermutung  Raum,dass  sein 
Geist  sich  in  Zerrüttung  befände  und  dass  die  Heftig- 
keit seiner  Leidenschaften  ihn  jetzt  auf  die  gefähr- 
lichsten Abwege  führen  könnte,  ohne  dass  er  wirk- 
lich schuldig  zu  sprechen  wäre.  Jedoch  diese  Befürch- 
tungen verflogen,  sobald  wir  uns  wieder  versöhnt 
hatten,  denn  ich  liebte  ihn  wie  einen  Vater  und  ich 
bedurfte  der  Hoffnung,  dieser  wesentlichen  Triebfe- 
der des  Lebens  und  vor  allem  der  Jugend. 

Williams  fiel  nun  der  Auftrag  zu,  dem  damaligen 
russischen  Grosskanzler  Bestuschew  jenes  Geheimnis 
anzuvertrauen,  das  ihm  sechs  Monate  hindurch  ver- 
borgen geblieben  war,  trotz  seiner  Wachsamkeit  und 
seiner  Spione  und  trotz  seines  äusserst  heftigen  Wun- 
sches, eigenmächtig  die  Angelegenheiten  einer  Prin- 
zessin zu  dirigieren,  die  er  so  sehr  vergötterte,  dass 
er  beinahe  in  sie  verliebt  war. 

Vergebens  hatte  Bestuschew  es  versucht,  ihr  die 

1 1  5 


von  ihm  erwählten  Amants  unterzuschieben;  unter 
anderen  hatte  er  einen  Grafen  Lehndorff1)  hierzu  aus- 
ersehen, der  am  selben  Tage  wie  ich  bei  Hofe  vorge- 
stellt wurde  und  dessen  Lob  die  fürwitzigen  Höflinge 
am  gleichen  Abend  vor  der  Prinzessin  absichtlieh  an- 
stimmten. Sie  erwiderte,  dass  von  den  beiden  der  Pole 
ihr  besser  zusage.  Dieses  eine  Wort  (das  sie  ohne 
besondere  Absicht  geäussert  hatte)  wurde  von  Lew 
Alexandrowitsch  Narischkin,  ihrem  damaligen  Kam- 
merherrnund  heutigen  Oberstallmeister, aufgefangen ; 
bald  hierauf  suchte  er  meine  Bekanntschaft,  bemühte 
sich  um  mein  Vertrauen,  wiederholte  mir  diese  Äus- 
serung und  berichtete  mir  alles,  was  dazu  dienen 
konnte,  mir  Hoffnungen  zu  machen.  Lange  Zeit  hin- 
durch vermied  ich  es,  ihn  auch  nur  anzuhören,  so 
sehr  erfüllte  meinen  Geist  die  Furcht  vor  den  Ränken 
und  Spionagen  der  Höfe  im  allgemeinen  und  vor 
den  schrecklichen  Gefahren,  die  am  hiesigen  Hofe 
jedem  auflauerten,  im  besonderen. 

Von  Jugend  auf  war  ich  mit  den  Erzählungen  der 
Schreckensregierung  Anna  Iwanownas  vertraut,  deren 
Name  allein  jeden  Russen  noch  erzittern  Hess.  Ich 
wusste,  dass  ein  Saltikow  mein  Vorgänger  war,  den 
die  regierende  Kaiserin  Elisabeth  unter  dem  Vorwand 
irgend  einer  Mission  nach  Hamburg  entfernt  hatte, 
doch  wusste  ich  nicht,  dass  er  der  Grossfürstin  Grund 
zur  Unzufriedenheit  gegeben  hatte.  Ausserdem  glaubte 
ich  auch,  dass  der  Ehrgeiz  ihre  Hauptbeschäftigung 
war.  Ich  glaubte  sie  von  so  preussischer  Gesinnung 
(während  ich  im  grössten  Abscheu  gegen  alles  Preus- 
sische  auferzogen  war),  ich  glaubte  sie  voller  Ver- 
achtung gegen  alle,  die  nicht  für  Voltaire  schwärm- 
*)  Anm.  d.  Königs  :  Er  starb  einige  Jahre  später. 

2  16 


Michael  Anton  Sapieha,  Woiwode  von 
Podlesien,  Vizekanzler  von  Litauen 

(I'liot.  Änderte,  Krakau) 


tcn,  —  um  es  kurz  zu  sagen,  ich  glaubte  sie  so  ganz 
anders,  als  sie  in  Wirklichkeit  war,  dass  ich  nicht  nur 
aus  Vorsicht,  sondern  weil  ich  wirklich  kein  Ver- 
langen verspürte,  drei  Monate  hindurch  allen  Reden 
Narischkins  auswich,  die  mir  nur  Fallstricke  zu  sein 
schienen. 

Sein  Benehmen  war  das  eines  Höflings,  der  die 
Neigungen  erraten  will,  die  man  ihm  nicht  anvertraut 
hat,  und  der  sich  eines  Tages  dadurch  verdient  zu 
machen  hofft,  dass  er  die  Prinzessin,  der  er  dient,  so- 
zusagen gegen  ihren  Willen  durch  seine  Kühnheit  in 
eine  bestimmte  Bahn  zwingt;  er  redete  mir  den  Kopf 
voll,  so  dass  ich  mich  schliesslich  versucht  fühlte, 
einige  Schritte  zu  wagen;  ganz  besonders  jedoch,  als 
eines  Tages  eine  Bemerkung,  die  ich  zu  Narisehkin 
über  eine  Dame  am  Hofe  machte,  wenige  Augen- 
blicke später  von  der  Grossfürstin,  die  an  mir  vor- 
beiging, fast  mit  denselben  Worten  wiederholt  wurde, 
wobei  sie  unter  Lachen  hinzufügte: 

„Mir  scheint,  Sie  sind  ein  Maler!" 

Bald  darauf  riskierte  ich  ein  Billett;  am  folgenden 
Tage  überbrachte  mir  Narisehkin  die  Antwort.  Jetzt 
vergass  ich,  dass  es  ein  Sibirien  gab!  Einige  Tage 
später  führte  er  mich  zu  ihr,  ohne  sie  vorher  benach- 
richtigt zu  haben ;  er  verständigte  sie  erst,  als  ich 
bereits  an  der  Tür  ihrer  Garderobe  stand,  zu  einer 
vorgerückten  Stunde  und  an  einem  Orte,  wo  der 
Grossfürst  eine  Viertelstunde  später  vorbeikommen 
musste,  so  dass  ihr,  um  mich  zu  verbergen,  kein  an- 
derer Ausweg  blieb,  als  mich  in  ihr  Zimmer  einzu- 
lassen, andernfalls  hätte  sie  mich  und  sich  selbst  den 
grössten  Gefahren  ausgesetzt. 

Sie  war  fünfundzwanzig  Jahre  alt.  Erst  vor  kurzem 


2  I 


hatte  sie  ihr  erstes  Wochenbett  verlassen  und  ihre 
Schönheit  war  in  voller  Blüte  zu  diesem  Zeitpunkt, 
der  bei  den  meisten  mit  Schönheit  begnadeten  Frauen 
die  höchste  Entfaltung  bedeutet.  Der  blendend  weisse 
Teint  und  die  lebhaften  Farben  kontrastierten  mit 
ihrem  schwarzen  Haar;  sie  hatte  grosse  blaue,  sehr 
ausdrucksvolle  Augen,  schwarze  und  sehr  lange  Augen- 
wimpern, eine  schmale  Nase,  einen  Mund,  der  zum 
Küssen  lockte,  vollendet  schöne  Hände  und  Arme; 
sie  war  schlank,  eher  gross  als  klein,  ihr  Gang  war 
leicht  und  doch  voller  Hoheit,  der  Klang  ihrer  Stimme 
angenehm  und  ihr  Lachen  ebenso  heiter  wie  ihre 
Laune;  mit  immer  gleichmütiger  Leichtigkeit  kehrte 
sie  von  den  ausgelassensten  und  kindlichsten  Spielen 
zu  den  Chiffren  zurück,  es  schreckte  sie  weder  die  phv- 
sische  Anstrengung  heim  Entziffern  derselben  noch  der 
Text,  so  wichtig  und  gefahrvoll  auch  der  Inhalt  war. 

Der  Zwang,  dem  sie  seit  ihrer  Verheiratung  unter- 
worfen war,  die  Entbehrung  jeder  gleichgesinnten 
Gesellschaft  hatten  sie  zur  Lektüre  geführt.  Sie  wusste 
viel;  von  einschmeichelndem  Wesen,  verstand  sie, 
jeden  bei  seiner  schwachen  Seite  zu  packen,  und 
bahnte  sich  schon  damals  durch  die  Liebe  des  Volkes 
den  Weg  zu  diesem  Thron,  den  sie  später  mit  solchem 
Glänze  umgab. 

Das  war  die  Frau,  die  zur  Lenkerin  meines  Schick- 
sals wurde;  mein  ganzes  Leben  war  ihr  geweiht,  weit 
aufrichtiger,  als  es  gewöhnlich  jene  behaupten,  die 
sich  in  einer  ähnlichen  Lage  befinden.  Und  durch 
einen  sonderbaren  Umstand  konnte  ich  ihr,  trotzdem 
ich  damals  zweiundzwanzig  Jahre  zählte,  etwas  dar- 
bringen, was  vor  ihr  noch  niemand  gehabt. 

Erstlich  hatte   mich   eine  strenge  Erziehung   vor 

31  8 


jedem  verwerflichen  Umgang  behütet;  auf  meinen 
Reisen  hatte  mich  mein  Ehrgeiz,  in  der  sogenannten 
„guten  Gesellschaft"  hochzukommen  und  mich  dort 
zu  halten,  davor  beschützt,  und  schliesslich  hatte  bei 
.allen  Liaisons,  die  ich  im  Ausland,  in  der  Heimat  und 
sogar  in  Russland  anknüpfte,  das  Zusammentreffen 
verschiedener  geringfügiger  Umstände  es  gefügt,  dass 
ich  mich  unversehrt  für  jene  Frau  bewahren  konnte, 
•die  später  über  mein  Los  bestimmen  sollte. 

Ich  kann  mir  das  Vergnügen  nicht  versagen,  sogar 
das  Gewand  zu  beschreiben,  in  dem  ich  sie  an  jenem 
Tage  antraf:  ein  einfaches  Kleid  aus  weissem  Satin, 
als  einzige  Verzierung  ein  leichter  Besatz  von  Spitzen 
und  rosa  Bändern.  Sie  konnte  es  gar  nicht  begreifen, 
wie  es  möglich  war,  dass  ich  mich  tatsächlich  in  ihrem 
Kabinett  befand ;  und  wirklich,  ich  habe  mich  selbst 
noch  oft  gefragt,  wenn  ich  an  Hoftagen  durch  diese 
zahllosen  Garden  und  die  verschiedenen  Wächter  hin- 
durchschritt, wie  es  möglich  gewesen,  dass  ich  schon 
so  oft,  wie  in  eine  schützende  Wolke  gehüllt,  diese 
Gemächer  betreten  konnte,  nach  denen  ich  in  der 
Öffentlichkeit  kaum  einen  Blick  zu  werfen  wagte. 

Ich  habe  schon  gesagt,  dass  Williams  dem  Kanzler 
Bestuschewr  mitteilte,  mit  welchem  Interesse  die  Gross- 
fürstin mich  auszeichnete.  Das  war  eine  Notwendig- 
keit. Man  musste  das  Getriebe  aufbalten,  das  der 
Kanzler  in  Bewegung  gesetzt  hatte,  um  Saltikow  zu- 
rückzurufen, der  damals  in  Hamburg  residierte  und 
dem  die  Grossfürstin  fortan  lieber  weitere  Unter- 
stützungen in  seinem  dortigen  Amte  gewähren  als  ihn 
in  Russland  wiedersehen  wollte.  Und  ferner  musste 
man  Bestuschew  bestimmen,  dass  er  seinen  Einfluss 
auf  das  sächsische  Kabinett  dahin  ausnützte,  um  mich 

219 


mit  einem  offiziellen  Amte  betraut  an  den  Peters- 
burger Hof  zurückzubringen. 

Vier  Zeilen  von  der  Hand  der  Grossfürstin,  die 
Bestuschew  durch  Williams  übergeben  wurden,  ge- 
nügten, um  von  ihm  die  gewünschte  Zusicherung  zu 
erlangen. 

Es  ist  hier  wohl  an  der  Zeit  zu  sagen,  was  für  ein 
Mann  dieser  Kanzler  Bestuschew  eigentlich  war. 

Unter  der  Regierung  Peters  I.  geboren,  kam  er  auf 
Befehl  dieses  Fürsten  in  den  Dienst  des  Kurfürsten 
von  Hannover,  oder  vielmehr  zur  Ausbildung  an  den 
Hof  dieses  Kurfürsten,  der  ihn  nach  einiger  Zeit  selbst 
zu  Peter  I.  schickte,  um  ihm  die  Mitteilung  seiner 
Thronbesteigung  als  Georg  I.  von  England  zu  über- 
bringen. 

Peter  der  Grosse  hatte  seine  Freude  an  dem  jungen 
Russen,  der  schon  ein  wenig  das  ausländische  Wesen 
angenommen  und  einem  europäischen  Fürsten  gedient 
hatte,  nahm  ihn  wohlwollend  auf  und  ernannte  ihn 
bald  darauf  zu  seinem  Residenten  in  Hamburg.  Später 
fand  er  auch  am  Hofe  von  Dänemark  Verwendung. 

Als  die  Kaiserin  Anna  starb,  befand  er  sich  gerade 
in  Petersburg  und  spielte  dort  anscheinend  schon 
damals  eine  wichtige  Rolle,  da  der  Feldmarschall 
Münnich  ihn  für  würdig  erachtete,  als  Staatsgefange- 
ner in  einer  Festung  untergebracht  zu  werden,  indes 
er  selbst  die  Regentschalt  ßirons,  des  Herzogs  von 
Kurland,  stürzte. 

Die  Prinzessin  Ann.i,  die  nach  Birons  Sturz  zur 
Regentin  erhoben  wurde,  setzte  Bestuschew  in  Frei- 
heit, als  Münnich  seine  Amter  niederlegte. 

Als  Elisabeth  Kaiserin  wurde,  ernannte  sie  ihn  zum 
Grosskanzler,  also  nach  dem  Brauch  jenes  Hofes  zun» 

220 


Chef  des  Departements  der  auswärtigen  Angelegen- 
heiten und  gewissermassen  zum  Premierminister. 

So  lange  er  nicht  animiert  war,  konnte  er  keine 
vier  Worte  im  Zusammenhang  sprechen  und  schien 
zu  stottern.  Sobald  jedoch  die  Konversation  ihn  inter- 
essierte, fand  er  zwar  in  Wirklichkeit  sehr  inkorrekte, 
jedoch  ungemein  feurige  und  energische  Worte  und 
Phrasen,  die  einem  Munde  entströmten,  worin  nur 
vier  halb  geborstene  Stummel  zu  sehen  waren,  und 
gleichzeitig  schössen  seine  Augen  funkelnde  Blitze. 
Die  Flecken  in  seinem  Gesicht  mit  dem  leichenblassen 
Teint  liessen  ihn  noch  fürchterlicher  erscheinen,  wenn 
«r  zornig  wurde,  was  ziemlich  oft  vorkam;  wenn  er 
lachte,  so  war  es  ein  teuflisches  Lachen. 

Er  verstand  sehr  wohl  Französisch,  jedoch  zog  er  es 
vor,  mit  Ausländern  Deutsch  zu  sprechen,  falls  sie 
diese  Sprache  beherrschten. 

Er  war  kaum  fähig,  in  irgend  einer  Sprache  zu 
schreiben,  war  sozusagen  völlig  unwissend  und  beur- 
teilte die  Arbeit  der  anderen  nur  instinktiv,  jedoch 
fast  stets  richtig.  Er  besass  keinerlei  angelernte  Kennt- 
nisse von  der  Kunst;  und  doch  hätte  man  wetten 
können,  dass  er  von  mehreren  Zeichnungen  stets  die 
schönste  auswählen  würde,  hauptsächlich  bei  erhabe- 
nen und  edlen  Dingen,  so  zum  Beispiel  wenn  es  sich 
um  Architektur  handelte.  Unumschränkt  zu  herrschen 
war  seine  Leidenschaft.  Manchmal  war  er  auch  edel- 
mütiger Handlungen  fähig,  gerade  weil  er  ein  Gefühl 
für  das  Schöne  auf  jedem  Gebiet  hatte,  aber  es  er- 
schien ihm  so  natürlich,  alles  aus  dem  Wege  zu 
schaffen,  was  seine  Pläne  durchkreuzte,  dass  er  vor 
keinerlei  Mitteln  zurückschreckte.  Übrigens  hatten 
auch  die  Exempel  der  Schreckensherrschaften,  unter 

22  I 


denen  er  erzogen  wurde,  seinen  Geist  verhärtet.  Oft  bot 
er  seine  Dienste  jenen  an,  die  er  seine  Freunde  nannte, 
selbst  wenn  wenig  delikate  Mittel  in  Frage  kamen, 
und  er  fand  es  sehr  sonderbar,  wenn  jemand  hierbei 
Skrupel  äusserte. 

In  allem  hartnäckig  und  eigensinnig,  war  er  ein 
enragierter  Österreicher  und  ein  dezidierter  Preussen- 
gegner,  sein  ganzes  Leben  hindurch.  Infolgedessen 
schlug  er  die  Millionen  aus,  die  ihm  der  König  von 
Preussen  anbot,  genierte  sich  aber  keineswegs,  Bezah- 
lung entgegenzunehmen  und  selbst  solche  zu  fordern, 
wenn  er  mit.  einem  Minister  Österreichs,  Englands 
oder  Sachsens  unterhandelte  oder  mit  irgend  einem 
anderen  Hofe,  den  er  im  Interesse  seines  Hofes  be- 
günstigen zu  müssen  glaubte.  Von  einem  befreundeten 
Fürsten  eine  Entlohnung  entgegenzunehmen,  war 
seines  Erachtens  nicht  allein  ein  gutes  Recht,  sondern 
sogar  eine  Art  Huldigung,  die  man  der  Macht  seiner 
eigenen  Nation  darbrachte,  deren  Ruhm  er  auf  seine 
Weise  tatsächlich  zu  erhöhen  trachtete. 

Für  gewöhnlich  beschloss  er  sein  Tagewerk  durch 
ein  Trinkgelage  mit  ein  oder  zwei  Vertrauten.  Manch- 
mal erschien  er  sogar  betrunken  vor  der  Kaiserin  Eli- 
sabeth, die  dieses  Laster  verabscheute,  und  das  hat 
ihm  bei  ihr  geschadet. 

Sein  Zorn  steigerte  sich  oft  bis  zur  Raserei,  mit 
seiner  Frau  dagegen  war  er  stets  mild  und  duldsam ; 
er  nannte  sie  mit  Recht  Xanthippe,  seitdem  ihm  eines 
Tages  jemand  die  Geschichte  von  Sokrates  erzählt 
hatte.  Er  hatte  sie  in  Hamburg  kennen  gelernt  und 
geheiratet,  sie  war  von  wenig  bekannter  Herkunft;  sie 
war  sehr  schön  gewesen,  hatte  Begabung  für  die  Mu- 
sik, war  geistreich  und  besass  gar  manche  Eigenheit; 

222 


sie  hatte  ihn  dermassen  uaterjocht,  dass  ich  es  einst  er- 
lebte, wie  Herr  Bestuschew  eine  Flut  gröbster  Be- 
leidigungen schweigend  über  sich  ergehen  Hess,  die 
seine  Frau  ihm   bei   Tische   vor  zahlreicher  Gesell- 
schaft   entgegenschleuderte,  und   zwar  wegen   eines 
einzigen  tadelnden  Wortes,  das  er  über  ihren  gemein- 
samen Sohn  ausgesprochen.  Nun  war  aber  dieser  Sohn 
in  Wirklichkeit  ein  Monstrum  eines  Verbrechers  und 
eines  in  jeder  Beziehung  lasterhaften  Menschen;  was 
jedoch  diese  mütterliche  Raserei  von  Frau  Bestusohew 
noch  absonderlicher  erscheinen   liess,  war  der  Um- 
stand, dass  sie,  die  es  dem  Vater  dieses  unwürdigen 
Sohnes  niemals  erlaubte,  den  geringsten  Tadel  über 
ihn  auszusprechen,  selbst  gar  oft  über  das  Unglück 
klagte,  seine  Mutter  zu  sein;  an  jenem  Tage  hatte  sie 
mir  selbst  genug  Ungeheuerlichkeiten  von  ihm  erzählt. 
Ich   hatte  vor  ihren  Augen  Gnade  gefunden;   sie 
sagte,  ich  brächte  ihr  Glück  beim  Spiel;  sie  wies  mir 
bei  Tisch  den  Platz  neben  sich  an;  so  oft  ich  bei  ihr 
dinierte,  begann  sie  mir  von  ihren  Gebrechen  zu  er- 
zählen, von  der  Bereitschaft  auf  den  Tod,  in  der  man 
stets  sein  solle,  von  dem  universellen  Abscheu,  mit 
dem  alle  Freuden  dieser  Welt  und  sogar  jede  Art 
Nahrung  sie  erfüllten;  daraufhin  stellte  ich  ihr  vor, 
dass   jede   Art  des  Selbstmords   den   Prinzipien  des 
Christentums  widerspräche;  sie  gab  es  zu,  begann  zu 
essen  und    zugunsten    des   Luthertums   zu   predigen 
und  gegen  das,  was  sie  die  Irrtümer  des  Katholizis- 
mus nannte;  stets  jedoch  fügte  sie  hinzu,  dass  Luther 
unrecht  tat,  als  er  Katharina  Bora  ehelichte,  „denn", 
so  sagte  sie,   „wenn  man  gelobt  hat,  unvermählt  zu 
bleiben,  dann  darf  man  nicht  heiraten"  ;  ich  gab  ihr 
darin  recht  und  bot  ihr  die  Schüsseln  an,  von  denen 

21 3 


ich  wusste,  dass  sie  am  meisten  ihrem  Geschmack  ent- 
sprachen; sie  nannte  mich  ihren  Adoptivsohn,  und 
nach  dem  zweiten  Gang  begann  sie  stets  mir  die  Skan- 
dal gesch  ich  ten  des  Hofes  und  der  Stadt  zu  erzählen, 
mit  allen  Vor-  und  Zunamen,  und  zwar  so  laut,  dass 
ich  unter  Lachen  zitterte. 

So  wie  sie  war,  wurde  sie  im  Grunde  genommen 
von  ihrem  Gatten  doch  geliebt;  sie  hatte  grossen  Ein- 
fluss  auf  ihn;  sie  war  sehr  originell  und  ich  nannte 
sie  stets  mamanj  trotz  all  der  üblen  Dinge,  die  sie 
oft  und  unvorsichtig  genug  über  die  Kaiserin  Elisabeth 
aussprach,  die  ihrerseits  alles  wusste,  was  man  ihr 
nachsagte,  wurde  Madame  de  Bestuschew  von  Eli- 
sabeth ausgezeichnet  behandelt. 

Der  Leser  muss  aber  erfahren,  wer  diese  Kaiserin 
Elisabeth  war. 

Nach  dem  Tode  Peters  des  Grossen,  während  der 
kurzen  Regierungszeit  Katharinas  I.,  die  nicht  schrei- 
ben konnte,  war  Elisabeth,  ihre  Tochter,  dazu  aus- 
ersehen, für  ihre  Mutter  zu  unterfertigen.  Katharina 
hatte  angeordnet,  dass  Elisabeth  den  Namen  ihrer 
Mutter  auf  allen  Papieren  unterschreiben  sollte,  die 
mit  dem  kaiserlichen  Siegel  versehen  werden  muss- 
ten,  und  zwar  musste  sie  diese  Unterschriften  in 
einem  an  Katharinas  Zimmer  angrenzenden  Kabi- 
nett vollziehen,  dessen  Türe  offen  stand.  Elisa- 
beth beauftragte  eine  ihrer  Vertrauten,  die  Seiten 
umzublättern,  und  dieses  Geräusch  veranlasste  Ka- 
tharina zu  glauben,  dass  die  Unterschriften  vollzogen 
wurden ;  aber  wenn  sie  sie  holen  kam,  fand  sie  ihre 
Tochter  oft  gar  nicht  vor,  —  Elisabeth  hatte  den 
Augenblick  benützt,  um  zu  ihren  Rendezvous  zu  eilen, 
und  oft  hatte  man  viele  Mühe,  sie  zu  finden. 

224 


Katharina  I.  war  keine  strenge  Mutter,  übrigens 
gaben  ihre  zahlreichen  und  allgemein  bekannten  Ga- 
lanterien und  das  Laster  der  Trunksucht,  dem  sie 
auch  frönte,  ihren  Töchtern  vollauf  Dispens  und  be- 
liessen  gleichzeitig  die  ganze  Autorität  der  Regierung 
in  den  Händen  Menschikows,  aus  persönlicher  Un- 
fähigkeit der  Herrscherin,  doch  auch  ebensosehr  aus 
Dankbarkeit.  Menschikow  hatte  das  angebliche  Te- 
stament Peters  des  Grossen  gefälscht,  wonach  dieser 
Katharina  nach  seinem  Tode  zur  absoluten  Souve- 
ränin bestimmte;  wie  Menschikow  und  der  Erzbischof 
Theophanos  behaupteten,  war  diese  Idee  von  Peter  1. 
geäussert  worden,  als  er  Katharina  krönen  Hess: 
durch  diesen  Akt  selbst  habe  er  sie  zur  Souveränin 
nach  seinem  Ableben  bezeichnet.  Die  Kühnheit  erle- 
digte alles  weitere.  Peter  I.  hatte  jedoch  nicht  im 
entferntesten  die  Absicht  gehabt,  dass  Katharina  nach 
ihm  regieren  sollte,  um  so  weniger  seitdem  er  die 
galante  Intrige  seiner  Frau  mit  dem  Kammerherrn 
Mons  entdeckt  hatte. 

Drei  Wochen  vor  seinem  Tode  befahl  Peter  I.  die 
Hinrichtung  dieses  Mons,  und  er  begnügte  sich  nicht 
damit,  ihn  hängen  zu  lassen,  sondern  er  führte  noch 
die  Kaiserin,  wie  auf  einem  Spaziergang,  um  den 
Galgen  herum. 

Ich  weiss,  dass  Hunderte  von  Autoren,  darunter 
auch  Voltaire,  geschrieben  haben,  Peter  der  Grosse 
hätte  in  Katharina  I.  ein  Wesen  gefunden,  das 
allen  anderen  ihres  Geschlechts  und  auch  allen 
männlichen  Russen  überlegen  und  allein  fähig  war, 
das  von  ihm  begonnene  Werk  zu  vollenden.  Aber 
trotz  allem,  was  Menschikow  fälschlich  behauptet,  was 
die    Schmeichelei    zu    Lebzeiten    Katharinas    I.    be- 

1 5   Poniatowski  2  2  5 


stätigt  hat,  was  aus  einer  gewissen  Vorliebe  für  das 
Aussergewöhniiehe  immer  wiederholt  wurde,  ist  das, 
was  ich  hier  sehreibe,  die  exakte  Wahrheit;  ich  weiss 
es  aus  zu  guter  Quelie. 

Einer  der  Männer  dieser  Nation,  dessen  Wahrheits- 
liebe allgemein  anerkannt  wird,  erzählte  mir,  er  wisse 
von  seinem  Vater,  der  zur  Zeit,  als  Peter  I.  starb,  ein 
Garderegiment  kommandierte,  dass  dieser  Kaiser  ein 
Testament  gemacht  hatte  und  dass  sein  Lieblingszwerg 
Lukas  wusste,  wo  dieses  Testament  sich  befand.  Aber 
am  gleichen  Tag,  als  Peter  I.  starb,  verschwand  Lukas 
und  tauchte  erst  17  Jahre  später  wieder  auf,  als  die 
Kaiserin  Elisabeth  nach  ihm  forschen  liess.  Dieses 
wichtige  Testament  wurde  beiseite  geschafft,  und 
Menschikow  regierte  im  Namen  Katharinas  I. 

Katharina  I.  hatte  den  Thron  von  1725  bis  1727 
inne,  und  ich  kam  28  Jahre  später  nach  Russland; 
noch  lebten  Tausende  von  Augenzeugen  ihrer  Taten, 
die  mir  leidenschaftslos  und  ohne  einen  eigennützigen 
Zweck  zu  verfolgen  darüber  berichteten,  und  jedes 
der  kleinen  Details,  die  mir  erzählt  wurden,  passte 
genau  in  den  Rahmen  zu  dem  Gesamtbild;  es  ist  nicht 
schwer  zu  erraten,  wer  sie  mir  erzählte. 

Als  Katharina  I.  starb,  wurde  Peter  I  [.,  der  Enkel  Pe- 
ters L,  Kaiser;  die  Dolgorukis  beherrschten  ihn  völlig, 
Menschikow  Hessen  sie  nach  Sibirien  schicken;  ihr 
Einfluss  jedoch  erlosch  mit  dem  Ableben  Peters  II., 
der  in  der  Rlüte  seiner  Jugend  an  Rlattern  starb. 

Dieses  Ereignis  schien  den  Töchtern  Peters  I.  den 
Weg  zum  Thron   zu  öffnen:  der  Prinzessin   Anna1), 

l)  Anna  Petrowna  (1708 — 1728),  Gemahlin  des  Herzogs 
Friedrich  Karl  von  Holstein-Gottorp,  starb  nach   der  Geburt 

226 


der  älteren  Tochter  Peters  1.,  oder  der  Prinzessin  Eli- 
sabeth, ihrer  jüngeren  Schwester.  Erstere  war  jedoch 
mit  ihrem  Gatten  in  Holstein;  Elisabeth,  die  unver- 
heiratet war,  lag  im  Wochenbett,  und  das  damalige 
Russland  und  seine  ganze  Regierung  waren  in  einem 
Zustand,  der  die  Kühnheit  und  den  günstigen  Moment 
zu  entscheidenden  Faktoren  erhob. 

Einige  der  Grossen,  vor  allem  die  Dolgorukis,  glaub- 
ten den  Moment  für  eine  Aristokratie  gekommen. 
Sie  verfassten  eine  Eidesformel,  welcher  sich  der 
künftige  Herrscher  unterwerfen  sollte,  und  da  die 
Kinder  Iwans,  des  älteren  Bruders  Peters  I.,  der  vor  ihm 
gestorben  war,  weit  geringere  Hoffnung  auf  die  Thron- 
folge hatten,  wie  jene  Peters  I.,  dachten  diese  Grossen, 
mit  ihnen  leichter  fertig  zu  werden. 

Die  Herzogin  von  Mecklenburg1),  die  ältesleTochter 
des  Zaren  Iwan,  war  in  Moskau  anwesend,  und  viel- 
leicht wurde  sie  gerade  deshalb  ausgeschlossen.  Ihre 
jüngere  Schwester2),  die  Witwe  eines  kurländischen 
Herzogs,  lebte  in  Mitau;  es  wurde  ihr  das  über- 
raschende Angebot  der  russischen  Krone  überbracht. 
Je  weniger  sie  darauf  vorbereitet  war,  um  so  leichter 
stimmte  sie  allem  zu,  was  von  ihr  verlangt  wurde. 
Vielleicht  trug  zu  ihrer  Erhebung  auch  ein  Wort  Pe- 
ters I.  bei,  an  das  man  sich  erinnerte;  er  hatte  dieser 

ihres  Sohnes,  der  1762  als  Peter  III.  auf  den  russischen  Thron 
gelangte.   Anm.  d.  Ilerausg. 

*)  Katharina  Iwanowna  (1691 —  1  733)  war  mit  Herzog  Karl 
Leopold  von  Mecklenburg  vermählt. 

*)  Anna  Iwanowna  (1693 — 1740)  ward  1710  mit  dem  Her- 
zog Friedrich  Wilhelm  von  Kurland  vermählt,  der  ein  Jahr 
darauf  starb.  Anm.  d.  Ilerausg. 

i5*  227 


Prinzessin,  die  er  schätzte,  eines  Tages  gesagt :  „  Es  ist 
schade,  dass  du  kein  Junge  bist!" 

Sie  wurde  in  Moskau  gekrönt,  nachdem  sie  einen 
Eid  geleistet  hatte,  wonach  ihre  Grossen,  die  sie  be- 
rufen hatten,  an  ihrer  Macht  teilhaben  sollten.  Je- 
doch einer  von  ihnen,  Fürst  Tscherkasski,  überreichte 
ihr  wenige  Wochen  später  eine  Bittschrift,  worin  im 
Namen  der  ganzen  Nation  gesagt  wurde,  diese  könnte 
nur  unter  einer  ebenso  absoluten  Herrschaft  glücklich 
werden,  wie  es  die  Herrschaft  von  Anna  Iwanownas 
Vorgänger  gewesen;  man  bat  sie  daher,  ihre  Autorität 
mit  niemandem  zu  teilen. 

Anna  lwanowna  liess  sich  leicht  überzeugen,  dass 
solches  der  Wunsch  von  ganz  Russland  war.  Sie  er- 
klärte sich  zur  absoluten  AI  leinherrscherin ;  dem  ganzen 
Reich  wurde  ein  neuer  Eid  aufgezwungen,  und 
während  der  zehn  Jahre  von  Anna  Iwanownas  Regie- 
rung liessen  die  fürchterlichsten  Exile  so  viele  Dolgoru- 
kis  und  andere  der  hervorragendsten  Russen  ver- 
schwinden, dass  man  staunt,  Leute  ihres  Namens  in 
Russland  noch  anzutreffen. 

Unter  dieser  Regierung  des  Schreckens  und  des 
fürchterlichsten  Despotismus  wurde,  wie  es  leicht  er- 
klärlich ist,  die  Prinzessin  Elisabeth  streng  überwacht. 
Die  ersten  Pläne,  die  man  für  ihre  Person  hegte,  waren 
eine  Heirat,  durch  die  sie  entfernt  werden  sollte. 

Tatsache  ist,  dass  einige  Pourparlers  gepflogen 
wurden,  um  sie  mit  Ludwig  XV.,  König  von  Frank- 
reich, zu  verheiraten. 

Dann  bewarb  sich  Thamas  Kuli-Chan  um  ihre 
Hand. 

Aber  diese  Verhandlungen  kamen  nicht  über  den 
ersten  Entwurf  hinaus,  und  im  übrigen  sah  man  sie 

228 


so  ganz  mit  ihren  Vergnügungen  beschäftigt,  dass 
man  nicht  glaubte  sie  fürchten  zu  müssen. 

Jedoch,  trotz  allem  war  sie  das  einzige  noch  lebende 
Kind  Peters  des  Grossen;  sie  war  schön,  ihre  Reize 
waren  ebenso  robust  wie  ihre  Liebhaber,  und  diese 
nach  Hunderten  zählenden  Liebhaber  waren  zumeist 
Soldaten  der  Garde  oder  Priester,  und  Russland  war 
noch  ganz  barbarisch  und  abergläubisch,  und  Riron, 
Herzog  von  Kurland,  der  in  Annas  Namen  mit  eiserner 
Faust  regierte,  hatte  es  so  weit  gebracht,  dass  die  grosse 
Gesamtheit  der  Nation  alles  hasste,  was  deutsch  war 
oder  es  zu  sein  schien. 

Genau  wie  Menschikow  brachte  auch  Biron  nach 
Annas  Ableben  ein  Testament  zum  Vorschein,  wo- 
nach sie  ihn  zum  Regenten  des  Reichs  erklärte,  bis 
zur  Grossjährigkeit  des  Prinzen  Iwan,  des  Sohnes  der 
Schwestertochter l)  der  Kaiserin  Anna,  die  mit  dem 
Prinzen  Anton  Ulrich  von  Braunschweig  verheiratet 
war,  dem  zweiten  Bruder  des  regierenden  Herzogs  von 
Braunschweig,  dessen  jüngster  Bruder  die  Franzosen 
in  den  Jahren  1 7  58  bis  1 763  gar  ruhmreich  bekämpfte. 

Biron  war  zwei  Monate  Regent;  während  dieser 
Zeit  war  er  so  sehr  damit  beschäftigt,  sich  gegen  die 
Prätentionen  der  Prinzessin  Anna  (der  Mutter  des 
kleinen  Iwan,  der  den  Titel  eines  Kaisers  führte)  auf 
die  Regentschaft  zu  schützen,  dass  er  es  politisch  für 
richtig  hielt,  der  Prinzessin  Elisabeth,  die  er  während 
Annas  Regierung  so  zurückgesetzt  hatte,  jetzt  ein  wenig 
zu   schmeicheln.    Er   liess   ihr  sogar  —  so  wird  be- 

*)  Anna  Leopoldowna,  1  7  1 8  —  1  746,  Tochter  des  Herzogs  Karl 
Leopold  von  Mecklenburg  und  Katharina  Iwanownas,  ver- 
mählt mit  dem  Prinzen  Anton  Ulrich  von  Braunschweig- 
Lüneburg-Bevern.   Anm.  d.  Herausg. 

229 


hauptet  —  vorschlagen,  seinen  Sohn  Peter  zu  heiraten, 
den  heutigen  Herzog  von  Kurland. 

Inmitten  dieser  Projekte  stürzte  Mücnich,  ohne  Mit- 
schuldige, nur  mit  18  Soldaten,  die  nicht  wussten, 
wohin  er  sie  führte,  Birons  Regentschaft  undliessdie 
Prinzessin  Anna  als  Regentin  ausrufen;  aus  über- 
mässigem Stolz  überwarf  er  sich  bald  darauf  mit  ihr, 
legte  seine  Ämter  nieder  und  sollte  schon  abreisen, 
da  stürzte  er  sich  durch  eine  kleinliche  und  kindi- 
sche Eitelkeit  selbst  ins  Verderben. 

Er  hatte  um  seinen  Abschied  gebeten  und  war  in 
ehrenvollster  Weise  entlassen  worden.  Ostermann 
hatte  sogar  einen  Panegyrikus  auf  ihn  verfasst,  um  ihn 
nur  rasch  loszuwerden ;  er  war  bereits  unterzeichnet ; 
Münnich  jedoch  hatte  irgendwelche  Patente  gesehen, 
die  mit  Miniaturen  und  Trophäen  verziert  waren;  er 
verlangte,  seine  Demission  solle  in  gleicher  Weise 
adorniert  werden.  Er  kannte  die  zugunsten  Elisa- 
beths geplanten  Anschläge;  er  sah  die  Schwächen 
und  Eehler  der  Herrschaft  der  Regentin,  die  sich  weit 
weniger  um  die  Geschäfte,  als  um  ihr  Liebesabenteuer 
mit  dem  sächsischen  Minister  Grafen  Lynar  küm- 
merte und  um  ihre  häuslichen  Zwistigkeiten  mit  dem 
Prinzen,  ihrem  Gemahl;  im  übrigen  war  sie  sanft  und 
nachsichtig  und  zwar  so  sehr,  dass  sie  es  der  Prinzessin 
Elisabeth  mitteilte,  wenn  sie  vor  ihr  gewarnt  wurde, 
und  sich  mit  den  Beteuerungen  begnügte,  die  Elisa- 
beth zu  ihrer  Entschuldigung  vorbrachte.  Dies  al- 
les wusste  Münnich,  auch  prophezeite  er  alles,  was 
später  eintraf,  verzögerte  jedoch  seine  Abreise  um 
einige  Tage,  damit  noch  ein  bestimmter  türkischer 
Turban  und  ein  Lorbeerzweig  als  Verzierung  auf  sei- 
ner Demission  an  gebracht  würden.  Während  der  Maler 

23  o 


seinen  Wünschen  Rechnung  trug,  drängte  La  Ghetar- 
die,  der  Minister  Frankreichs,  Elisabeth  zu  dem  Ent- 
schluss,  Kaiserin  zu  werden,  denn  die  Regentin  neigte 
zu  Österreich,  und  er  selbst  glaubte,  als  einer  von 
Elisabeths  Amants  würde  Frankreich  durch  seine 
Person  eine  befreundete  russische  Kaiserin  erhalten. 
Trotz  allem  war  sie  doch  das  einzige  lebende  Kind 
Peters  des  Grossen,  sie  war  schön,  schmeichelte  den 
Russen  aller  Stände  und  war  freigebig  (soweit  ihr  da- 
mals bescheidenes  Vermögen  es  gestattete)  gegen  ihre 
zahlreichen  Amants,  von  denen  die  meisten  Soldaten 
der  Garde  oder  Geistliche  waren. 

Die  grosse  Masse  der  russischen  Nation  hasste  al- 
les, was  deutsch  war  oder  deutsch  zu  sein  schien, 
seit  Biron  und  Münnich  im  Namen  der  Kaiserin  und 
der  Prinzessin  Anna  mit  eisernem  Zepter  regiert 
hatten. 

Die  Prinzessin  Anna  selbst  war  in  Deutschland  ge- 
boren, ihr  Gatte  und  ihr  Amant  waren  Deutsche;  ihr 
ganzer  Hof  schien  jenem  Lande  zu  entstammen.  Der 
Kontrast  kam  Elisabeth  sehr  zu  Hilfe  und  bildete  ihr 
eine  Partei,  ohne  dass  sie  sich  besonders  hierum  be- 
mühte; sanft  und  zaghaft,  zögerte  sie  die  Ausführung 
des  Planes  ihrer  Freunde  hin.  Der  Anschlag  wurde  der 
Prinzessin-Regentin  Anna  hinterbracht  und  sie  ver- 
hörte Elisabeth  selbst;  Elisabeth  leugnete  alles  mit 
einem  Eid;  Anna  schien  ihr  Glauben  zu  schenken. 
Während  sie  jedoch  mit  Elisabeth  sprach,  schickte 
Ostermann,  der  seit  Münnichs  Demission  die  Ge- 
schäfte führte,  nach  Elisabeths  Chirurgen  Lestocq, 
ihrem  Vertrauensmann,  der  auch  ihr  Vertrauter  bei 
La  Chetardie  und  die  Seele  all  ihrer  Ratschläge  war. 

Dieser  Mann,  der  in  Deutschland,  jedoch  von  fran- 

23  I 


zösischen  Refugies  geboren  war,  galt  als  Franzose; 
kühn  und  Listig,  ging  er  nicht  zu  Ostermann,  sondern 
sagte  zu  seiner  Herrin,  die  ihm  ihre  Unterredung  mit 
der  Regentin  mitteilte: 

„Sie  müssen  einen  Entsehluss  fassen  und  noch  heute 
nacht  Kaiserin  werden,  oder  Sie  werden  morgen  ins 
Kloster  gesteckt  und  ich  werde  gerädert." 

Elisabeth  erstarrte  vor  Schreck  und  Ungewissheit; 
damals,  so  sagt  man,  legte  sie  das  Gelübde  ab,  nieman- 
den zu  Tode  zu  verurteilen,  sollte  sie  auf  den  Thron 
gelangen.  Lestocq  riss  sie  beinahe  mit  Gewalt  von 
ihrem  Betstuhl  empor,  brachte  sie  zu  einem  Schlitten, 
fuhr  mit  ihr  nach  der  Kaserne  der  Garden  und  von 
dort  ins  Schloss. 

Münnich  hatte  das  Kommando  schon  abgegeben 
und  wachte  nicht  mehr;  Ostermann,  mit  seiner  Ver- 
anlagung fürs  Kabinett,  kümmerte  sich  nicht  um  das 
Militär,  und  die  Soldaten  liebten  nicht  ihren  Gene- 
ralissimus, den  Gemahl  der  Regentin;  so  kam  es,  dass 
Elisabeth  noch  vor  Tagesanbruch  Kaiserin  wurde, 
ebenso  leicht,  wie  Anna  Regentin  geworden  war. 
ihrem  Gelübde  getreu  liess  sie  jene,  die  sie  deplacierte, 
nicht  hinrichten;  jedoch  verbannte  sie  Münnich  nach 
demselben  Ort,  wohin  er  Biron  verbannt  hatte;  Oster- 
mann wurde  ein  weniger  strenges  Exil  zugewiesen ;  die 
Prinzessin  Anna  wurde  mit  ihrem  Gatten  und  ihrem 
Sohn  bis  nach  Riga  gebracht,  als  beabsichtigte  man  sie 
nach  Deutschland  zurückzuschicken,  nach  einigen  Mo- 
naten jedoch  wurde  der  Sohn  nach  Schlüsselburg  ge- 
bracht, das  er  nicht  mehr  verlassen  sollte,  die  Mutter 
wurde  nach  einem  Ort  in  der  Nähe  von  Moskau  ver- 
bannt, wo  sie  starb,  nachdem  sie  noch  anderen  Kin- 
dern das  Leben  geschenkt  hatte;  der  Aufenthalt  ihres 

232 


Gemahls  Dach  ihrem  Tode  blieb  unbekannt1).  Ein 
Jahr  später  wurden  zwei  Damen  der  höchsten  Kreise, 
eine  Bestuschew,  Schwägerin  des  Kanzlers  Bestuschew 
(den  Elisabeth  aus  der  Verbannung  zurückholen  liess), 
und  eine  Lopuchin  mit  Knuten  gepeitscht  und  es  wur- 
den ihnen  auf  dem  Blutgerüst  die  Zungen  abgeschnit- 
ten; sogar  Lestocq  wurde  bald  darauf  nach  Sibirien 
geschickt2). 

Ich  habe  allerlei  mehr  oder  weniger  stichhaltige 
Gründe  für  diese  strengen  Strafen  vorbringen  ge- 
hört; die  meisten  führten  sie  jedoch  auf  böswilliges 
Geschwätz  zurück. 

Wie  dem  auch  sei,  nach  Anna  Iwanownas  Blut- 
regierung erschien  die  Regierung  Elisabeths  den  Rus- 
sen als  eine  Herrschaft  der  Milde.  Tausend  kleine 
Quälereien,  deren  Ursache  die  weibliche  Eifersucht 
war,  die  sich  bei  ihr  manchmal  zu  unglaublichem 
Masse  steigerte,  brachten  in  Wirklichkeit  einer  Reihe 
von  Personen  sehr  empfindliche  Demütigungen,  Miss- 
geschieke  und  Vermögensverluste,  jedoch  starb  man 
nicht  daran ;  indes  die  grosse  Elisabeth  von  England  be- 
schuldigt wird,  den  Tod  einer  Königin  verursacht  zu 
haben,  weil  sie  an  Schönheit  von  ihr  übertroffen  wurde. 

In  der  Physiognomie  Elisabeths  von  Russland  war 
jene  ihres  Vaters  wiederzufinden,  wie  sie  in  der  Pe- 

*)  Die  Prinzessin  Anna  starb  im  Jahre  1746-  Ihr  Sohn  Iwan 
wurde  1  766  nach  Schlüsselburg  gebracht  und  dort  1764  er- 
mordet. Ihr  Gemahl  Prinz  Anton  Ulrich  von  Braunschweig- 
Bevern  lebte  bis  zum  Jahre  1776.  Nach  seinem  Tode  wurden 
seine  vier  Töchter  nach  Jutland  geschickt.  Anm.  d.  Herausg. 
2)  Im  Jahre  1 748  wurde  er  festgenommen,  gefoltert  und 
hierauf  nach  Sibirien  verbannt.  Peter  III.  gestattete  ihm  im 
Jahre  1762  zurückzukehren.   Anm.  d.  Herausg. 

2  33 


tersburger  Akademie  auf  dem  Wachsabdruek  des  Ge- 
sichts  dieses  Fürsten  zu  sehen  ist;  mit  dem  Unter- 
schied, dass  die  Grösse  der  Gesichtszüge  Peters  f.  zu 
jener  des  ganzen  Hauptes  proportioniert  war,  wäh- 
rend seine  Tochter  mit  Ausnahme  der  Augen  lauter 
zarte  Züge  hatte  in  einem  Gesicht,  dessen  Umrisse 
um  so  grösser  erschienen,  als  sie  eine  ungemein  hohe 
Stirn  hatte  und  ihr  Haaransatz  erst  an  der  Spitze  des 
Kopfes  begann,  [hr  Haar  hatte  einen  rötlichen  An- 
flug; der  Abstand  von  ihren  Schultern  bis  zur  Brust- 
mitte war  ungeheuerlich;  doch  trotz  all  dieser  Män- 
gel war  sie  eine  Frau,  die  gefallen  konnte  und  die 
sehr  gefallen  hat.  Sie  hatte  grosse,  schöne  Augen,  eine 
kleine  Nase,  einen  winzigen  Mund  mit  schönen  Zäh- 
nen; einen  straffen  und  sehr  weissen  Körper;  die  Hände 
so  zart  und  so  vollkommen,  dass  sie  zu  einem  Körper 
von  solcher  Fülle  nicht  zu  passen  schienen.  Sie  war 
jedoch  hurtig  und  gewandt,  sowohl  zu  Fuss  als  auch 
zu  Pferde,  und  ich  habe  sie  noch  mit  wirklicher  No- 
blesse und  viel  Grazie  Menuett  tanzen  gesehen. 

Sie  kleidete  und  frisierte  sich,  vor  allem  an  Gala- 
tagen, in  einer  ganz  besonderen,  nur  ihr  eigenen  Art, 
die  jedoch  dazu  beitrug,  den  Zauber  noch  zu  er- 
höhen, der  von  ihrem  Körper  und  ihrem  Geist  aus- 
strahlte und  sie  zum  imposantesten  Objekt  ihres  Hofes 
machte. 

Am  vorteilhaftesten  präsentierte  sie  sich  enfoce,  das 
Profil  war  ihr  weit  weniger  günstig;  wenn  man  sie 
von  der  Seite  betrachtete,  musste  man  über  die  Wöl- 
bungen des  üppigen  Busens  und  der  vorspringenden 
Stirn  staunen. 

Zur  Zeit  als  sie  den  Thron  bestieg,  war  ihr  der  liebste 
ihrer  Amants  ein  Sänger  ihrer  Kapelle,  ein  gebürtiger 


Ukraiuer.  Als  sie  zu  ihrer  Proklamation  ging,  schloss 
sie  ihn  ein,  um  ihn  keiner  Gefahr  auszusetzen.  Zur 
Kaiserin  erhoben,  überschüttete  sie  ihn  mit  Orden, 
machte  ihn  zum  Feldmarschall,  Hess  sich  heimlich 
mit  ihm  trauen,  ^ab  ihm  hierauf  manchen  Stellver- 
treter,  behielt  ihn  jedoch  stets  in  Ehren  an  ihrer  Seite; 
man  nannte  ihn  Graf  Alexe)  Grigorjewitsch  Razti- 
mowski1). 

Ein  Mann  von  mächtigem  Körperbau,  mit  breiten 
Schultern,  einem  schönen  Gesicht,  worin  sich  gleich- 
wie in  seiner  ganzen  Erscheinung  sein  seelisches 
Wesen  spiegelte,  er  war  sanft,  friedlich,  ungemein 
träge,  es  mangelte  ihm  jedoch  durchaus  nicht  an 
Vernunft. 

Oft  versuchte  man  ihn  vor  den  neuen  Neigungen 
der  Kaiserin  zu  warnen.  Seine  Antwort  (wenn  er  über- 
haupt eine  Antwort  gab)  war  gewöhnlich  die  gleiche: 
„Sie  soll  sich  nur  zerstreuen";  und  wenn  man  ihn 
benachrichtigte,  dass  einer  der  Begünstigten  der  Kai- 
serin irgendwie  untreu  wurde,  tat  er  manchmal  so, 
als  hätte  er  die  Sache  schon  lange  vorher  gewusst, 
fügte  jedoch  nie  jemandem  etwas  Böses  zu.  Ein  ein- 
ziges Mal  wurde  er  zornig,  und  zwar  so  zornig,  dass 
er  im  Vorzimmer  der  Kaiserin  sein  Jagdmesser  zückte, 
um  den  Grafen  Peter  Schuwalow  zu  erstechen,  den 
diensttuenden  Kammerherrn,  der  —  wie  es  ihm 
schien  —  ihn  mit  Redensarten  an  der  Tür  aufhalten 
wollte,  indes  —  wie  er  glaubte  —  die  Kaiserin  in  je- 
nem Augenblick  sich  mit  dem  Grafen  Panin  belustigte, 
den  man  später  zum  Premierminister  von  Russland 
emporsteigen  sah.  Peter  Schuwalow  lief  davon,  Razu- 

r)  Alexej  Grigorjewitsch  Graf  liazumowski  (1709 — 1771)» 
Generalfeldmarschall  und  Oberjägermeister.  Anm.  d.  Herausg. 

235 


mowski  steckte  das  Messer  in  die  Scheide;  die  Höf- 
linge hielten  ihn  für  verloren;  er  ging  ruhig  aufsein 
Zimmer,  das  er  trotz  der  drängenden  Bitten  seiner 
Freunde  nicht  verlassen  wollte,  auch  wollte  er  kei- 
nen Schritt  bei  der  Kaiserin  unternehmen.  Nach  zwei 
Tagen  kam  die  Kaiserin  selbst  auf  sein  Zimmer, 
schleifte  denselben  Peter  Schuwalow  am  Haarschopf 
herbei,  der  auf  den  Knien  rutschend  sich  noch  de- 
mütig vor  ihm  entschuldigte.  Razumowski  sagte  zu 
ihm:  „Ich  verzeihe  dir,  wie  Jesus  Christus  seinen 
Feinden  verzieh,"  und  im  kaiserlichen  Palast  herrschte 
wieder  Friede. 

Während  der  ganzen  Regierungszeit  Elisabeths  wa- 
ren an  ihrem  Hofe  ebensosehr  die  Sprache  und  die 
Praktiken  der  Devotion  üblich  wie  jene  der  Galante- 
rie; sie  fastete  und  liess  auch  die  anderen  streng  fasten. 

Was  Panin1)  anlangt,  so  war  er  an  der  Tür  ihres 
Badezimmers  eingeschlafen,  anstatt  einzutreten,  wie 
sie  es  von  ihm  erwartete;  nach  beendetem  Bad  gab 
sie  den  Befehl,  seinen  Schlaf  nicht  zu  stören,  ihm  je- 
doch beim  Erwachen  mitzuteilen,  dass  er  zum  Minister 
in  Schweden  ernannt  worden  sei;  er  blieb  es  vierzehn 
Jahre  hindurch,  bis  zu  jener  Zeit,  wo  er  zum  Gouver- 
neur des  Grossfürsten  Paul  Petrowitsch  ernannt  wurde. 

Der  jüngere  Bruder  -)  des  Grafen  Aiexej  Razumowski 
wurde  aus  der  Ukraina  herbeigerufen,  um  am  Glücke 
des  älteren  teilzuhaben.  Er  war  gross,  schön  und  stark, 
achtzehnjährig.  Man  begann  ihn  im  Lesen  zu  unter- 
weisen, da  er  jedoch  seinem  Bruder  an  Faulheit 
nicht  nachstand,    legte    er  sich  im  Garten   auf  den. 

;)  Nikita  Iwanowitsch  Panin,  1718 — 1783. 

')  Cyrill  Grigorjewitsch  Graf  Razumowski,  1728 — i8u3,  Het- 

man  von  Kleinrussland.    Anrn.  d.  Herausg. 

286 


Bauch,  um  das  Alphabet  zu  lernen.  Als  er  etwas 
schreiben  konnte,  schickte  man  ihn  nach  Berlin,  wo 
sein  Mentor,  ein  gewisser  Teplow,  eine  Krank- 
heit erwischte,  vor  der  er  seinen  Schüler  hatte  be- 
wahren sollen;  dieser  selbst  wurde  Freimaurer,  zum 
grossen  Skandal  der  frommen  Russen;  diese  verstän- 
digten die  Kaiserin,  welche  ihn  in  dem  Augenblick, 
als  er  nach  Frankreich  zu  gehen  gedachte,  nach  Russ- 
land zurückkehren  Hess.  Während  der  wenigen  Mo- 
nate, die  er  in  Berlin  verbrachte,  lernte  er  Franzö- 
sisch und  zwar  viel  besser,  als  die  meisten  seiner  Lands- 
leute, und  diese  Zeit  genügte,  um  seinem  Gedächtnis 
Tausende  von  französischen  und  italienischen  Liedern 
einzuprägen,  die  seine  schöne  Stimme  und  seine  gute 
Laune  zeit  seines  Lebens  vortrefflich  zu  verwenden 
wussten.  Man  ernannte  ihn  zum  Hetman  der  Kosaken 
mit  dem  Rang  eines  Feldmarschalls,  zum  Komman- 
danten der  Ismajlowskischen  Garden  und  schliesslich 
zum  Präsidenten  der  Akademie.  Er  scherzte  selbst  über 
die  letzte  seiner  Würden,  und  als  die  Kaiserin  ihm  den 
Oberbefehl  über  ihre  Armee  im  Krieg  gegen  den  Kö- 
nig von  Preussen  anbot,  fragte  er  sie:  „ob  sie  fest  ent- 
schlossen sei,  ihrer  Armee  den  Untergang  zu  bereiten* . 
Er  war  ein  Original,  ein  Bonvivant,  ungemein  ko- 
misch, wie  junge  Elefanten  es  sind,  denen  er  an 
Körperwuchs,  Kraft  und  Langsamkeit  beinahe  glich. 
Trotz  der  grossen  persönlichen  Anhänglichkeit  für  die 
heutige  Kaiserin  Katharina  II.  hat  er  es  gewagt,  ihr  in 
einem  gewissen  sehr  delikaten  Fall  entgegenzutreten, 
da  die  Ehre  des  Staates  es  zu  erfordern  schien,  ob- 
gleich er  selbst  dabei  viel  riskierte.  Er  ist  der  Mann 
in  Russland,  mit  dem  ich  am  meisten  liiert  war  und 
dem  ich  die  meiste  Freundschaft  bewahrt  habe. 

o 
2  Dl 


Obgleich  sehr  phlegmatisch,  war  er  es  doch  nicht  in 
dem  Masse  wie  sein  Bruder  bezüglich  der  Gunst,  die 
Iwan  Iwanowitsch  Schuwalow  l)  genoss  (und  die  mir 
in  ihrer  Blüte  zu  stehen  schien),  —  ein  Vetter  des  oben 
erwähnten  Peter  Schuwalow2),  —  der  vor  kurzem 
vom  Pagen  zum  Kammerherrn  avanciert  war  und  den 
der  Kanzler  Bestuschew  Monsieur  Pompadour  nannte. 

Bestuschew  hatte  die  Kaiserin  Elisabeth  veranlassen 
wollen,  ihre  Verehelichung  mit  Razumowski  öffent- 
lich bekannt  zu  geben,  um  dem  Reich  die  Thronfolge 
in  ihren  Kindern  zu  sichern.  Er  verfolgte  hierbei  ein 
doppeltes  Ziel:  er  wollte  sich  die  Dankbarkeit  des  da- 
mals allmächtigen  Razumowski  sichern  und  den  Prin- 
zen von  Holstein  vom  Thron  entfernen,  dessen  per- 
sönliche Eigenschaften  nichts  Gutes  für  das  Reich 
voraussehen  Hessen  und  dessen  Abstammung  —  als 
Sohn  der  ältesten  Tochter  Peters  I.  —  den  Grund  zu 
neuen  Revolutionen  abgeben  konnte. 

Die  Kaiserin  jedoch  folgte  nicht  Bestuschews  küh- 
nem Ratschlag,  sei  es  aus  Mangel  an  Mut,  sei  es  aus 
Gerechtigkeitsgefühl,  im  Glauben,  der  Thron  gebühre 
ihrem  Neffen. 

Da  sie  aber  nicht  wollte,  dass  er  noch  zu  ihren 
Lebzeiten  auf  den  Thron  gelangte,  liess  sie  ihm  an- 
scheinend aus  diesem  Grunde  eine  so  schlechte  Er- 
ziehung zuteil  werden,  umgab  ihn  mit  einer  schlech- 
ten Gesellschaft  und  trug  stets  ein  Misstrauen  gegen 

')  Iwan  Iwanowitsch  Graf  Schuwalow,  1727 — 1798,  Oberst- 
kiimmerer,  gründete  1755  die  Universität  in  Moskau,  1758 
die  Akademie  der  Künste  in  Petersburg. 

2)  Peter  Iwanowitsch  Graf  Schuwalow,  171  1  —  1762,  ein  Vet- 
ter des  vorigen,  wurde  von  Peter  III.  zum  Reichsfeldmarschall 
erhoben.   Anm.  d.  Herausg. 

238 


ihn  zur  Schau,   trotzdem    sie   ihm   ihre  Verachtung 
nicht  verhehlen  konnte. 

Seine  Grossmutter  war  die  Schwester  Karls  XII., 
seine  Mutter  die  Tochter  Peters  des  Grossen,  und 
dennoch  hatte  die  Natur  nur  einen  Feigling  aus  ihm 
gemacht,  einen  Prasser  und  eine  so  komische  Persön- 
lichkeit, dass  man  hei  seinem  Anblick  nicht  umhin 
konnte  sich  zu  sagen:  „Sieh  da!  der  arlechino  jinto 
principe. " 

Man  muss  annehmen,  dass  seine  Amme  und  all 
seine  ersten  Erzieher  in  seinem  eigenen  Lande  Preus- 
sen  waren  oder  vom  König  von  Preussen  bestochen, 
denn  von  Kindheit  an  erfüllte  ihn  eine  solch  ausser- 
ordentliche und  geradezu  lächerliche  Verehrung  und 
Zärtlichkeit  für  diesen  Fürsten,  dass  diese  Leidenschaft 
(denn  es  war  wirklich  eine  Leidenschaft)  sogar  den 
König  von  Preussen  zu  dem  Ausspruch  veranlasste: 

„  Ich  bin  seine  Dulcinea.  Er  hat  mich  nie  gesehen,  und 
doch  hat  er  sich  in  mich  verliebt  wie  Don  Quichotte.' 

Er  war  zwölf  oder  dreizehn  Jahre  alt,  als  Elisabeth 
ihn  nach  Russland  kommen,  zur  griechischen  Reli- 
gion übertreten  liess  und  ihn  zu  ihrem  Nachfolger 
erklärte.  Er  bewahrte  jedoch  stets  eine  starke  Neigung 
zum  Luthertum,  in  dem  er  auferzogen  war,  einen 
sehr  hohen  Begriff  von  der  Wichtigkeit  seines  hol- 
steinischen Staates  und  die  Überzeugung,  dass  die 
Truppen,  die  er  dort  besass  und  an  deren  Spitze  er  — 
wie  er  behauptete  —  ich  weiss  nicht  wie  viele  sieg- 
reiche Kriege  geführt,  nach  den  preussischen  Trup- 
pen die  besten  der  Welt  seien  und  weit  tüchtiger  als 
die  russischen. 

Eines  Tages  sagte  er  zum  Fürsten  Esterhazy,  dem 
Gesandten  des  Wiener  Hofes  am  Hofe  seiner  Tante: 


23c 


9 


„Wie  können  Sie  sich  einen  Erfolg  gegen  den  Kö- 
nig von  Preussen  versprechen,  da  doch  Ihre  Truppen 
nicht  einmal  mit  den  meinigen  verglichen  werden 
können  und  ich  selbst  zugeben  muss,  dass  meine  Sol- 
daten an  Tüchtigkeit  den  preussischen  nachstehen!" 

Und  zu  mir  sagte  er  in  einer  dieser  Herzensauf- 
wallungen, mit  denen  er  mich  ziemlich  oft  beehrte: 

„Begreifen  Sie,  wie  unglücklich  ich  bin!  Ich  sollte 
in  den  Dienst  des  Königs  von  Preussen  treten;  ich 
hätte  ihm  mit  meinem  ganzen  Eifer  und  all  meinen 
Kräften  gedient;  ich  kann  wohl  sagen,  dass  ich 
heute  schon  im  Besitz  eines  Regiments  wäre,  den 
Rang  eines  Generalmajors  und  vielleicht  sogar  den 
eines  Generalleutnants  bekleiden  würde.  Aber  nein, 
da  haben  sie  mich  hierhergebracht,  damit  ich  Gross- 
fürst dieses  verfluchten  Landes  werde." 

Dann  lästerte  er  über  die  russische  Nation  in  der 
ihm  eigenen  niedrig-grotesken  Ausdrucksweise,  je- 
doch manchmal  wirklich  sehr  witzig,  denn  es  man- 
gelte ihm  nicht  an  einer  gewissen  Art  von  Geist;  er 
war  nicht  dumm,  aber  verrückt,  und  da  er  sehr  zu 
trinken  liebte,  trug  er  hierdurch  zur  völligen  Zer- 
rüttung seines  geringen  ursprünglichen  Verstandes 
bei.  Auch  rauchte  er  gewohnheitsmässig  Tabak,  war 
von  sehr  hagerer  und  kümmerlicher  Gestalt,  trug 
meistens  eine  holsteinische  Uniform  und  nur  selten 
die  gewöhnliche  Tracht,  war  jedoch  stets  so  lächer- 
lich und  so  geschmacklos  angezogen,  dass  er  entwe- 
der wie  ein  Capitano  aussah  oder  wie  ein  Stutzer  der 
italienischen  Komödie. 

Das  war  der  Präsumptiv-Erbe,  den  Elisabeth  sich 
erwählt  hatte. 

Er  war  stets  der  Gegenstand  des  Spottes  seiner  künf- 

24o 


Grossfürstin  Katharina 

(von  Rotari  um  1738) 

(Original  im  Herzogl.  Anhalt.  Schlosse  Zeihst) 


tigen  Untertanen,  manchmal  auch  der  düstersten  Pro- 
phezeiungen und  stets  das  Unglück  seiner  Frau,  die 
entweder  wegen  ihm  leiden  oder  üher  ihn  erröten 
musste.  In  seinem  Kopfe  verwechselte  er  alles,  was  er 
von  dem  verstorbenen  König  von  Preussen  (Grossva- 
ter des  heute  lebenden,  also  jenem,  den  Georg  II.  Kö- 
nig von  England,  sein  Schwager,  den  König  Korpo- 
ral nannte,  gehört  hatte,  mit  der  Vorstellung,  die  er 
sich  von  dem  heute  regierenden  König  von  Preussen 
machte.  Infolgedessen  glaubte  er,  dass  man  letzterem 
Unrecht  täte,  wenn  man  von  ihm  sagte,  er  zöge  die 
Bücher  der  Pfeife  vor,  und  vor  allem  wenn  man  er- 
zählte, er  mache  Verse.  Die  Grossfürstin  indessen 
konnte,  wie  so  viele  andere  Personen,  den  Geruch 
des  Tabakrauchs  nicht  vertragen,  auch  las  sie  viel; 
das  war  eine  der  hauptsächlichsten  Beschwerden  ih- 
res Mannes  über  sie. 

Des  ferneren  war  sie  zu  jener  Zeit  überzeugt,  das.«. 
der  Kanzler  Bestuschew  besser  wie  jeder  andere  die 
wirklichen  Interessen  Russlands  im  Auge  hatte,  und 
sie  begünstigte  damals  nicht  das  preussische  Svstem, 
vor  allem  jedoch  konnte  sie  nicht  die  Vergötterung 
ihres  Gemahls  für  den  König  von  Preussen  teilen 
noch  seine  extravaganten  Anschauungen  über  seine 
holsteinische  Macht.  Der  Grossfürst  hatte  sie  sogar 
damals  schon  im  Verdacht,  dass  sie  Bestuschews  Plan 
geneigt  sei,  er  solle  sich  seines  Herzogtums  Holstein 
völlig  entledigen,  damit  dieses  nicht  zu  einem  Han- 
nover Russlands  werde  (so  lautete  die  Redensart),  ei- 
ne Anspielung  auf  die  übertriebene  Vorliebe  Georgs  II., 
die  dieser  angeblich  für  jenes  Kurfürstentum  zum 
Schaden  Englands  hegte. 

Ich  war  nichts  weniger  als  ein  Preusse,  doch  sprach 

16   Poniatowski  'll\  I 


ich  deutsch,  passte  mich  dem  vom  Grossfürsten  be- 
vorzugten Konversationston  an  und  schien  sein  Ge- 
fallen gewonnen  zu  haben,  denn  er  lud  mich  ein,  zu- 
sammen mit  einem  gewissen  Grafen  Hörn,  einem 
Schweden,  der  im  Jahre  1756  nach  Russland  gekom- 
men war,  zwei  Tage  auf  seinem  Landsitz  Oranien- 
baum  zu  verbringen.  Hörn  war  ein  Anhänger  der 
Mützenpartei;  diese  hatte  kürzlich  eine  grosse  Schlap- 
pe erlitten,  denn  die  Konspiration,  deren  Haupt  Graf 
Brahe  war,  war  entdeckt  und  er  selbst  enthauptet 
worden 1). 

Hörn  hatte  bald  eingesehen,  dass  ausser  einigen 
Phrasen  des  Mitleids  für  seine  enthaupteten  Lands- 
leute und  dem  guten  Empfang,  den  man  ihm  per- 
sönlich bereitete,  am  russischen  Hof  für  seine  Partei 
nichts  Wesentliches  erreicht  werden  konnte;  an  der 
Spitze  seiner  Partei  stand  der  König  Adolph  von  Hol- 
stein2), den  man  trotz  seiner  Verwandtschaft  mit  dem 
Grossfürsten  gar  nicht  liebte;  man  kannte  auch  seine 
völlige  Abhängigkeit  von  seiner  Gattin,  der  Königin3), 
Schwester  des  Königs  von  Preussen,  die  im  Ruf  stand, 
ihre  Leidenschaften  und  ihre  Leichtfertigkeit  mach- 
ten ihren  Geist  entbehrlich. 

*)  Erich  Brahe  zettelte  im  Jahre  1756  eine  Verschwörung  an, 

welche  die  Erweiterung  der  königlichen  Macht  zum  Ziel  hatte. 

Die  wirkliche  Anstifterin  dieses  Staatsstreichs  war  die  Königin 

Luise  Ulrike. 

')  Adolph  Friedrich  von  Holstein-Gottorp,  seit    1751  König 

von  Schweden. 

3)  Luise  Ulrike,  1720 — 1782,  Tochter  Friedrich  Wilhelms  I. 

von   Preussen.   Sehr  herrschsüchtig,   arbeitete  sie  mit  Hilfe 

einer  Hofpartei  auf  eine  Erweiterung  der  königlichen  Rechte 

hin.  Anm.  d.  Herausg. 


Im  übrigen  ging  die  russische  Regierung  von  der 
Annahme  aus,  Schweden  wäre  für  seine  Nachharn 
um  so  weniger  gefährlich,  je  mehr  der  König  be- 
schränkt würde,  und  sie  bemühte  sich  natürlicher- 
weise alles  fernzuhalten,  was  eine  Vergrösserung  der 
königlichen  Gewalt  in  Schweden  herbeiführen  konnte. 
Russland  sah  voraus,  dass  der  schwedische  Hof  sich 
früher  oder  später  von  der  russischen  Partei,  welche 
die  Mützenpartei  genannt  wurde,  abwenden  und  der 
französischen  Partei  oder  Partei  der  Hüte  zuneigen 
würde,  von  der  bis  dahin  nur  die  persönlichen  Ab- 
neigungen der  Königin  ihn  fernehielten. 

Die  geradezu  kindliche  Abhängigkeit,  in  der  die 
Kaiserin  Elisabeth  ihren  Neffen  hielt,  erforderte,  dass 
er  um  eine  besondere  Erlaubnis  nachsuchte,  damit 
Hörn  und  ich  nach  Oranienbaum  kommen  konnten. 

Je  glücklicher  ich  war,  diese  zwei  Tage  dort  zu  ver- 
bringen, um  so  mehr  war  ich  augenscheinlich  der 
Wachsamkeit  der  Spione  ausgesetzt,  die  sich  die  Kaise- 
rin an  dem  jungen  Hofe  hielt.  Noch  nie  hatte  ich  mich 
mit  solcher  Leichtigkeit  der  Grossfürstin  nähern  und 
den  Charme  ihrer  Konversation  in  Gesellschaft  ge- 
messen können;  eines  Tages  fiel  das  Gespräch  unter 
anderm  auf  die  Memoiren  der  grande  Mademoiselle 
und  auf  die  von  ihr  verfassten  Porträts  am  Schluss 
ihrer  Memoiren.  Das  veranlasste  mich,  mein  Porträt 
zu  entwerfen,  das  die  Grossfürstin  haben  wollte.  Ich 
lasse  es  hier  folgen,  so  wie  ich  es  damals,  im  Jahre 
1756,  niederschrieb.  Im  Jahre  1 760  las  ich  es  wieder. 
Ich  will  die  wenigen  Zeilen,  die  jenes  Datum  tragen, 
hinzufügen.  In  der  Folge  dieser  Memoiren  werde  ich 
dem  Leser  ganz  aufrichtig  sagen,  welche  Verände- 
rungen die  Jahre  und  die  Zeitläufte  an  diesem  Porträt 

16*  243 


herbeigeführt,  wenigstens  so  weit,  als  es  einem  Men- 
schen möglich  ist,  sich  selbst  zu  kennen. 

„  Da  ich  so  viele  Porträts  gelesen  habe,  verspüre  ich 
Lust,  mein  eigenes  Porträt  zu  entwerfen.  Ich  wäre 
mit  meiner  Gestalt  zufrieden,  wenn  ich  um  einen  Zoll 
grösser  wäre,  schöner  geformte  Beine  hätte,  nicht 
diese  prononcierte  Adlernase,  weniger  Hüften,  einen 
schärferen  Blick  und  auffallendere  Zähne.  Nicht  dass 
ich  durch  diese  Korrektionen  mich  dann  sehr  schön 
finden  würde,  aber  mehr  würde  ich  nicht  begehren, 
denn  ich  finde  meine  Physiognomie  edel  und  sehr  aus- 
drucksvoll, meine  Gesten  und  meine  ganze  Haltung 
sind  vornehm  und  distinguiert  genug,  um  überall  die 
Aufmerksamkeit  auf  mich  zu  lenken.  Meine  Kurz- 
sichtigkeit verleiht  mir  oft  einen  etwas  verlegenen  und 
finsteren  Ausdruck;  das  hält  jedoch  nicht  an,  und  so- 
bald der  erste  Moment  vorbei  ist,  verfalle  ich  oft  in 
den  Fehler,  eine  zu  stolze  Haltung  einzunehmen.  Die 
ausgezeichnete  Erziehung,  die  ich  genossen,  war  mir 
behilflich,  die  Fehler  meiner  Gestalt  und  meines 
Geistes  zu  verwischen.  Ich  besitze  genug  Geist,  um 
jeder  Konversation  standzuhalten,  bin  jedoch  nicht 
fruchtbar  genug  an  Einfällen,  um  sie  längere  Zeit 
oder  oft  zu  führen,  es  sei  denn,  dass  mein  Gefühl 
grossen  Anteil  an  ihr  nimmt  oder  mein  sehr  lebhaft 
entwickelter  Sinn  für  alles,  was  zur  Kunst  Bezug  hat. 

„Ich  bemerke  rasch  das  Lächerliche  und  Falsche 
auf  jedem  Gebiet  und  die  Fehler  der  Menschen,  und 
oft  lasse  ich  es  sie  zu  rasch  fühlen.  Ich  hasse  jede 
schlechte  Gesellschaft  aus  Antipathie.  Eine  beträcht- 
liche Faulheit  hat  mich  verhindert,  meine  Talente 
und  meine  Kenntnisse  so  zu  erweitern,  wie  meine 
Fähigkeiten  es  gestattet  hätten.  Wenn  ich  arbeite,  so 

=44 


tue  ich  es  in  einer  Art  Inspiration;  ich  mache  sehr  viel 
auf  einmal,  oder  gar  nichts.  Ich  vertraue  mich  nicht 
'^'cht  jemandem  an  und  erscheine  dadurch  oft  ge- 
indter  als  ich  in  Wirklichkeit  bin.  Was  die  soge- 
annten  Geschäfte  anlangt,  so  gehe  ich  oft  zu  auf- 
richtig und  zu  eifrig  vor  und  schiesse  daher  manchen 
Bock.  Ich  habe  ein  gutes  Urteil,  finde  leicht  die  Fehler 
eines  Projektes  heraus  oder  desjenigen,  der  es  ausführt ; 
aber  ich  bedarf  der  Beratung  und  der  Zügel,  um  nicht 
selbst  in  Fehler  zu  verfallen.  Ich  bin  ausserordentlich 
empfindlich,  neige  jedoch  mehr  zur  Trauer  als  zur 
Freude  und  würde  mich  ersterer  zu  sehr  überlassen, 
lebte  nicht  in  meinem  Herzen  ein  Vorgefühl  eines 
grossen  künftigen  Glückes.  Ein  glühender  und  uner- 
messlicher  Ehrgeiz  ist  mir  angeboren  und  meine  Ideen 
über  verschiedene  Reformen  zum  Ruhm  und  Nutzen 
meines  Vaterlandes  bilden  den  Hintergrund  all  meiner 
Projekte  und  meines  ganzen  Lebens. 

„Ich  glaubte  mich  nicht  für  die  Frauen  geschaffen; 
meine  ersten  Versuche  galten  mir  bloss  als  eine  den 
Umständen  Rechnung  tragende  Notwendigkeit.  End- 
lich habe  ich  doch  die  zärtliche  Liebe  kennen  gelernt 
und  ich  liebe  mit  solcher  Leidenschaft,  dass  ich  fühle, 
ein  Umschlag  meines  Glückes  würde  mich  zum  un- 
glücklichsten Menschen  machen  und  mich  zur  Ver- 
zweiflungtreiben. Die  Pflichten  der  Freundschaft  sind 
mir  heilig  und  ich  gehe  darin  sehr  weit.  Wenn  mein 
Freund  mir  Unrecht  tut,  so  gibt  es  nichts  auf  der 
Welt,  was  ich  nicht  unternehmen  würde,  um  einen 
Bruch  zu  verhindern;  und  noch  lange,  nachdem  er 
mich  beleidigt  hat,  erinnere  ich  mich,  dass  ich  ihm 
manche  Erkenntlichkeit  schulde.  Ich  glaube,  ich  bin 
ein  sehr  guter  Freund.  Es  ist  wahr,  nur  mit  wenigen 

245 


Menschen  bin  ich  intim  befreundet,  obgleich  ich  für 
jedwedes  Gute,  das  mir  erwiesen  wird,  unendlich 
dankbar  bin.  Obgleich  ich  ungemein  rasch  die  Fehler 
meiner  Nächsten  erkenne,  neige  ich  sehr  zu  jeder  Ent- 
schuldigung, infolge  einer  oft  gemachten  Erwägung: 
wenn  man  sich  auch  für  noch  so  tugendhaft  hält,  ent- 
deckt man,  bei  einer  sehr  unparteiischen  Prüfung,  in 
sich  selbst  manchen  Keim  einer  schändlichen  Neigung 
zu  den  grössten  Verbrechen,  zu  deren  Entfaltuug 
vielleicht  eine  starke  Versuchung  genügen  würde,  wäre 
man  nicht  sehr  auf  seiner  Hut.  Ich  bin  freigebig,  ich 
hasse  den  schmutzigen  Geiz,  aber  ich  bin  nicht  im- 
stande meine  Habe  zu  verwalten.  Ich  wahre  meine 
eigenen  Geheimnisse  nicht  so  gut  wie  die  der  anderen, 
mit  denen  ich  sehr  gewissenhaft  umgehe.  Ich  bin  sehr 
mitfühlend.  Ich  habe  ein  so  starkes  Verlangen  nach 
Liebe  und  Beifall,  dass  meine  Eitelkeit  ins  Unermess- 
liche  wachsen  würde,  hätte  ich  nicht  solche  Furcht 
vor  der  Lächerlichkeit.  Ferner  lüge  ich  nicht,  sowohl 
aus  Prinzip  wie  aus  einer  angeborenen  Abneigung 
gegen  die  Falschheit.  Ich  bin  weit  davon  entfernt, 
devot  zu  sein,  aber  ich  wage  es  zu  sagen,  dass  ich 
Gott  liebe;  ich  wende  mich  oft  an  ihn,  und  ich  hege 
den  schmeichelhaften  Gedanken,  dass  er  es  liebt, 
Gutes  zu  tun,  wenn  wir  es  von  ihm  erbitten.  Ich  bin 
auch  so  glücklich,  meinen  Vater  und  meine  Mutter 
zu  lieben,  gleichsehr  aus  Neigung  wie  aus  Pflicht. 
Ich  wäre  nicht  fähig,  irgend  einen  Racheplan  auszu- 
führen, den  ich  im  ersten  Zorn  fasse;  ich  glaube,  das 
Mitleid  würde  siegen.  Man  verzeiht  ebensooft  aus 
einer  gewissen  Schwäche  wie  aus  Grösse,  und  ich 
fürchte,  dass  ich  aus  diesem  Grunde  eines  Tages  viele 
meiner  Pläne  unausgeführt  lassen  werde.  Ich  über- 

246 


lasse  mich  gerne  meinen  Gedanken  und  verfüge  über 
»enügend  Phantasie,  um  mich  allein  und  ohne  Buch 
nicht  zu  langweilen,  hauptsächlich  jedoch  seitdem  ich 
liebe  (1756)." 

„Ich  muss  jetzt  hinzufügen,  dass  ich  lange  Zeit  den 
gleichen  Zweck  verfolge  und  nach  genauer  Beobach- 
tung festgestellt  habe,  dass  ich  jetzt  weniger  gehässig 
bin,  seit  ich  diese  drei  Jahre  unter  verabscheuungs- 
würdigen  Menschen  verbringen  musste,  die  mich 
schrecklich  quälten.  Ich  weiss  nicht,  ob  meine  Dosis 
an  Hass  erschöpft  ist  oder  ob  es  mir  nur  immer  so 
vorkommt,  als  hätte  ich  schon  Schlimmeres  gesehen. 
Sollte  ich  jemals  glücklich  weiden,  möchte  ich,  dass 
auch  alle  anderen  es  seien,  damit  mir  niemand  mein 
Glück  missgönne  (1760)." 

Was  mein  Äusseres  betrifft,  so  glaube  ich,  dass  die 
t  reffendste  Ähnlichkeit  durch  Baciarelli  erreicht  wurde, 
auf  dem  Porträt  im  Krönungsornat,  das  im  sogenann- 
ten Marmorzimmer  im  Warschauer  Schlosse  hängt. 

Mein  Aufenthalt  in  Oranienbaum  brachte  auch 
eine  Vertiefung  der  Beziehungen  zwischen  der  Gross- 
fürstin und  Williams  herbei,  welche  zusammen  mit 
den  Beweisen  der  Freundschaft  und  mit  der  Unter- 
stützung, die  der  König  von  England  dieser  Prinzes- 
sin damals  zuteil  werden  liess,  nicht  wenig  zu  der  Vor- 
liebe beigetragen  hat,  die  sie  seither  ziemlich  bestän- 
dig England  zu  bewahren  schien  und  die  Frankreich 
manches  Mal  zu  fühlen  bekam,  obgleich  die  Geschichte 
Ludwigs  XIV.  auf  Katharinas  Geist  einen  tiefen  Ein- 
druck machte,  den  zu  bemerken  ich  oft  Gelegen- 
heit hatte,  so  dass  ich  mich  nicht  zu  täuschen  glaube, 
wenn  ich  sage,  die  gewisse  Nacheiferung,  ja  beinahe 
Rivalität  mit  dem  Ruhm  Ludwigs  XIV.,  die  von  Ka- 

247 


iharinas  Seele  Besitz  nahm,  bildete  das  wirkliche  Mo- 
tiv von  gar  manchen  ihrer  Schritte  und  Projekte. 

Die  Geschmacksrichtung,  worin  sie  Ludwig  XIV. 
am  wenigsten  gleicht,  ist  ihr  Hang  zur  Lektüre,  der 
jener  Fürst  gar  nicht  huldigte. 

Mir  wurde  das  Vergnügen  zuteil,  der  Grossfürstin 
als  erster  Voltaires  „Pucelle  cT Orleans"  zu  lesen  zu 
geben.  Williams  hatte  oft  die  begeisterten  Schilde- 
rungen von  Leuten  gehört,  die  dieses  Werk  im  Ma- 
nuskript gelesen  hatten,  als  es  viele  Jahre  ganz  geheim 
gehalten  werden  musste,  weil  der  Kardinal  de  Fleury 
die  schrecklichsten  Drohungen  gegen  den  Autor  ge- 
äussert hatte,  sollte  das  Werk  jemals  erscheinen.  Die 
Furcht,  die  diese  Drohungen  Voltaire  eingefiösst  hatten 
und  die  ihn  noch  dreizehn  oder  vierzehn  Jahre  nach 
dem  Tode  des  Kardinals  von  der  Veröffentlichung  ab- 
hielt, wich  endlich  der  Vaterliebe,  die  schliesslich  dem 
geliebten  Kinde  die  Freiheit  gab.  Als  ich  es  mit  einem 
Brief  meines  Vaters  bekam,  beendete  ich  gerade  ganz 
traurig  ein  Diner  mit  Williams,  der  sich  noch  nicht 
über  die  kürzlich  erfolgte  Einnahme  von  Mahon  durch 
den  Marschall  Richelieu  trösten  konnte1).  Ich  kün- 
digte ihm  die  Pucelle  wie  einen  Sieg  an;  er  brach  in 
einen  Freudenruf  aus;  ich  begann  zu  lesen  und  war 
so  entzückt,  dass  ich  um  neun  Uhr  abends  erst  auf- 
hörte, als  ich  das  ganze  Buch  in  einem  Zug  zu  Ende 
gelesen  hatte. 

Ich  amüsierte,  tröstete  und  diente  meinem  Freunde 
Williams  so  gut  ich  konnte;  früher  hatte  er  mich  un- 
terwiesen, jetzt  wurde  ich  ihm  nützlich.  Während 
seine  Gebrechen  und  die  Umstände  ihn  immer  mehr 
*)  Richelieu  nahm  den  Engländern  am  28.  Juni  1756  Port  Ma- 
hon auf  Minorka  ah.  Anm.  d.  Herausg. 

248 


an  sein  Zimmer  fesselten,  erweiterten  sich  meine 
Kenntnisse  und  meine  Verbindungen  mit  jedem  Tage. 
Ich  fing  an,  ziemlich  gut  Russisch  zu  sprechen,  wie 
nur  wenige  Fremde  sich  bis  dahin  darum  bemüht 
hatten;  es  wurde  mir  hoch  angerechnet  und  ver- 
schaffte mir  manchen  Zutritt,  den  ich  sonst  nie  er- 
langt hätte.  Auch  nützte  ich  eine  Beobachtung  aus, 
die  ich  damals  machte  und  deren  Richtigkeit  ich  seit- 
her oft  verifiziert  habe:  die  grossen  Geheimnisse  wer- 
den nie  vor  Mitternacht  verraten.  Derselbe  Mann, 
den  ich  morgens  ganz  zugeknöpft  fand,  dem  ich  den 
ganzen  Tag  um  den  Bart  ging  und  ihn  amüsierte, 
ohne  merken  zu  lassen,  dass  ich  ihn  ausfragen  wollte, 
entfaltete  sich  gegen  Abend  ganz  von  selbst,  wie  die 
Rose  von  Jericho;  zwischen  ein  und  zwei  Uhr  mor- 
gens stand  er  in  voller  Blüte;  bei  Morgenanbruch  ver- 
schluss er  sich  wieder. 

Die  Sonne  und  das  Geheimnis  passen  nicht  zuein- 
ander. So  habe  ich  denn  auch  im  Winter  viel  mehr 
von  den  Russen  erfahren,  als  während  ihres  Sommers, 
wo  sie  sechs  Wochen  lang  keine  Nacht  haben.  Ich 
konnte  damals  wachen;  die  Jugend  und  die  Gesund- 
heit sind  doch  zu  manchem  dienlich.  Auf  solche  Weise 
konnte  ich  Williams  manches  hinterbringen,  was  er 
ohne  mich  vielleicht  nie  erfahren  hätte.  Es  gelang 
mir  sogar  einmal,  eine  Idee  erfolgreich  zu  insinuieren, 
an  deren  Vorbringung  im  Rat  der  Kaiserin  Williams 
ein  Interesse  hatte.  Jener  Mann,  der  sie  vorbrachte, 
tat  es  im  Glauben,  er  sei  ihr  Urheber,  so  sehr  hatte 
ich  ihn  durch  meine  Reden  von  seinem  eigenen  Ver- 
dienst überzeugt. 

Inmitten  dieser  Beschäftigungen  erkrankte  ich  an 
Windpocken.    Für  Williams  war  das  kein  geringes 

249 


Unglück.  Nicht  nur,  dass  es  ihn  meiner  Tätigkeit  be- 
raubte, aber  bereits  der  geringste  Verdacht  von  Blat- 
tern trennte  die  Bewohner  eines  Hauses,  welches  da- 
von betroffen  war,  vierzig  Tage  lang  vom  Hofe. 
Es  ist  einer  der  bemerkenswerten  Züge  von  Katha- 
rinas Regierung,  dass  sie  im  vierzigsten  Lebensjahr 
als  erste  in  ihrem  ganzen  Reich  es  wagte,  sich  impfen 
zu  lassen,  und  erst  nach  diesem  wirklich  kühnen  und 
patriotischen  Versuch  liess  sie  ihren  Sohn  impfen,  und 
hierauf  wurde  dieser  Gebrauch  in  ganz  Russland 
üblich. 

Aber  Elisabeth  hielt  dies  noch  nicht  für  möglich 
oder  erlaubt.  Auch  bekämpften  abergläubische  Vor- 
urteile diese  Methode.  So  musste  man  denn  auf 
tausenderlei  Weise  meine  Krankheit  maskieren,  da- 
mit keine  Quarantäne  über  Williams  verhängt  wurde 
und  er  die  für  sein  Amt  unumgänglichen  Beziehun- 
gen aufrecht  erhalten  konnte.  Ich  genas  bald,  jedoch 
erst  nachdem  ich  mit  einem  Besuch  beehrt  wurde, 
der  mir  von  allen  am  meisten  schmeicheln  musste, 
dessen  Folgen  ich  jedoch  so  sehr  fürchtete,  dass  er 
wirklich  gegen  meinen  Willen  stattfand;  je  grösser 
ineine  Anhänglichkeit  hierdurch  wurde,  um  so  bitte- 
rer empfand  ich  die  Notwendigkeit  meiner  Abreise. 

Ich  konnte  mich  dem  Befehl  meiner  Eltern  nicht 
widersetzen;  sie  wollten,  dass  ich  Landbote  beim  dies- 
jährigen Reichstag  würde.  Die  Grossfürstin  bezwang 
sich  und  willigte  ein,  jedoch  mit  der  geheimen  Ab- 
sicht, nicht  nur  meine  Rückkehr  zu  sichern,  sondern 
mir  auch  eine  weniger  prekäre  Existenz  in  Petersburg 
zu  verschaffen,  die  mir  vor  allem  gestatten  sollte, 
mich  ihr  auch  in  der  Öffentlichkeit  zu  nähern. 

Ich   habe  weiter  oben  schon   gesagt,  auf  welche 

35o 


Weise  Bestuschew  diesen  Willen  der  Grossfürstin 
ausführte.  Um  mich  seiner  redlichen  Absichten  zu 
versichern,  schickte  er  einen  seiner  vertrauten  Sekre- 
täre, namens  Kanzler,  mit  seinem  Brief  an  den  Grafen 
Brühl  zu  mir,  und  Kanzler  versiegelte  diesen  Brief  vor 
meinen  Augen,  nachdem  ich  von  dessen  Inhalt  Kennt- 
nis genommen. 

Der  Zufall  wollte,  dass  Graf  Esterhazy,  der  Ge- 
sandte des  Wiener  Hofes,  an  jenem  Tage  Williams 
besuchte  und  hierauf  auch  in  mein  Zimmer  kam,  als 
er  sich  von  Williams  verabschiedet  hatte.  Ich  war  so 
unvorsichtig  gewesen,  meine  Zimmertür  nicht  zu  ver- 
riegeln; er  traf  Kanzler  bei  mir;  das  bestätigte  in  ihm 
den  Verdacht,  den  er  betreffs  meiner  Liaison  bereits 
hegte  (er  hat  es  mir  später  gestanden,  als  er  mein 
Freund  wurde);  wahrscheinlich  trug  dies  dazu  bei, 
dass  die  Öffentlichkeit  und  folglich  auch  Elisabeth 
über  mich  näher  unterrichtet  wurden. 

Wie  dem  auch  sei,  anfangs  August  reiste  ich  in 
Begleitung  des  Grafen  Hörn  ab,  von  dem  bereits  frü- 
her die  Rede  war.  Ich  kann  mich  nicht  mehr  entsin- 
nen, welche  Angelegenheit  ihn  veranlasste,  über  Riga 
nach  Schweden  heimzukehren. 

Da  wir  in  demselben  Hause  logierten,  befand  ich 
mich  am  Morgen  nach  unserer  Ankunft  in  seinem 
Zimmer,  als  man  mir  meldete,  ein  Offizier  wünsche 
mich  zu  sprechen.  Ich  Hess  ihn  eintreten.  Ein  kleiner 
unansehnlicher  Mann  trat  in  der  demütigsten  Hal- 
tung auf  mich  zu;  in  der  Hand  hielt  er  eine  geöffnete 
Schachtel,  in  der  Brillanten  aufblitzten;  er  stammelte 
ein  Kompliment,  das  ich  erst  verstand,  als  er  mir  einen 
Brief  des  Vizekanzlers  Woronzow  und  einen  anderen 
des    Kammerherrn    Iwan    Iwanowitsch    Schuwalow 

3  5  i 


übergab,  des  damaligen  Günstlings  Elisabeths,  worin 
mir  mitgeteilt  wurde,  dass  die  Fürstin  mich  mit  dem 
Geschenk  beehrte,  welches  dieser  Offizier  mir  über- 
geben sollte. 

Ich  erzähle  diese  kleinen  Details  um  zu  zeigen,  dass 
ich  durchaus  keine  Veranlassung  hatte,  mich  zu  be- 
unruhigen oder  gar  zu  erschrecken,  und  doch  ver- 
suchten jene,  die  mir  bei  Elisabeth  schaden  wollten, 
sie  glauben  zu  machen,  ich  sei  in  grösster  Bestürzung 
gewesen,  als  ich  den  russischen  Offizier  erblickte;  aus 
dieser  Bestürzung  folgerten  sie,  ich  hätte  Grund  zu 
Befürchtungen,  und  das  veranlasste  die  Kaiserin,  mit 
Bezug  auf  mich  das  russische  Sprichwort  zu  äussern : 
„znajet  koszka,  czje  miaso  jela",  das  heisst:  „die  Katze 
weiss,  wessen  Fleisch  sie  gefressen". 

Ich  beantwortete  die  beiden  Briefe,  wie  es  sich 
nach  dieser  Auszeichnung  gebührte,  welche  Personen 
gegenüber,  die  kein  öffentliches  Amt  bekleideten, 
wenig  gebräuchlich  war.  Dann  trennte  ich  mich  von 
meinem  Freunde  Hörn  mit  um  so  grösserem  Bedauern, 
als  er  in  Anbetracht  der  ganzen  Lage  seines  Landes 
und  seiner  Partei  manchen  Fährlichkeiten  ausgesetzt 
schien ;  ich  hatte  die  Genugtuung,  später  zu  erfahren, 
dass  es  ihm  glückte,  ihnen  zu  entrinnen. 


2^2 


ZWEITES     KAPITEL 

LIVLÄNDISCHER  LANDTAG.  —  FLEMMINGS  MAR- 
SCHALLSAMT. —  STRGPPEN.  —  DER  NICHT  ZU- 
STANDEGEKOMMENE REICHSTAG.  —  MEINE  MIS- 
SION. —  MEINE  COUSINE.  —  ARREISE.  PORTRÄT 
VON  OGRODZKI.  —  RIGA.  APRAXIN.  PETER  PA- 
NIN.  —  MEINE  ANSPRACHE.  —  RÜHRENDE 
WORTE  WILLIAMS'.  —  APRAXINS  VERHALTEN.  — 
UNGLÜCK  AUGUSTS  III.,  SACHSENS  UND  PO- 
LENS. —  DIE  VERSCHLECHTERUNG  DER  MÜN- 
ZEN IN  POLEN.  —  EIFER  DER  JUDEN  FÜR  DEN 
KÖNIG  VON  PREUSSEN. 


Ich  brach  also  nach  jenem  Teil  Livlands  auf,  der 
damals  noch  polnisch  war.  Zuerst  begab  ich  mich 
zu  einem  Bekannten  namens  Borch  *)  —  damals  Kam- 
merherr dieser  Woiwodschaft,  später  Grosskanzler  — 
auf  dessen  Besitzung  Warklany.  Mit  ihm  fuhr  ich  nach 
Dünaburg,  wo  laut  dem  Gesetz  der  Landtag  dieses 
Kreises  abgehalten  werden  musste;  der  dortige  Adel 
war  weit  weniger  zahlreich,  jedoch  im  allgemeinen 
wohlhabender  und  gesitteter,  als  ich  ihn  auf  anderen 
Landtagen  angetroffen,  und  er  rechnete  es  mir  hoch 
an,  dass  ich  persönlich  gekommen  war,  um  mich  um 
das  Landbotenamt  zu  bewerben,  was  seit  langem  kein 
Einwohner  der  Krone  und  nur  selten  ein  Litauer  ge- 
tan hatte.  Meine  Wahl  verlief  ohne  Schwierigkeiten 
und  ich  beeilte  meine  Abreise,  um  über  Wilno  nach 
Warschau  zurückzukehren. 

In  Wilno  traf  ich  Flemming,  den  Grossschatzmeister 
von  Litauen,  der  als  Marschall  am  Tribunal  fungierte 
und  dieses  Amt  nicht  nur  gerecht  aber  auch  so  vor- 
trefflich verwaltete,  dass  er  sich  die  Achtung  und 
Liebe  der  Einwohner  dieser  Provinz  gewann. 

Dies  war  um  so  bemerkenswerter,   als  Flemming 

')  Jan  Borch,  Kammerherr  von  Litauen,  wurde  1767  zum 
Unterkanzler,  1780  zum  Krongrosakanzler  ernannt.  Anm.  d. 
Herausg. 

254 


sehr  brüsk,  oft  sogar  derb  und  bizarr  bis  zur  Über- 
spanntheit war,  dabei  nur  schlecht  Polnisch  sprach, 
kein  anderes  Vergnügen  zu  kennen  schien,  als  das 
Kartenspiel  um  Groschen  und  gewohnheitsmässig 
geizige  Redensarten  im  Munde  führte,  —  und  doch 
verstand  er  es,  sich  den  wohlverdienten  Ruf  eines  ge- 
rechten und  damals  ziemlich  populären  Mannes  zu 
erwerben,  über  dessen  wunderliche  Laune  man  sich 
amüsierte;  er  war  dem  Lande  auch  durch  das  Beispiel 
seiner  guten  Landwirtschaft  nützlich,  das  vielfach  be- 
folgt wurde;  er  konnte  manchmal  auch  dienstfertig 
sein  für  jene,  die  es  verstanden  ihm  zu  gefallen;  mich 
liebte  er  damals,  denn  ich  belustigte  ihn  und,  was 
noch  mehr  zu  bedeuten  hatte,  ich  fand  grossen  Ge- 
fallen an  seiner  Originalität  und  seinen  Bonmots. 

Das  für  jedermann  beschwerliche  Amt  eines  Mar- 
schalls am  Tribunal  musste  fürFlemming  doppelt  be- 
schwerlich sein,  da  er  nach  einer  in  Frankreich  ver- 
brachten Jugend  bei  uns  stets  als  Fremder  ange- 
sehen wurde  und  seine  Neigungen  und  sein  Wesen 
einer  solchen  Beschäftigung  gerade  entgegengesetzt 
schienen.  Er  hatte  es  nur  deshalb  übernommen,  um 
in  Litauen  der  Partei  des  Fürsten  Czartoryski  empor- 
zuhelfen, dessen  Schwiegersohn  er  zweimal  wurde, 
noch  mehr  jedoch  aus  dem  Grunde,  um  den  wirklich 
zügellosen  Lauf  der  barbarischen  Grausamkeiten  auf- 
zuhalten, welche  die  Anhänger  des  Hauses  RadziwiW 
seit  einigen  Jahren  verübten,  vor  allem  seit  der  Sohn 
des  Grosshetmans  und  Woiwoden  von  Wilno,  dessen 
Porträt  ich  weiter  oben  entworfen  habe,  das  Mar- 
schallsamt in  wirklich  skandalöser  Weise  ausgeübt 
hatte.  Was  man  damals  in  Litauen  zu  sehen  bekam, 
erinnerte  an  das  Bild,  das  man  vor  Augen  hat,  wenn 

255 


man  die  Geschichte  Schottlands  vor  seiner-  Vereini- 
gung mit  England  liest. 

Die  einjährige  Gerichtsverwaltung  Flemmings 
schuf  viel  Gutes,  doch  war  es  vergänglich,  da  sie  bald 
einem  Tribunal  der  Radziwills  Platz  machte  und 
neuen  Missbräuchen,  die  noch  schlimmer  waren  als 
alle  vorhergehenden,  und  nur  die  Überzeugung  der 
Notwendigkeit  einer  Reform  herbeiführte,  die  von 
Dauer  wäre.  Den  Effekt  werden  wir  in  der  Folge 
dieser  Memoiren  kennen  lernen. 

Wie  gross  war  jedoch  mein  Erstaunen  bei  meiner 
Ankunft  in  Warschau,  Ende  August  1736,  als  ich  er- 
fuhr, dass  der  König  von  Preussen  losgeschlagen  hatte 
und  dass  unser  König  August  III.,  Kurfürst  von  Sach- 
sen, und  seine  ganze  Armee  im  Lager  von  Struppen 
bereits  umzingelt  waren. 

Da  dieses  Ereignis  die  Ankunft  unseres  Königs  in 
Polen  verzögerte  und  der  zur  Eröffnung  des  Reichstags 
bestimmte  Termin  verstrich,  fand  er  gar  nicht  statt. 

Gross  war  mein  Redauern,  dass  ich  Petersburg  ver- 
lassen hatte,  um  mir  in  Dünaburg  ein  Mandat  zu  holen, 
das  nun  hinfällig  wurde! 

Und  gross  waren  meine  Resorgnisse,  als  ich  alles 
so  verändert  sah,  dass  ich  nicht  einmal  hoffen  konnte, 
als  Freund,  oder  wenigstens  als  politischer  Freund  des 
Chevaliers  Williams  nach  Russland  zurückzukehren. 
Und  doch  war  es  mein  grösster  Wunsch,  der  heftigste, 
den  ich  je  verspürt. 

Es  musste  also  bedacht  werden,  wie  ich  mit  einem 
Auftrag  des  Königs  von  Polen  wieder  hinkommen 
konnte,  um  seine  Sache  dort  zu  führen  und  von  Russ- 
land Hilfe  gegen  den  König  von  Preussen  zu  erbitten. 
Aber  welche  Hindernisse  waren  da  noch  zu  bewältigen ! 

256 


Meine  Familie  stand  seit  der  Ostrog-Affäre  bei  Hofe 
schlecht  angeschrieben.  Diesem  Übelwollen  konnte 
ich  den  dringenden  Brief  Bestuschews  entgegenstellen, 
dem  Brühl  entnehmen  musste,  inwieweit  ich  den  In- 
teressen Sachsens  dienen  konnte. 

Brühl  jedoch  musste  die  gegen  mich  und  meinen 
Anhang  gerichtete  Animosität  Mniszechs  und  jener 
Hälfte  von  Polen,  die  zu  ihm  hielt,  bekämpfen,  die 
Brühl  zu  verletzen  fürchtete,  kaum  dass  er  sie  für 
sich  gewonnen.  Ausserdem  durfte  der  König,  laut 
dem  Gesetz,  einen  Minister  für  Polen  nur  durch  ein 
Senat us  consilium  ernennen,  und  im  gegenwärtigen 
Augenblick  schien  es  misslich,  eines  einzuberufen, 
weil  der  allgemeine  Aufruhr,  den  der  König  von 
Preussen  in  ganz  Europa  verursachte,  auch  in  Po- 
len zu  wirken  begann;  doch  selbst  wenn  dieses  Se- 
natus  consilium  mir  günstig  gesinnt  wäre,  könnte  es 
mich  doch  zu  nichts  autorisieren,  was  Sachsen  beti*af, 
es  sei  denn,  dass  die  auf  einem  Landtag  oder  in  einer 
Konföderation  vereinte  Republik  erklärte,  sie  wolle 
—  in  den  sächsischen  Angelegenheiten  —  mit  dem 
König  gemeinsame  Sache  machen;  doch  von  einer 
solchen  Piesolution  war  die  polnische  Nation  weit 
entfernt. 

Blieb  der  einzige  Ausweg,  dass  der  König  als  Kur- 
fürst von  Sachsen  mich  zu  seinem  Minister  in  Russ- 
land ernannte,  da  es  dem  sächsischen  Kurfürsten  frei- 
stand, sich  der  Dienste  irgend  eines  Menschen,  ohne 
Rücksicht  auf  dessen  Nationalität,  zu  bedienen  und 
jeder  Pole  einem  fremden  Fürsten  dienen  durfte.  Mein 
Vater  selbst  war  nach  dem  Tode  Kaiser  Karls  IV.  von 
August  III.  mit  der  Vertretung  seiner  Interessen  in 
Frankreich  beauftragt  worden.  Er  trat  dort  zwar  nicht 

i  7   Poniatowski  2  3  7 


in  seiner  offiziellen  Rolle  auf,  sein  Akkreditiv  stammte 
jedoch  aus  dem  sächsischen  Kabinett. 

Man  entschloss  sich  also  zu  diesem  Ausweg;  den- 
noch meinte  meine  Familie,  um  meiner  Mission  mehr 
Relief  zu  geben  sei  es  nötig,  mir  unter  litauischem 
Siegel  eine  Art  Instruktion  betreffs  der  zwischen 
Polen  und  Russland  schwebenden  Angelegenheiten 
zu  verschaffen.  Mein  Oheim,  der  Kanzler,  nahm  die 
Gesetzmässigkeit  dieses  Schrittes  auf  sich. 

Jetzt  musste  man  nur  noch  für  die  Kosten  dieser 
Mission  Sorge  tragen.  August  III.,  der  all  seiner  säch- 
sischen Einkünfte  beraubt  war,  verfügte  in  dieser  un- 
seligen Lage  nur  über  seine  Einkünfte  aus  Polen  zur 
Bestreitung  der  unumgänglichen  Kosten  seines  Le- 
bensunterhalts; für  die  Kosten  meiner  Legation  blieb 
ihm  nichts  übrig,  ausserdem  gab  die  Krone  zu  ver- 
stehen, dass,  wenn  sie  sich  von  meinen  Diensten  etwas 
erhoffte,  ich  selbst  durch  die  Mission  doch  als  erster 
belohnt  würde.  So  musste  ich  denn  von  meiner  Fa- 
milie das  Nötige  erhalten,  andernfalls  konnte  ich  die 
Mission  nicht  übernehmen. 

Hierbei  stiess  ich  noch  auf  grosse  Schwierigkeiten. 
Mein  Vater  wünschte  zwar,  dass  ich  den  Auftrag 
übernahm,  jedoch  meine  Mutter,  die  gewiss  auch 
meinen  Erfolg  und  mein  Avancement  aus  ganzem 
Herzen  herbeisehnte,  musste  gegen  ihre  religiösen  Be- 
denken ankämpfen;  da  dessenungeachtet  mein  Vater 
es  durchaus  wollte,  gab  sie  nach,  aber  mit  all  den 
Sorgen  einer  frommen  Mutter,  welche  die  verschie- 
denen Gefahren  und  Klippen  genau  voraussah,  denen 
der  Lieblingssohn  ausgesetzt  sein  würde.  Der  Fürst- 
Woiwode  von  Ruthenien  half  mir  die  Ungewiss- 
heiten  meiner  Eltern  besiegen ;  er  sah  voraus,  welch 

258 


ein  Relief  meine  Mission  unserer  Familie  verleihen 
würde,  als  deren  Haupt  er  sich  bereits  fühlte;  Unter- 
stützung fand  ich  bei  diesem  Oheim  durch  seine  Toch- 
ter, die  mit  dem  Fürsten  Lubomirski  verheiratet  war. 
Ich  habe  bereits  im  ersten  Teil  meiner  Geschichte 
von  ihr  berichtet.  Nach  einer  Abwesenheit  von  acht- 
zehn Monaten  fand  ich  sie  gereifter,  liebenswürdiger 
und  tatkräftiger,  als  vor  meiner  Abreise. 

Die  liebenswürdige  Art,  mit  der  sie  mir  damals  half, 
ihre  so  wirksamen  Bemühungen,  mir  die  Rückkehr 
zu  einer  anderen  Frau  zu  ermöglichen,  weil  ich  dies 
so  sehnsüchtig  wünschte,  erweckte  in  mir  eine  so  leb- 
hafte Dankbarkeit,  Hess  mich  in  ihr  einen  so  hervor- 
ragenden Menschen  erblicken,  dass  ich  für  sie  eine 
Art  Freundschaft  empfand,  wie  ich  sie  noch  für  keine 
andere  Frau  verspürt  hatte.  Und  diese  Frau  war  ausser- 
ordentlich schön  und  in  jeder  Weise  reizvoll;  sie  war 
noch  nicht  zwanzig  Jahre  alt;  sie  wurde  von  jeder- 
mann begehrt  und  hatte  noch  niemanden  mit  ihrer 
Gunst  bevorzugt.  Aber  es  geschah  alle  Tage  und  jeden 
Augenblick,  dass  sie  mit  mir  einer  Meinung  war,  über 
Dinge  wie  über  Menschen,  über  Bücher  wie  über  Putz 
und  Flitter;  um  es  kurz  zu  sagen,  ob  es  sich  um  ernst- 
hafte oder  belanglose  Dinge  handelte,  stets  urteilte 
sie  wie  ich,  auch  ohne  dass  wir  uns  je  besprochen 
hätten.  Zärtlich  wie  keine  andere  Frau  auf  Erden, 
und  zwar  damals  in  rein  edelmütiger  Weise,  sah  und 
vermutete  man  in  ihr  nur  den  Wunsch  helfen  zu 
können.  Sie  selbst  schickte  mich  fort,  aber  ich  war 
ihr  dafür  so  ausserordentlich  dankbar,  dass  ich  im 
Moment  meiner  zweiten  Abreise  nach  Petersburg  mir 
nicht  mehr  Rechenschaft  geben  konnte,  ob  sie  mich 
nicht  pflichtvergessen  machte.  Nur  so  viel  weiss  ich 

»7*  25g 


gewiss,  dass  ihr  Bild  und  die  Empfindungen,  die 
sie  in  mir  erweckte,  gleich  hinter  denen  rangier- 
ten, die  ich  für  die  Grossfürstin  empfand.  Der 
Wille  dieser  letzteren  dekorierte  mich  durch  die 
Hand  Bestuschews  mit  dem  blauen  Band  des  Polni- 
schen Weissen  Adlerordens,  einige  Tage  ehe  ich 
Warschau  verliess. 

Endlich,  am  i3.  Dezember  1756,  reiste  ich  ab,  und 
zwar  in  Begleitung  eines  Mannes,  der  mir  unschätz- 
bare Dienste  leisten  sollte:  dieser  Mann  war  Ogrodzki1). 
Nach  Absolvierung  der  Krakauer  Universität  im 
Hause  meines  Vaters  erzogen,  hatte  er  ihn  auf  seinen 
Reisen  in  Frankreich  begleitet,  war  hierauf  in  Holland 
bei  meinen  älteren  Brüdern  geblieben,  deren  Studien 
unter  Kauderbach  er  mitmachte;  hierauf  Kanzleiver- 
weser des  Kanzlers  Zaluski,  war  er  wiederholt  mit  ihm 
in  Dresden,  was  ihn  später  auf  einen  besoldeten  Po- 
sten im  sächsischen  Kabinett  gelangen  liess;  mit  einer 
besseren  humanistischen  Bildung  und  gründlicheren 
Studien  der  Naturgeschichte  und  der  französischen 
Literatur,  als  sie  damals  in  Polen  allgemein  üblich 
waren,  hatte  er  sich  am  Hofe  noch  eine  grosse  Routine 
in  auswärtigen  Angelegenheiten  und  inneren  Fragen 
des  Landes  angeeignet;  er  war  ein  ganz  seltener 
Mensch.  Man  konnte  von  ihm  sagen,  dass  er  nicht 
nur  alle  Polen  und  alle  Litauer  dem  Namen  nach  und 
von  Ansehen  kannte,  sondern  dass  er  auch  über  ihre 
Angelegenheiten,  ihre  Verbindungen  und  ihre  Aben- 
teuer Bescheid  wusste.  Zu  alledem  noch  arbeitsam, 
exakt,  verschwiegen,  bescheiden,  geduldig,  ruhig  und 

*)  Jacek  Ogrodzki  (171  1  — 1780),  Grosssekretär  der  Krone 
und  Kabinettsverweser  des  Königs  Stanislaw  August.  Anm.  d. 
Herausg. 

?A)0 


unserem  Hause  so  anhänglich,  dass  er  sich  verpflichtet 
fühlte  mich  zu  lieben,  mir  aus  allen  Kräften  zu  dienen 
und  über  mir  zu  wachen  wie  ein  treuer  Wächter,  je- 
doch ohne  jemals  einen  pädagogischen  Ton  anzu- 
schlagen. Das  war  der  Mann,  derauf  meinen  Wunsch 
mir  mitgegeben  wurde,  um  mir  auf  meinem  Gesandt- 
schaftsposten als  Sekretär  zu  dienen. 

Am  29.  Dezember  langte  ich  in  Riga  an  und  ver- 
weilte dort  zwei  Tage,  um  der  Einladung  des  Feld- 
marschalls Apraxin1)  zu  einem  Ball,  den  er  am  Ge- 
burtstage der  Kaiserin  Elisabeth  veranstaltete,  Folge 
zu  leisten. 

Ich  musste  mich  bemühen,  diesem  Manne  zu  ge- 
fallen. Er  befehligte  die  Armee,  die  für  meinen  Ge- 
bieter kämpfen  sollte,  und  zwar  hatte  der  Kanzler  Be- 
stuschew  ihm  diese  wichtige  Aufgabe  zuerteilt.  Auf 
meiner  ersten  Reise  hatte  ich  ihn  als  einen  Mann 
kennen  gelernt,  der  sich  etwas  darauf  zugute  hielt, 
dass  er  einer  der  Densen iks  Peters  des  Grossen  ge- 
wesen war,  für  dessen  Berufung  auf  einen  solchen 
Posten  jedoch  weder  eine  besondere  Heldentat  noch 
irgend  ein  angemessenes  Verdienst  sprachen;  es  war 
nur  sein  Alter,  das  ihm  diese  Art  Anciennitätsrecht 
verschaffte.  Nach  ihm  war  der  Erste  dieser  Armee  der 
General  Lieven,  der  im  Jahre  1749  die  russischen 
Truppen  aus  Deutschland  zurückgeführt  hatte.  Jedoch 
war  der  tätigste  Mensch  in  diesem  Korps  der  tapfere 

*)  Stefan  Feodorowitsch  Graf  Apraxin  (1702  —  1 758)  zog 
nach  seinem  Sieg  über  die  Preussen  bei  Grossjägersdorf 
(3o.  Aug.  1757)  seine  Truppen  nach  Russland  zurück  und 
wurde  deshalb  unter  Anklage  gestellt,  er  sei  von  Friedrich  II. 
bestochen  worden.  Er  starb  vor  der  Entscheidung  des  Kriegs- 
gerichts im  Gefängnis.  Anm.  d.  Herausg. 

26  I 


General  Peter  Panin  *),  der  in  seiner  Eigenschaft  als 
general  de  jour  unter  Marschall  Apraxin  alles  ver- 
richtete und  gleichzeitig,  wie  behauptet  wurde,  mit 
grösster  Ausdauer  der  Frau  Marschallin  seine  Be- 
flissenheit erwies. 

Am  3.  Januar  1707  in  Petersburg  angelangt,  wurde 
ich  am  11.  in  Audienz  empfangen.  Meine  Ansprache 
an  die  Kaiserin  war  die  Rede  eines  jungen  Mannes, 
der  ohne  vorauszusehen,  dass  sie  in  die  Zeitung  ge- 
setzt würde,  sich  nur  bemühte,  den  Gegenstand  seiner 
Mission  mit  kräftigen  Farben  auszumalen  bei  dieser 
(vielleicht  einzigen)  Gelegenheit,  wo  er  zur  Herrsche- 
rin in  eigener  Person  darüber  sprechen  konnte,  da 
die  Etikette  es  keinem  Minister  zweiten  Ranges  ge- 
stattete, während  der  ganzen  Dauer  seiner  Gesandt- 
schaft ihr  direkt  einen  Vortrag  über  die  Geschäfte  zu 
halten. 

Der  Wortlaut  meiner  Ansprache  soll  hier  folgen : 
„Indem  ich  die  Ehre  habe,  zu  Ew.  Kaiserlichen 
Majestät  im  Namen  Seiner  Majestät  des  Königs  von 
Polen  zu  sprechen,  gehorche  ich  seinem  Befehl  als 
treuer  Untertan  und  eifriger  Patriot  und  versichere 
Ew.  K.  Majestät,  dass  die  Freundschaft  meines  Herrn 
und  die  Ergebenheit  meiner  Nation  für  Ew.  K.  Ma- 
jestät geheiligte  Person  unter  den  gegenwärtigen  Um- 
ständen ebenso  unverbrüchlich  und  aufrichtig  sind, 
wie  seit  jeher;  dies  bezeugt  der  Brief  meines  könig- 
lichen Herren,  den  zu  überbringen  ich  die  Ehre  habe. 
Die  Gerechtigkeit,  die  im  Konseil  Ew.  K.  Majestät  prä- 

*)  Peter  Iwanowitsch  Graf  Panin  (1721 — 1789)  kämpfte  er- 
folgreich im  Siebenjährigen  Kriege,  nahm  an  der  Besetzung 
Berlin^  1760  teil.  Später  zeichnete  er  sich  im  Türkenkriege 
aus,  erstürmte  Bender  (1770).  Anra.  d.  Heraus». 

262 


sidiert,  und  das  Interesse  dieses  Reiches  sprechen  zu- 
gunsten des  Königs,  meines  Herren,  und  gegen  den 
ruchlosen  Einbruch  in  seine  angestammten  Staaten. 
Und  dieser  Umstand  schon  würde  mir  einen  Erfolg 
der  wichtigen  Mission  versprechen,  mit  der  ich  vor 
eine  Herrscherin  trete,  die  ihren  höchsten  Ruhm  im 
Glück  ihrer  Untertanen  erblickt  und  in  der  Unter- 
stützung der  Unschuld,  selbst  wenn  Ew.  K.  Majestät 
sich  über  diesen  Gegenstand  noch  nicht  ausgesprochen 
hätten.  Jedoch  Europa  ist  bereits  durch  Reskripte  dar- 
über unterrichtet,  in  denen  es,  voller  Bewunderung, 
die  Tochter  Peters  des  Grossen  erkannt  hat. 

„So  besteht  denn  meine  hauptsächlichste  Aufgabe, 
welche,  wenn  ich  so  sagen  darf,  der  wohltätigen  Seele 
Ew.  K.  Majestät  am  meisten  schmeicheln  wird,  darin, 
Ew.  K.  Majestät  mit  den  ausdrucksvollsten  und  wärm- 
sten Worten  die  Vei-sicherung  der  immerwährenden 
und  unwandelbaren  Dankbarkeit  auszusprechen,  die 
das  Herz  meines  Königs  und  Herren  für  Ew.  K.  Maje- 
stät erfüllt.  Ew.  K.  Majestät  haben  Ihre  gerechte  Ent- 
rüstung über  einen  Fürsten,  dessen  Ehrgeiz  ganz  Eu- 
ropa mit  dem  gleichen  Unheil  bedroht,  das  heute 
über  Sachsen  hereingebrochen  ist,  der  Öffentlichkeit 
bekannt  gegeben.  Sie  haben  versprochen,  die  Unbill 
zu  rächen.  Einer  Kaiserin  von  Russland  ist  nichts  un- 
möglich. Wenn  aber  die  Kaiserin  Elisabeth  ein  Unter- 
nehmen ankündigt,  dann  wird  es  nicht  nur  möglich, 
sondern  gewiss,  und  der  König  mein  Herr  wird  seine 
Staaten  ruhmvoll  zurückerlangen,  da  Ew.  Kaiserliche 
Majestät  es  wollen  und  dies  ausdrücklich  erklärt  haben. 

„Ich  will  mich  nicht  dabei  aufhalten,  das  fürchter- 
liche Bild  eines  Staates  vorzuführen,  der  mitten  im 
tiefsten  Frieden  unter  Bruch  aller  Traktate  überfallen 

263 


wurde;  eines  Königs,  dessen  Freund  zu  sein  man  be- 
hauptet und  dem  man  sozusagen  nur  die  Wahl  zwi- 
schen Tod  und  Schmach  gelassen  hat;  seiner  könig- 
lichen Familie,  die  den  äussersten  Härten  unterwor- 
fen, den  schmachvollsten  Insulten  ausgesetzt  wurde; 
einer  Kapitulation,  die  durch  die  barbarischeste  Be- 
handlung der  Offiziere  und  Soldaten  verletzt  wurde, 
deren  Treue  von  jedem  anderen  Feind  respektiert 
worden  wäre;  und  schliesslich  eines  Landes,  das  seit 
vier  Monaten  von  einer  feindlichen  Armee  okkupiert 
und  verheert  wird.  Ich  will  mich  nicht  dabei  aufhal- 
ten, neue  Farben  diesen  Bildern  aufzutragen,  die  nur 
allzu  bekannt  sind.  Aber  ich  bin  überzeugt,  das  Mit- 
gefühl Ew.  K.  Majestät  muss  aufs  lebhafteste  ergriffen 
sein  bei  dem  Gedanken,  dass  jeder  weitere  Tag  das 
Unglück  des  unschuldigen  Sachsenlandes  noch  ver- 
schlimmert und,  was  nicht  minder  wahr  ist,  dass  je- 
der Monat,  jede  Woche  des  Aufschubs  die  Macht  des 
Königs  von  Preussen  vergrössert. 

„Die  Kräfte,  die  er  nach  den  im  Jahre  1744  er~ 
littenen  Niederlagen  im  Jahre  174^  zu  finden  und 
zu  verwenden  verstanden  hat,  beweisen,  dass  er  eiue 
Hydra  ist,  die  vernichtet  werden  muss,  sobald  sie  zu 
Boden  liegt. 

„Der  Widerstand,  den  er  jetzt  in  Böhmen  gefun- 
den hat,  erstaunt  ihn,  aber  es  liegt  an  Ew.  K.  Maje- 
stät, ihm  den  entscheidenden  Schlag  zu  versetzen.  Die 
weite  Entfernung  verhindert  die  anderen  Mächte  au 
einem  rascheren  Erfolg  ihrer  Vorbereitungen,  und  es 
scheint  Ew.  K.  Majestät  vorbehalten  zusein,  einen  un- 
terdrückten Verbündeten  zu  retten  und  hierdurch  dem 
Universum  zu  zeigen,  dass  der  Wille  und  die  Tat  für 
Ew.  K.  Majestät  nur  Eines  sind  und  dass  nichts  den 

264 


König  Friedrich  II. 


glorreichen  Sieg  einer  russischen  Armee  aufhalten 
kann,  deren  Anführerin  die  Gerechtigkeit  ist. 

„Möge  der  Himmel  meiner  Stimme  Überzeugungs- 
kraft verleihen,  und  meine  heissesten  Wünsche  wer- 
den in  Erfüllung  gehen,  wenn  ich  mich  der  Wahl 
meines  Herren  würdig  erweise  und  durch  meinen  Auf- 
enthalt und  mein  Verhalten  an  dem  erhabenen  Hofe 
Ew.  K.  Majestät  mir  auch  ferner  die  Huld  bewahre, 
mit  der  Ew.  K.  Majestät  mich  bei  meiner  Abreise  von 
hier  durch  so  ehrende  und  grossmütige  Beweise  aus- 
zuzeichnen geruhten. 

„Meine  Dankbarkeit  erfüllt  mich  mit  solcher  Ehr- 
furcht, dass  ich  keinen  Ausdruck  für  sie  finde;  ich 
vermag  nur  Ew.  K.  Majestät  meine  tiefste  Ehrerbie- 
tung zu  Füssen  zu  legen." 

Meine  Ansprache  wirkte,  wie  denn  manchmal  das 
Glück  der  Kühnheit  günstig  ist.  Die  Kaiserin  hatte 
bisher  immer  nur  banale  Komplimente  zu  hören  be- 
kommen, von  Leuten  hervorgestammelt,  die  nicht 
gewöhnt  waren,  in  der  Öffentlichkeit  zu  sprechen,  so 
dass  sie  kaum  deren  Worte  verstehen  konnte.  Es  war 
etwas  Neues  für  sie,  offiziell  ein  schmeichelhaftes  Lob 
von  einem  Fremden  zu  vernehmen,  der  mit  heller 
Stimme  und  leidenschaftlicher  Überzeugung  sprach, 
da  er  von  dem  Gegenstand  seiner  Rede  ganz  erfüllt 
war;  im  übrigen  hegte  sie  selbst  schon  die  Überzeu- 
gung, dass  der  König  von  Preussen  im  Unrecht  war. 
Sie  ordnete  deshalb  ausdrücklich  an,  dass  meine  An- 
sprache gedruckt  werde.  Als  man  sie  in  Warschau  las, 
tadelte  meine  Familie  den  Ausdruck  „Hydra"  und 
fürchtete  die  Räch  gier  des  Königs  von  Preussen.  Die- 
ser jedoch  sagte  bloss,  als  er  meine  Ansprache  ge- 
lesen: „Ich  wollte,  er  hätte  die  Wahrheit  gesprochen 

265 


und  die  abgeschlagenen  Köpfe  würden  mir  wieder 
anwachsen."  Das  sind  gewiss  Worte  eines  wahrhaft 
überlegenen  Menschen,  der  damals  auch  viel  zu  sehr 
beschäftigt  war,  um  eine  Phrase  übel  zu  nehmen. 

Unter  den  offiziellen  Besuchen,  die  ich  bei  meinem 
Antritt  zu  erledigen  hatte,  gebührte  auch  einer  dem 
Chevalier  Williams.  Nicht  ohne  Rührung  entsinne 
ich  mich  derWTorte,  die  er  damals  an  mich  richtete: 
„Ich  schätze  und  liebe  Sie  wie  ein  Kind,  das  ich  auf- 
erzogen, —  denken  Sie  stets  daran;  was  jedoch  die 
Erfüllung  Ihrer  Pflicht  anlangt,  so  würde  ich  in  Ihnen 
meinen  Schüler  verleugnen,  sollte  Ihre  Freundschaft 
für  mich  Sie  zu  dem  geringsten  Schritt  oder  der  ge- 
ringsten Unvoi'sichtigkeit  veranlassen,  die  gegen  die 
Vorschriften  Ihres  jetzigen  Amtes  Verstössen  würde." 
Ich  habe  diese  Lehre  befolgt,  obgleich  mein  Herz 
dabei  litt;  ich  brach  die  Beziehungen  zu  ihm  ab  und 
hatte  keine  private  Zusammenkunft  mit  ihm,  —  erst 
wieder  ein  Jahr  später,  als  er  seinen  Posten  verliess. 
Mit  den  besten  Hoffnungen  auf  einen  baldigen 
Erfolg  trat  ich  also  mein  Amt  an,  gestützt  auf  die 
Schriften  und  Worte  der  russischen  Minister,  die 
den  Befehlen  ihrer  Fürstin  entsprachen.  Ungeach- 
tet dessen  konnte  nichts  langwieriger  und  inkonse- 
quenter sein,  als  die  russischen  Operationen  in  diesem 
Kriege. 

Die  Öffentlichkeit  wusste,  dass  der  Grossfürst  den 
König  von  Preussen  vergötterte,  dass  Bestuschew  der 
Grossfürstin  ergeben  war,  dass  Apraxin  zu  Bestuschews 
Kreaturen  gehörte  und  dass  ich  Williams  Schüler  ge- 
wesen. Man  schloss  daraus,  dass  Bestuschew  durch 
Geheimordres  die  Absichten  Elisabeths  durchkreuzte; 
und  dennoch  war  diese  Vermutung  durchaus  irrig. 

266 


Bestuschew,  aus  Prinzip  ein  Anhänger  Österreichs, 
war  so  weit  gekommen,  dass  er  den  König  von  Preus- 
sen  hasste,  aus  lauter  Gewohnheit  ihm  zu  schaden, 
und  weil  dieser  Fürst  seinen  Untergang  beschlossen 
und  in  gedruckten  Versen  Böses  über  ihn  gesagt  hatte, 
nachdem  er  vergeblich  versucht,  ihn  zu  bestechen. 
A praxin  hatte  den  redlichsten  Willen,  die  Absichten 
seines  Protektors  auszuführen,  und  wie  wir  es  weiter 
unten  sehen  werden,  wurde  er  darin  durch  die  Gross- 
fürstin eifrigst  bestärkt.  Ich  war  ganz  von  meinem 
Pflichtgefühl  erfüllt  und  glaubte  überdies,  dass  wenn 
ich  am  Buin  des  Königs  von  Preussen  arbeitete,  ich 
sowohl  meinem  Vaterlande  diente,  wie  auch  unserem 
Könige,  dem  Kurfürsten  von  Sachsen. 

Apraxins  Ungeschicklichkeit  und  seine  Schwäche, 
die  an  Unfähigkeit  grenzte,  waren  die  einzige  Ursache 
des  sonderbaren  militärischen  Vorgehens  der  Bussen 
während  des  ganzen  Jahres  1737. 

Seine  Korpulenz  erschwerte  ihm  das  Beiten;  er 
stand  spät  auf,  weil  er  bis  spät  in  die  Nacht  hinein 
seine  Narrenspossen  trieb  und  erst  einschlafen  konnte, 
nachdem  zwei  bis  drei  Grenadiere,  die  einander  im 
Erzählen  von  Menschenfresser-  und  Gespensterge- 
schichten ablösten,  sich  heiser  geschrien  hatten; 
man  staunte,  rings  um  das  Generalszelt  die  lauten 
Stimmen  zu  vernehmen,  während  sonst  im  ganzen 
Lager  strengste  Stille  herrschen  musste;  das  gehörte 
zu  den  täglichen  Praktiken.  Damals  gab  es  noch  im 
russischen  Volke  und  in  der  Soldateska  Erzähler  von 
Profession,  ungefähr  wie  jene,  die  in  türkischen  Cafes 
die  schweigsame  Müsse  der  Türken  ergötzen. 

Apraxin  wusste  auch  nicht  das  geringste,  so  dass 
am  20.  August  1767,  dem  Tag  der  Schlacht  von  Jä- 

26-7 


gerndorf x),  der  Sieg  ihm  bereits  zuneigte,  als  er  noch 
immer  glaubte,  man  wäre  nur  auf  dem  Marsche;  er 
war  so  bestürzt,  als  er  endlich  erfuhr,  dass  dies  eine 
Schlacht  war,  dass  er  während  ihrer  ganzen  Dauer 
nicht  einen  Befehl  gab,  und  er  war  so  erstaunt,  als 
man  ihm  seinen  Sieg  meldete,  dass  er  nichts  anderes 
zu  tun  wusste,  als  am  nächsten  Tage  den  Rückmarsch 
zu  befehlen,  indes  in  Königsberg  der  Magistrat  bereits 
die  Deputierten  ernannt  hatte,  die  ihm  die  Schlüssel 
der  Stadt  übergeben  sollten,  —  so  vollständig  war  die 
Niederlage  der  Preussen,  und  zwar  infolge  eines  son- 
derbaren Zusammentreffens  verschiedener  Umstände, 
welches  Zufall  genannt  wird  und  das  von  Zeit  zu  Zeit 
selbst  den  Gewandtesten  und  Vermessensten  den  Be- 
weis erbringt,  dass  sie  nur  ein  Instrument  sind,  auf 
dem  der  Herr  des  Schicksals  spielt,  wie  es  ihm  beliebt. 
Es  steht  fest,  dass  die  Preussen  an  jenem  Tage  tapfer 
kämpften;  General  Lewaldt  galt  als  einer  der  besten 
preussischen  Generale;  die  russischen  Generale  erteil- 
ten keinen  Befehl;  einige  mussten  es  mit  ihrem  Leben 
bezahlen;  die  Soldaten  machten  fast  alles  selbst;  sie 
wussten,  dass  sie  schiessen  mussten,  solange  sie  noch 
Patronen  hatten,  und  dass  sie  nicht  fliehen  durften; 
sie  erfüllten  nur  diese  Pflicht  und  töteten  hierbei  so 
viele  Preussen,  dass  derZufall  sich  bemüssigt  sah,  ihnen 
das  Schlachtfeld  zu  überlassen. 

Apraxin  schickte  den  Grafen  Peter  Panin,  seinen 
General  vom  Dienst,  mit  der  Siegesnachricht  nach  Pe- 
tersburg; in  Abwesenheit  dieses  tapferen,  klugen  und 
treuen  Offiziers  nützten  andere  Apraxins  Unfähigkeit 
aus  und  machten  ihn  glauben,  seine  Armee  würde 
')  Gemeint  ist  die  Schlacht  bei  Grossjägersdorf  am  3o.  Au- 
gust 1757.    Änm.  d.  Herausg. 

268 


aus  Mangel  an  Lebensmitteln  zugrunde  gehen,  wenn 
er  vorrückte. 

Auf  General  Lieven,  der  in  dieser  Armee  nach 
A praxin  im  Range  einer  der  Ersten  war,  fiel  der  Ver- 
dacht, er  sei  vom  König  von  Preussen  bestochen  wor- 
den, seinem  Chef  den  Rückzug  anzuraten;  da  jedoch 
Lieven  sein  ganzes  Leben  hindurch  ehrenvoll  gehan- 
delt hat,  darf  man  sein  Andenken  nicht  beflecken, 
ohne  einen  wirklichen  Beweis  zu  hoben.  Wer  nun 
auch  dieser  Ratgeber  gewesen  sein  mag,  —  Apraxin 
kehrte  um  und  auf  dem  gleichen  Wege  nach  Samo- 
gitien  zurück,  als  wäre  er  geschlagen  gewesen,  und 
verwüstete  das  feindliche  Land  auf  seinem  Rückzug, 
als  hätte  man  ihn  verfolgt.  Die  Höfe  von  Wien  und 
Versailles  schrien:  Verrat!  der  Hof  von  Warschau  be- 
gnügte sich  zu  klagen,  dass  die  Sachsen  zugesagte 
Hilfe  zurückgezogen  wurde. 

Die  Kaiserin  Elisabeth  setzte  General  Fermor l)  an 
Apraxins  Stelle  und  liess  diesen  arretieren;  zu  diesem 
Schritt  trieben  sie  alle  Feinde  Bestuschews  und  der 
Grossfürstin,  welche  glaubten,  sie  könnten  so  ihren 
Hass  gegen  diese  beiden  befriedigen;  aber  wie  staunte 
man,  als  unter  Apraxins  Papieren  Billetts  der  Gross- 
fürstin gefunden  wurden,  die  Apraxin  anbefahlen, 
rasch  und  energisch  gegen  den  König  von  Preussen 
vorzugehen!  Das  rettete  Bestuschew  für  den  Augen- 

*)  Wilhelm  Graf  Fermor  (1704 — I77i)i  russischer  General, 
entstammte  einer  englischen  Familie.  1758  nahm  er  Thorn 
und  Elbing,  ward  Generalgouverneur  von  Preussen;  am 
iS.  August  1758  wurde  er  bei  Zorndorf  besiegt,  worauf 
er  den  Oberbefehl  niederlegte.  Von  Katharina  II.  wurde  er 
zum  Generalgouverneur  von  Smolensk  ernannt.  Anm.  d. 
Herausg. 

269 


blick  und  brachte  dem  kaiserlichen  Hause  anschei- 
nend den  Frieden  zurück. 

Es  ist  überflüssig",  hier  die  genauen  Details  meiner 
dringenden  Gesuche  und  zahlreichen  Noten  anzufüh- 
ren, durch  die  ich  während  der  ganzen  Zeit  meiner 
Gesandtschaft  mich  bemühte,  das  meinem  Herrn  ge- 
gebene Versprechen  zu  realisieren  und  seine  Ausfüh- 
rung zu  beschleunigen;  die  mir  zukommenden  Ant- 
worten waren  fast  stets  günstig,  jedoch  die  Gebrechen 
des  Hofes  und  der  ganzen  Administration  verzögerten 
den  Erfolg,  —  die  Mittel  entsprachen  nicht  dem 
Zweck. 

August  III.  blieb  während  der  sieben  Jahre  dieses 
schrecklichen  Krieges  fast  der  ganzen  Einkünfte  aus 
seinem  Kurfürstentum  beraubt. 

Die  gewöhnlichen  Einkünfte  Sachsens  beliefen  sich 
damals  auf  neun  Millionen  Taler;  man  kann  an- 
nehmen, dass  der  König  von  Preussen  durch  allerlei 
Steuern  mindestens  dreimal  so  viel  herauszog.  7  mal 
9  sind  63,  3  mal  63  sind  189,  —  so  viel  Millionen 
Taler  brachte  Sachsen  dem  König  von  Preussen  ein; 
700000  Pfund  Sterling  jährlicher  englischer  Sub- 
sidien,  die  noch  hinzukamen,  ermöglichten,  was  un- 
möglich schien :  dass  ein  brandenburgischer  Kurfürst 
sieben  Jahre  lang  den  vereinigten  Ländern  Russland, 
Österreich,  Frankreich  und  Schweden  widerstehen 
konnte. 

Ausserdem  verschaffte  sich  dieser  Fürst  einen  gar 
nicht  abzuschätzenden  Profit  dadurch,  dass  er  (als 
erster  unter  allen  Herrschern)  den  Brauch  einführte, 
mit  dem  Stempel  eines  anderen  Monarchen  Münzen 
zu  prägen;  jedoch  begnügte  er  sich  nicht  damit,  in 
der  sächsischen  Münze  Geldstücke  mit  dem  Bildnis 

270 


Augusts  III.  prägen  zu  lassen,  er  Hess  sogar  die  Stem- 
pel in  seinen  eigenen  Staaten  nachahmen  und  ver- 
ringerte mit  der  Zeit  den  Münzgehalt  bis  zu  dem 
Grade,  dass  die  Geldstücke  schliesslich  nicht  einmal 
den  dritten  Teil  des  Wertes  hatten,  unter  dem  sie 
kursierten. 

Da  der  Hauptschauplatz  dieses  Krieges  in  Sachsen 
lag  und  er  dort,  die  Waffe  in  der  Hand,  nur  das  kaufte, 
was  er  nicht  gratis  zu  nehmen  beliebte,  bestritt  er 
seine  Ausgaben  mit  dem  dritten  Teil  der  allgemein 
angenommenen  Summe. 

Aber  er  fügte  diesen  Schaden  nicht  nur  Sachsen 
allein  zu;  Polen  litt  genau  sosehr,  und  zwar  geschah 
dies  folgendermassen :  das  Traktat  von  Wehlau1) 
hatte  zu  den  Vorteilen,  die  das  Haus  Brandenburg  in 
Ostpreussen  bereits  besass,  noch  einen  hinzugefügt, 
dass  nämlich  hinfort  beide  Staaten  nach  Übereinkunft 
den  Münzfuss  bestimmen  sollten.  Das  wurde  nie  be- 
achtet; die  regierenden  Fürsten  des  Hauses  Branden- 
burg begnügten  sich  damit,  eigenmächtig  Münzen 
prägen  zu  lassen,  die  dieselben  Bezeichnungen  führ- 
ten wie  die  polnischen  Tympfen 2)  und  Sechser  und 
ihnen  gleichwertig  sein  sollten;  infolgedessen  waren 
diese  preussischen  Münzen  in  Polen  genau  so  im  Um- 
lauf wie  die  polnischen  Landesmünzen.  Da  seit  dem 

')  Am  29.  Sept.  1657  wurde  zwischen  Brandenburg  und  Polen 
ein  Vertrag  geschlossen,  in  dem  Brandenburg  auf  das  Bistum 
Ermeland  und  vier  polnische  Woiwodschaften  verzichtete  und 
Polen  aufsein  Oberhoheitsrecht  über  das  Herzogtum  Preussen. 
Anm.  d.  Herausg. 

2)  Tympfe  sind  die  nach  dem  polnischen  Münzmeister  be- 
nannten achtlötigen  polnischen  Silbermünzen;  sie  hatten  einen 
Wert  von  36  Silbergroschen.  Anm.  d.  Herausg. 


vergangenen  Jahrhundert  in  Polen  keineSilbermünzen 
mehr  geprägt  worden  waren  und  die  Juden  sich  da- 
durch einen  Gewinn  zu  verschaffen  suchten,  dass  sie 
mit  beschnittenen  Dukaten  die  alten  Münzen  Johann 
Kasimirs  und  Johanns  III.  aufkauften,  machte  sich  um 
die  Mitte  der  Regierung  Augusts  III.  in  Polen  ein 
empfindlicher  Mangel  an  Silber- und  sogar  an  Kupfer- 
geld fühlbar,  was  diesen  Fürsten  auf  den  Gedanken 
brachte,  sich  dasselbe  Recht  anzumassen,  das  der  Kö- 
nig von  Preussen  als  Kurfürst  von  Brandenburg  ge- 
noss.  Es  gab  zwar  ein  Gesetz,  das  unseren  Königen 
untersagte,  ohne  Bewilligung  des  Reichstags  in  Polen 
die  Münze  wieder  zu  öffnen,  da  sich  jedoch  die 
Überzeugung  festgesetzt  hatte,  wegen  des  liberum 
veto  könnte  kein  Reichstag  Ergebnisse  bringen,  so 
meinte  August  III.,  er  könnte  zum  Wohl  des  Landes 
dieses  Gesetz  umgehen,  indem  er  in  Sachsen  Tympfen 
und  Sechser  mit  dem  Münzfuss  Johann  Kasimirs  und 
Johanns  III.  prägen  Hess,  die  in  Polen  wie  schon  so 
viele  andere  ausländische  Münzen  in  Umlauf  kommen 
würden.  In  Wirklichkeit  aber  wurden  jene,  welche 
die  Herstellung  der  Münzen  in  Sachsen  leiteten,  gar 
bald  angeklagt,  dass  diese  neuen  Stücke  geringwer- 
tiger waren ;  jedoch  war  die  Wertverminderung  (wenn 
es  überhaupt  eine  gab)  so  gering,  dass  sie  kaum  fühl- 
bar war  und  durch  die  Bequemlichkeit,  Münzen  zu 
haben,  aufgewogen  wurde. 

Unter  dem  Vorwand,  gleichzeitig  diese  sächsische 
Prägung  und  die  Prägung  seiner  eigenen  preussischen 
Tympfen  und  Sechser  fortzusetzen,  gelang  es  dem 
König  von  Preussen,  ungefähr  hundert  Millionen 
dieser  Münzen  in  Polen  in  Umlauf  zu  setzen,  bevor 
überhaupt  die  Mehrzahl  meiner  Landsleute  —  die 

272 


damals  nur  zu  sehr  für  ihn  eingenommen  waren  - — 
auch  nur  an  die  Möglichkeit  einer  Verschlechterung 
glauben  wollten.  Sie  strömten  in  Massen  und  sehr 
rasch  ins  Land,  weil  Polen  für  den  König  von  Preussen 
ein  Magazin  bedeutete;  er  kaufte  dort  Korn,  Pferde, 
Vieh,  Salpeter,  grobe  Leinwand  und  sogar  grobes 
Tuch,  fast  alles  was  er  brauchte.  Schlesien  und  die 
anderen  Staaten  des  Königs  von  Preussen  waren  wäh- 
rend dieses  Krieges  so  vielen  Überfällen  und  Ver- 
wüstungen ausgesetzt,  dass  Polen  damals  in  der  Lage 
war,  Schlesien  selbst  in  den  zwei  letztgenannten  Ar- 
tikeln zu  ersetzen.  Als  endlich  die  Polen  allgemein 
einsahen,  dass  sie  über  den  Wert  dieser  preussischen 
Münzen  getäuscht  worden  waren,  erhöhten  sie  den 
Preis  ihrer  Artikel,  aber  der  Feingehalt  dieser  Mün- 
zen wurde  um  ebensoviel  verringert,  und  immer  ver- 
floss  erst  eine  Zeit,  bis  man  sich  hier  des  erneuten 
und  grösseren  Betruges  bewusst  wurde,  so  dass  im 
Jahre  1763,  am  Ende  des  Krieges,  über  200  Millionen 
Gulden  dieser  falschen  Münzen  in  Polen  im  Umlauf 
waren. 

Die  polnischen  Juden, in  diesem  Punkte  hellsehender 
als  die  anderen  Einwohner  des  Landes,  verständigten 
sich  bald  mit  den  preussischen  Juden,  denen  der  König 
von  Preussen  seine  Münze  übergeben  hatte.  An  ihrer 
Spitze  stand  der  berühmte  Ephraim.  Die  Juden  Polens 
bekundeten  damals  einen  solchen  Eifer  für  den  König 
von  Preussen,  dass  sie  durch  ganz  Polen  eine  eigene 
Post  unterhielten,  von  den  Grenzen  Schlesiens  bis 
nach  Ungarn,  der  Türkei  und  Tatarei,  und  diese  in 
den  Dienst  der  preussischen  Korrespondenzen  nach 
jenen  Ländern  und  vor  allem  nach  Polen  stellten; 
diese  Korrespondenzen  sollten  den  Enthusiasmus  der 

i  8   Poniatovvski  1 1  3 


Anhänger  des  Königs  von  Preussen  aufrechterhalten, 
alle  ihm  günstigen  Gerüchte  verbreiten,  Informationen 
über  Russland  und  über  Österreich  verschaffen  und 
tausend  andere  Dienste  leisten,  deren  Wirkung  Au- 
gust III.  alltäglich  zu  spüren  bekam,  ohne  dass  er  sie 
paralysieren  konnte.  Er  wurde  aus  verschiedenen 
Gründen  daran  verhindert.  Seit  hundert  Jahren  hatte 
der  Adel  so  viele  Gesetze  durchgebracht,  die  einzig 
und  allein  seine  Freiheit,  oder  vielmehr  seine  Privi- 
legien sichern  sollten,  und  hatte  die  königliche  Ge- 
walt so  sehr  eingeschränkt,  dass  diese  ausser  während 
der  Tagung  des  Reichstags  sozusagen  auf  den  Null- 
punkt gesunken  war,  soweit  es  sich  um  irgend  eine 
zwingende  Massregel  oder  ein  Verbot  handelte. 

Der  Erfolg  eines  freien  Reichstags  wurde  unter 
dieser  Regierung  mit  Recht  als  ein  Ding  der  Unmög- 
lichkeit angesehen ;  der  ausserordentliche  Weg  einer 
Konföderation  erschien  dem  Grafen  Brühl  stets  als 
ein  zu  gefährliches  Mittel,  das  nur  geeignet  war,  eine 
Gegenkonföderation  hervorzurufen  und  als  Konse- 
quenz einen  Bürgerkrieg,  in  den  verwickelt  zu  werden 
er  sich  damals  um  so  mehr  fürchtete,  als  man  schon 
von  den  Bemühungen  des  Königs  von  Preussen  bei 
den  Türken  und  Tataren,  um  sie  in  den  Krieg  hin- 
einzuziehen, Wind  bekommen  hatte;  sollten  sie  sich 
einmischen,  so  würde  das  wahrscheinlich  in  Polen  ge- 
schehen; in  diesem  Falle  würden  die  Russen,  statt  sich 
um  die  Befreiung  Sachsens  zu  bemühen,  in  Polen 
kämpfen,  wo  man  sie  schon  sowieso  nicht  gerne  sah 
und  ihre  Anwesenheit  die  Zahl  der  in  Opposition  zum 
König  stehenden  Polen  noch  vermehrt  hätte.  Übrigens 
bestritt  dieser  seinen  Unterhalt  und  den  seines  ganzen 
Hofes  nur  aus  den  Revenuen  der  königlichen  Okono- 

274 


mie,  welche  alles  in  allem  kaum  dreihunderttausend 
Dukaten  jährlicher  Rente  ergaben.  Die  französischen 
Subsidien  wurden  zum  Unterhalt  der  Königin  und 
der  zahlreichen  Mitglieder  der  königlichen  Familie 
in  Dresden  aufgewandt  und  zur  Besoldung  der  säch- 
sischen Truppen,  die  der  Kapitulation  von  Struppen 
entgangen  waren,  oder  jener,  die  sich  selbst  vom 
preussischen  Dienst  befreit  hatten  und  sich  den  fran- 
zösischen oder  österreichischen  Armeen  anschlössen. 


»8*  275 


DRITTES     KAPITEL 

URSACHEF  DES  KRIEGES  VON  1756.  —  HÄR- 
TEN DER  PREUSSISCHEN  UND  ÖSTERREICHI- 
SCHEN KRIEGFÜHRUNG.  —  ENTSCHÄDIGUNGSAN- 
SPRÜCHE AUGUSTS  III.  —  ANTWORT  AUF  SEINE 
FORDERUNGEN. 


iiimiititiiiiHiiHiiiiiiHuiiHrmiirfiiituiiimiiimimiiieiiHiifiittintiHiiHiMi 


In  dieser  verzweifelten  Lage  befand  sich  August  III., 
weil  er  sich  nicht  zwingen  lassen  wollte,  der  Ver- 
bündete des  Königs  von  Preussen  zu  werden.  Er  war 
der  Schwiegervater  des  Dauphins1),  des  Vaters  Lud- 
wigs XVI.  Seine  Frau2)  war  die  Tochter  des  älteren 
Bruders  des  Vaters  von  Maria  Theresia.  Die  Erhe- 
bung auf  den  polnischen  Thron  verdankte  er  Russ- 
land, und  stets  hatte  er  seine  unverbrüchliche  An- 
hänglichkeit an  diesen  Hof  bekundet.  Der  König  von 
Preussen  hatte  ihm  Sachsen  weggenommen,  indem  er 
zu  wissen  vorgab,  August  III.  hätte  sich  mit  Österreich 
und  Russland  verbündet,  um  mit  den  beiden  Kaise- 
rinnen über  ihn  herzufallen.  Der  König  von  Preussen 
brach  ins  Dresdener  Archiv  ein  und  zog  heraus,  was 
ihm  gerade  passte.  Er  konnte  jedoch  nur  einige  Aus- 
züge aus  Depeschen  produzieren,  die  im  Grunde  nichts 
weiter  bewiesen,  als  dass  August  III.,  nachdem  er  vom 
König  von  Preussen  schon  sehr  viel  erduldet  hatte 

*)  Der  einzige  legitime  Sohn  Ludwigs  XV.,  der  Dauphin  Lud- 
wig, starb  iy65.  Er  war  vermählt  mit  Maria  Josefa  von 
Sachsen  (1731  — 1767).  Ludwig  XVI.  war  der  dritte  Sohn  aus 
dieser  Ehe. 

2)  Die  Königin  Maria  Josefa  war  die  Tochter  Kaiser  Josefs  I. 
(gest.  171 1),  dem  sein  jüngerer  Bruder  Karl  VI.,  der  Vater 
Maria  Theresias,  auf  dem  Kaiserthron  folgte.  Anm.d.Herausg. 

,78 


(I741  a^s  dessen  Verbündeter  und  1745  als  der  Ver- 
bündete Maria  Theresias),  jenen  Nachbarn  stets  fürch- 
tete und  sich  Österreichs  und  Russlands  Freundschaft 
zu  erhalten  trachtete,  es  jedoch  ablehnte,  irgend  ein 
Offensivbündnis  einzugehen,  —  wie  jene  Depeschen 
es  ihm  nahelegten,  —  unter  Hinweis  auf  seine  Lage, 
die  ihn  stets  dem  ersten  Feuer  des  gemeinsamen  Fein- 
des aussetzen  musste.  Der  König  von  Preussen  stützte 
sich  am  meisten  auf  jene  Phrase  im  Konzept  einer 
der  sächsischen  Depeschen:  „Erst  wenn  der  Ritter  aus 
dem  Sattel  gehoben  sein  wird,  kann  Sachsen  daran  den- 
ken, eine  Rolle  zu  übernehmen ;  geschähe  es  früher,  so 
würde  es  sich  ganz  nutzlos  gefährden." 

Ich  habe  nicht  die  Absicht,  hier  zu  erörtern,  auf 
wessen  Seite  das  Recht  in  diesem  Kriege  war,  aber 
für  Sachsen  war  er  grausam;  Freunde  und  Feinde 
trugen  um  die  Wette  zu  Sachsens  Ruin  bei.  Dresden 
wurde  sowohl  von  den  Preussen  wie  von  den  Öster- 
reichern bombardiert;  letztere  haben  ohne  jede  Not- 
wendigkeit Zittau  vernichtet,  die  fleissigste  Gewerbe- 
stadt des  ganzen  Kurfürstentums. 

Beide  Parteien  haben  sich  gegenseitig  Plünderun- 
gen und  Grausamkeiten  vorgeworfen;  der  König  von 
Preussen  hat  das  königliche  Schloss  Hubertusburg 
niederbrennen  lassen,  nachdem  er  die  Möbel  und  das 
Kupferdach  an  einen  Juden  verkauft  hatte.  Er  hat 
den  prachtvollen  Salon  im  Garten  des  Grafen  Brühl 
in  Dresden  in  die  Luft  fliegen  lassen.  Er  hat  zwei 
Landhäuser  desselben  Ministers,  nämlich  Pforten  und 
Nischwitz,  zerstören  lassen,  letzteres  in  seiner  Gegen- 
wart, und  er  hat  auf  dem  Rücken  des  Hausverwalters 
eigenhändig  einen  Spiegel  in  Stücke  geschlagen,  den 
dieser  treue  Diener  zu  retten  versuchte.  Der  König 


27 


79 


von  Preussen  liess  damals  publizieren,  dies  sei  ge- 
schehen, um  die  Verwüstungen  der  Russen  in  Preussen 
und  der  Österreicher  in  Charlottenburg,  als  sie  drüben 
waren,  zu  rächen.  Ausserdem  hat  der  König  von 
Preussen  über  hundert  der  fürchterlichsten  Übeltäter, 
die  in  sächsischen  Gefängnissen  gefangen  gehalten 
wurden,  in  Freiheit  setzen  lassen,  unter  anderen  einen 
gewissen  Tanz  wohl,  einen  berüchtigten  Räuber;  vier 
dieser  Spitzbuben,  die  in  Röhmen  wieder  eingefangen 
wurden,  behaupteten  dort,  sie  hätten  vom  König  von 
Preussen  die  Order  erhalten,  alles  in  Rrand  zu  stecken ; 
sie  können  ja  etwas  Unwahres  ausgesagt  haben,  aber 
man  war  nichtsdestoweniger  erstaunt,  dass  sie  in  Frei- 
heit gesetzt  wurden,  um  so  mehr  als  er  zur  selben 
Zeit  einem  anderen  Räuberhauptmann  die  Freiheit 
gab,  einem  gewissen  Käsebier,  der  in  seinem  eigenen 
Staat  gefangen  gehalten  wurde  und  mit  dem  er  bei 
seiner  Freilassung  gesprochen  hat. 

Das  Landvolk  in  Sachsen  hat  in  Wirklichkeit  we- 
niger Neigung  für  die  Österreicher  bezeugt,  als  für 
die  Preussen,  deren  Disziplin  vielleicht  tatsächlich 
besser  war,  auch  hatten  sie  die  Order,  das  sächsische 
Volk  glauben  zu  machen,  es  bestünde  eine  geheime 
Absicht,  ihnen  den  Katholizismus  gewaltsam  aufzu- 
drängen, und  ihr  Herr  führte  Krieg,  um  sie  davor  zu 
bewahren.  Aber  die  Mehrzahl  der  Kaufleute,  der 
Adel  und  vor  allem  der  Souverän  hatten  durch  den 
König  von  Preussen  so  schrecklich  zu  leiden,  dass 
allein  schon  die  Schilderung  dieser  Heimsuchungen 
August  III.  eine  Teilnahme  einbrachte,  die  wahrschein- 
lich seitens  der  Höfe  von  Russland,  Wien  und  Ver- 
sailles nicht  steril  geblieben  wäre,  hätten  die  Kriegs- 
ereignisse sich  günstiger  für  sie  gestaltet. 

280 


Die  beiden  Kaiserinnen  waren  im  März  1757  über- 
eingekommen, ibm  als  Entschädigung  Magdeburg 
mit  dessen  Distrikt  und  den  Saalekreis  zu  verschaffen. 
August  III.  hielt  sich  jedoch  um  so  mehr  für  berech- 
tigt, noch  ein  übriges  zu  verlangen,  als  er  sich  er- 
innerte, dass  der  Wiener  Hof  ihm  am  i5.Mai  1 74^ 
bedeutend  mehr  versprochen  hatte.  Man  wollte  ver- 
suchen, die  verbündeten  Höfe  zu  einer  deutlicheren 
Erklärung  zu  veranlassen.  Infolgedessen  erhielt  ich  den 
Auftrag,  am  russischen  Hofe  nachstehendes  Schrift- 
stück zu  präsentieren: 

„Motivierte  Grundzüge  der  von  Seiner  Majestät  dem 

König  von  Polen,  Kurfürsten  von  Sachsen,  geforderten 

En  tschädigun  gen . 

„Da  die  ruhmreichen  Armeen  I.  M.  der  Kaiserin  und 
Königin  im  Verein  mit  den  Hilfsheeren  Russlands, 
Frankreichs  und  Schwedens  sich  von  Tag  zu  Tag 
mehr  dem  ersehnten  Ziel  nähern,  wo  der  König  von 
Preussen  sich  endlich  gezwungen  sehen  wird,  um  den 
Frieden  nachzusuchen,  den  er  so  zu  Unrecht  gebro- 
chen, und  ihn  unter  Bedingungen  anzunehmen,  die 
man  ihm  diktieren  wird,  ist  S.  M.  der  König  von  Polen, 
Kurfürst  von  Sachsen,  den  sein  unverbrüchliches, 
treues  Festhalten  an  seinen  Verpflichtungen  zum  ersten 
Opfer  der  Gewalttaten  des  gemeinsamen  Feindes  ge- 
macht hat,  so  sehr  von  der  aufrichtigen  Freundschaft 
seiner  hohen  Verbündeten  überzeugt  und  ihrer  spe- 
ziellen Sorge,  ihm  eine  seinen  unschätzbaren  Verlusten 
und  der  Schmach,  die  seiner  Würde  und  seiner  könig- 
lichen Familie  angetan  ward,  entsprechende  Satis- 
faktion zu  verschaffen,  dass  er  ihnen  mit  vollständig- 
stem Vertrauen  auseinandersetzen  wolle,  wie  weit  er 

281 


seine  Ansprüche  gegen  den  Usurpator  seiner  Staaten 
stellen  und  welche  Art  der  Vergeltung  er  sowohl  von 
der  evidenten  Gerechtigkeit  seiner  Sache,  als  auch  von 
dem  Beistand  seiner  hohen  Alliierten  erwarten  müsse. 

„  In  diesem  Sinne  und  um  so  gut  als  möglich  die  für 
ihn  so  wichtigen  Artikel  eines  Traktats  zu  beraten  und 
vorzubereiten,  das  ein  ewiges  Denkmal  der  Weis- 
heit und  der  Gerechtigkeit  der  vertragschliessenden 
Mächte  sein  wird,  hat  S.  Majestät  geglaubt,  motivierte 
Grundzüge  ausarbeiten  lassen  zu  müssen,  sowohl  über 
seine  Entschädigungsansprüche  gegen  den  König  von 
Preussen  als  auch  über  andere  Massregeln  und  Ver- 
einbarungen, die  er  unter  den  gegenwärtigen  Um- 
ständen ebenfalls  für  wesentlich  hält,  zwecks  beson- 
derer Sicherstellung  seiner  Staaten  und  im  allgemei- 
nen Interesse  des  öffentlichen  Friedens  in  Deutsch- 
land. 

„Damit  alle  und  ein  jeder  von  diesen  Punkten, 
nach  vertraulicher  Diskussion  zwischen  seinen  Mi- 
nistern und  denen  der  befreundeten  Höfe,  provisorisch 
zwischen  ihm  und  seinen  hohen  Verbündeten  be- 
schlossen und  festgesetzt  werden  können,  um  in  das 
feierliche,  allgemeine  Friedenstraktat  aufgenommen 
und  durch  alle  Kontrahenten  unter  Wahrung  aller 
erforderlichen  und  in  solchen  Fällen  üblichen  For- 
malitäten Seiner  Majestät  garantiert  zu  werden. 

„Diese  Artikel  lauten: 

„  i .  Dass  der  König  von  Preussen  verpflichtet  werde, 
S.  M.  dem  König  von  Polen  und  Kurfürsten  in  natura 
oder  in  einem  Gegenwert  die  ganze  Artillerie,  Mu- 
nition und  das  Kriegsgerät  jeglicher  Art  rückzuer- 
statten, die  seit  dem  I.September  1756  aus  den  Ar- 

282 


senalen  des  Kurfürstentums  Sachsens  weggebracht 
wurden,  insbesondere  aus  Dresden,  Zeitz  und  Weissen- 
fels. 

„  2.  Dass  alle  Papiere,  Dokumente,  Titel  und  andere 
Effekten  des  Archivkabinetts  des  kurfürstlichen  Hau- 
ses von  Sachsen,  die  mit  solcher  Indezenz  geraubt 
wurden,  in  ihrer  Gesamtheit  durch  den  König  von 
Preussen  zurückgegeben  werden,  ohne  Abzug,  ohne 
jedwede  Ausnahme. 

„3.  Dass  alle  Kavallerie,  Infanterie- und  Dragoner- 
regimenter, mit  den  Korps  der  Artillerie,  der  Inge- 
nieure, Handwerker  und  anderer,  welcher  Art  sie 
auch  seien  und  welche  Bezeichnung  sie  auch  führen 
mögen,  die  zum  sächsischen  Militärstatus  gehört  und 
das  sächsische  Armeekorps  gebildet  hatten,  wie  es  sich 
1706  im  Lager  von  Pirna  befand;  und  ganz  allgemein 
alle  sächsischen  Untertanen,  die  freiwillig  oder  ge- 
zwungenermassen  am  Schlüsse  dieses  Krieges  in  den 
preussischen  Regimentern  eingereiht  sein  werden, 
insbesondere  die  adlige  Kadettenkompagnie  und  alle 
anderen  sächsischen  Edelleute,  die  der  König  von 
Preussen  durch  eine  unerhörte  Vergewaltigung  der 
Souveränitätsrechte  und  mit  beispielloser  Unmensch- 
lichkeit gezwungen  hat,  die  Waffen  gegen  ihren  le- 
gitimen Herrscher  zu  erheben,  ihm  getreulich  zurück- 
gegeben werden,  ohne  dass  irgend  einer  von  ihnen, 
unter  irgendwelchem  Vorwand  noch  in  irgendwel- 
chem Charakter,  im  Dienste  des  Königs  von  Preussen 
verbleiben  dürfe. 

„4-  Dass  das  Herzogtum  Magdeburg  mit  dem  ganzen 
Saalekreis,  der  Amtsbezirk  von  Petersberg,  das  Für- 
stentum Halberstadt  mit  all  seinen  zugehörigen  Rech- 
ten, die  territoriale  Oberhoheit  jenes  Teiles  der  Graf- 

283 


schaft  Mansfeld,  die  zum  Profit  des  Königs  von  Preussen 
sequestriert  wurde,  der  brandenburgische  Teil  der 
Grafschaft  Hohenstein  und  die  Schirmvogtei  Quedlin- 
burg von  den  Domänen  des  Königs  von  Preussen  ab- 
getrennt und  S.  M.  dem  König  von  Polen,  Kurfürsten 
von  Sachsen,  übergeben  werden,  um  für  ihn,  seine 
Erben  und  seine  Rechtsnachfolger  auf  ewig  mit  seinem 
Kurfürstentum  vereinigt  zu  werden. 

„Der  Artikel  XI  des  Traktats  von  Osnabrück,  der 
mit  so  offenkundiger  Bevorzugung  dem  Kurfürsten 
Friedrich  Wilhelm  von  Brandenburg  den  grössten  Teil 
seiner  Entschädigungsansprüche  zuerkannte,  hat  sie 
ihm  nur  gewährt  als  Kompensation  seiner  Rechte  auf 
Vorpommern  und  die  Insel  Rügen  und  als  Entgelt 
für  den  Eifer,  den  er  bezeugt  hat,  als  er  zur  Be- 
schleunigung des  Friedens  seine  Rechte  hierauf  an 
die  schwedische  Krone  abtrat;  wenn  die  Fürsten  und 
Staaten,  die  den  westfälischen  Frieden  kontrahier- 
ten, das  Opfer,  das  der  Kurfürst  Friedrich  Wilhelm 
damals  zugunsten  des  öffentlichen  Wohles  brachte, 
so  freigebig  entgalten,  welche  Busse  müssen  dann 
wohl  die  hohen  Alliierten,  die  Garanten  dieses  selben 
Friedens,  Friedrich  II.  vorbehalten,  der  seine  Bestim- 
mungen gebrochen  hat,  dadurch,  dass  er  mit  solchem 
Unrecht  den  in  Deutschland  wiederhergestellten  Frie- 
den gestört  hat. 

„Zu  bemerken  ist  ferner,  dass  diese  Zession  der 
Rechte  des  Hauses  Brandenburg  auf  Vorpommern, 
die  ihm  eine  so  vorteilhafte  Kompensation  eintrug, 
nicht  verhindert  hat,  dass  1676  dieses  selbe  zedierte 
Pommern  von  preussischen  Truppen  besetzt  wurde 
und  dass,  obwohl  es  1679  im  Frieden  von  Nim  wegen 
wieder  zurückgegeben  wurde,  der  grösste  Teil  dieser 

284 


Provinz  1710  nochmals  unter  die  Herrschaft  des  Kö- 
nigs von  Preussen  zurückgelangt  ist. 

„5.  Dass  von  den  Ländern  und  Besitzungen,  deren 
sich  der  König  von  Preussen  vor  dem  jetzigen  Kriege 
in  Westfalen  erfreut  hat,  durch  Tausch,  Übertra- 
gung, Mutation  oder  auf  irgend  einem  anderen  Wege, 
im  Einvernehmen  und  zum  grössten  Vorteil  des  Kur- 
fürsten von  Mainz  und  seines  Kurfürstentums,  ein 
Äquivalent  für  die  Stadt  Erfurt  an  der  Gera  und  das 
angrenzende  Eichsfeld  im  Werragebiet  gegeben  werde; 
welche  Stadt  Erfurt  mit  den  zwei  dazugehörigen  Forts 
von  Petersberg  und  Ciriaksburg  sowie  das  obenge- 
nannte Gebiet  von  Eichsfeld  mit  seinen  zwei  Städten 
Duderstadt  und  Heiligenstadt  ebenfalls  an  S.  M.  den 
König  von  Polen,  Kurfürsten  von  Sachsen,  abgetreten 
werden  sollen,  um  auf  ewig  mit  seinem  Kurfürsten- 
tum vereinigt  zu  werden. 

„Da  diese  Besitzungen  an  die  Landgrafschaft  Thü- 
ringen angrenzen  und  keinen  Zusammenhang  mit 
den  anderen  Domänen  des  Kurfürstentums  Mainz  ha- 
ben, ist  der  Vorschlag  Seiner  Majestät  für  beide  Kur- 
fürstentümer gleich  annehmbar;  und  damit  dieser 
Tausch  auch  allen  hohen  Alliierten  angenehm  und 
der  allgemeinen  Eintracht  zum  grössten  Nutzen  und 
Halt  gereiche  (da  Seine  Majestät  Grund  hat  zu  glau- 
ben, dass  der  grösste  Teil  der  dem  König  von  Preus- 
sen in  Westfalen  abgenommenen  Gebiete  dem  Pfalz- 
grafen von  Sulzbach  zugesprochen  werden  könnte, 
für  das,  was,  sei  es  direkt  oder  indirekt,  im  Wege  der 
Übertragung,  der  Indemnität  oder  der  Kompensation 
abgetrennt  würde  oder  abgetrennt  werden  könnte, 
um  die  Entschädigung  des  Kurfürsten  von  Mainz  für 
die  Abtretung  der  Städte  und  Gebiete  an  das  Kur- 

285 


fürstentum  Sachsen  leichter  durchzuführen),  könnte 
Seine  Majestät  für  seinen  Teil,  für  seine  Erben  und 
Rechtsnachfolger  in  der  gültigsten  Form  auf  die  An- 
sprüche und  Rechte  seines  kurfürstlichen  Hauses  auf 
die  ganze  Erbschaft  von  Cleve  und  Jülich  verzichten, 
die  ihm  sowohl  auf  Grund  der  Anwartschaft  zustehen, 
die  Kaiser  Maximilian  I.  dem  Kurfürsten  von  Sach- 
sen i486  verlieh,  die  am  8.  April  i52Ö  bei  der  Ver- 
mählung Sibyllas,  der  Tochter  Johanns,  Herzogs  von 
Cleve,  mit  dem  Kurfürsten  Johann  Friedrich  bestä- 
tigt wurde  und  in  zweiter  Linie  durch  den  Kaiser 
Ferdinand  I.  am  16.  Mai  1 644?  nach  dem  Tode  des 
letzten  Herzogs  von  Cleve,  ferner  durch  die  Investi- 
tur, welche  im  Jahre  1 6 1  o  durch  Kaiser  Rudolf  dem 
Kurfürsten  Christian  II.  verliehen  wurde,  und  haupt- 
sächlich als  Nachkomme  Sibyllas,  der  Schwester  Wil- 
helms, Herzogs  von  Cleve,  und  Tante  Johann  Wil- 
helms, des  letzten  Herzogs. 

„Es  ist  zu  diesem  Gegenstande  zu  bemerken,  dass 
die  einst  kaiserliche  Stadt  Erfurt,  als  sie  unter  dem 
Protektorat  des  Kurfürstentums  Sachsen  stand  (dem 
sie  hierfür  tributpflichtig  war),  diesem  1 663  nur  durch 
Beihilfe  französischer  Truppen  und  nur  dank  der  be- 
sonderen Protektion,  welche  Kaiser  Leopold  Anselm 
von  Umstadt,  damals  Kurfürsten  von  Mainz,  bezeugte, 
entrissen  wurde,  um  dem  Gebiet  von  Mainz  ange- 
gliedert zu  werden. 

„Dieses  alte  Recht  des  Kurfürstentums  Sachsen 
auf  die  Stadt  und  das  Gebiet  von  Erfurt  wurde  bei 
jeder  Gelegenheit  wieder  dargelegt,  insbesondere  beim 
letzten  Kongress  in  Aachen,  1748. 

„6.  Dass  die  Besitzungen  des  Königs  von  Preussen, 
die  in  der  Niederlausitz  Enklaven  bilden  und  allge- 

286 


mein  die  Bezeichnung  böhmische  Lehen  führen,  das 
sind:  Kottbus,  Peitz,  Storkow,  Beeskow  und  Sommer- 
feld, mit  den  dazugehörigen  Distrikten  und  ferner 
das  Fürstentum  Krossen  und  Züllichau  in  Schlesien 
gleichfalls  der  brandenburgischen  Herrschaft  entzo- 
gen werden,  um  auf  ewig  mit  dem  Kurfürstentum 
Sachsen  vereint  und  ihm  einverleibt  zu  werden. 

„7.  Dass  das  Traktat  von  Dresden  vom  Jahre  1745 
und  die  Konvention,  die  hernach  am  .  .  .  geschlossen 
wurde  und  die  Steuerangelegenheiten  betraf,  annul- 
liert und  kassiert  werden;  dass  alle  dort  aufgenom- 
menen Bestimmungen  als  nichtig  und  gänzlich  auf- 
gehoben angesehen  werden;  dass  also  infolgedessen 
die  ganze  Artillerie  und  andere  Militäreffekten,  wel- 
cher Art  sie  auch  sein  mögen,  die  aus  dem  Kurfür- 
stentum Sachsen  und  der  Stadt  Dresden  während  der 
Invasion,  die  dem  besagten  Traktat  von  i'J^S  vor- 
angegangen ist,  weggeführt  wurden,  an  S.  M.  den 
König  von  Polen  zurückgegeben  werden;  dass  ihm 
weiterhin  die  Million  Taler  zurückerstattet  werde, 
die  in  dem  Artikel  III  des  besagten  Traktats  abge- 
macht und  stipuliert  war  und  zu  Ostern  1746  auf 
der  Leipziger  Messe  mit  fünf  vom  Hundert  Zinsen, 
vom  23.  Dezember  i'jiS  an  gerechnet,  bezahlt  wer- 
den sollte. 

„8.  Sei  es,  dass  der  gegenwärtige  Umstand  der 
Waffenerfolge  1.  M.  der  Kaiserin  und  Königin  und 
der  Hilfsheere  der  hohen  Alliierten  den  König  von 
England,  Kurfürsten  von  Hannover,  zu  einer  gerechte- 
ren Auffassung  bringen  werde,  was  er  den  alten 
Pakten  der  Verbrüderung  zwischen  seinem  Hause 
und  dem  Hause  Sachsen  schulde  und  den  im  Ver- 
trag von  Warschau    1^4$  eingegangenen  Verpflich- 

287 


tungen  eines  Bündnisses  und  gegenseitiger  Verteidi- 
gung und  schliesslich  den  kaiserlichen  Reskripten, 
so  dass  er  die  Verpflichtungen  rückgängig  machen 
würde,  die  er  mit  dem  Brecher  des  öffentlichen  Frie- 
dens eingegangen  ist;  sei  es,  dass  er  bis  zuletzt  mit 
eigensinniger  Beharrlichkeit  die  Sache  des  Königs  von 
Preussen  teilen  und  mit  diesem  Fürsten  abwarten  und 
erst  dann  um  Frieden  bitten  werde,  wenn  er  hierzu 
in  jeder  Weise  gezwungen  sein  würde. 

„S.  M.  der  König  von  Polen,  Kurfürst  von  Sachsen, 
verlangt  ausdrücklichst,  dass  in  dem  einen  oder  dem 
anderen  der  oben  erwähnten  Fälle  die  hohen  Alliier- 
ten (in  Anbetracht  der  Gefahren,  welche  die  gemein- 
same Sache  durch  die  Zusammenziehung  der  Obser- 
vationsarmee  unter  dem  Befehl  des  Herzogs  von  Cum- 
berland  laufen  konnte  und  in  erster  Linie  durch  den 
Zeitverlust,  den  diese  Armee  der  Wirksamkeit  der 
Hilfsaktion  S.  K.  u.  K.  Majestät  zugefügt  hat,  die  als 
Garantin  des  westfälischen  Friedens  eine  Hilfsarmee 
in  Deutschland  einmarschieren  Hess,  speziell  um  die 
kurfürstlichen  Gebiete  Seiner  Majestät  zu  befreien) 
von  S.  M.  dem  König  von  England,  Kurfürsten  von 
Hannover,  fordern,  es  solle  die  Summe  von  dreiein- 
halb Millionen  Taler,  welche  dem  Kurfürsten  von 
Sachsen  aus  dessen  Privatschatulle  geliehen  wurde, 
mit  allen  Zinsen  annulliert  werden  und  das  Gebiet 
von  Schleusingen,  welches  von  S.  M.  dem  König  von 
Polen  dem  Kurfürsten  von  Hannover  als  Hypothek 
der  besagten  Schuld  von  dreieinhalb  Millionen  Ta- 
lern übergeben  wurde,  gleichfalls  in  rechtsgültiger 
Form  von  allen  auf  ihm  ruhenden  Lasten  befreit 
werden. 

„9.  Dass   zur  Erleichterung  des  Kurfürstentums 

288 


Kaiserin  Elisabeth 

(Original  im  Herzogl.  Anhalt.  Schlosse  Zerbst) 


Sachsen,  das  infolge  des  gegenwärtigen  Krieges  so 
lange  Zeit  verschuldet  sein  werde,  und  um  einen  Teil 
dieser  Verpflichtungen  zu  verringern,  die  die  Steuer 
überlasten,  bei  der  eventuellen  Verteilung  der  dein 
König  von  Preussen  in  Westfalen,  Geldern  und 
Ostfriesland  abgenommenen  Gebiete,  Städte  und  Für- 
stentümer ein  Teil  dieser  Besitzungen  dazu  bestimmt 
werde  (auf  dem  Wege  einer  Zession,  einer  Verpfän- 
dung, Hypothek  oder  auf  irgend  eine  andere  Art,  die 
man  für  besser  oder  angemessener  halten  würde),  Ka- 
pital und  Zinsen  abzulösen,  welche  die  Untertanen 
der  holländischen  Republik  von  den  öffentlichen 
Fonds  der  Steuer  zu  fordern  haben.  Die  Missgeschicke 
des  letzten  Krieges  vom  Jahre  1 74^  haben  die  Ein- 
künfte des  Kurfürstentums  auf  mehrere  Jahre  hinaus 
absorbiert;  die  unschätzbaren  Verluste,  die  der  ge- 
genwärtige Krieg  durch  Zerstörung  von  Häusern, 
durch  Entwertung  der  Länder,  durch  den  Ruin  der 
Manufakturen,  die  Versprengung  der  Einwohner  ver- 
ursacht hat;  die  Zugeständnisse,  die  S.  M.  der  König 
von  Polen  seinen  alten  Untertanen  wird  machen 
müssen,  vor  allem  den  Einwohnern  von  Leipzig,  die 
mit  so  exorbitanten  Abgaben  belastet  worden  sind; 
und  was  er  an  Zeit  und  Einkünften  wird  opfern 
müssen,  um  das  Unglück  der  Feuersbrunst  von  Zittau 
wieder  gutzumachen,  der  nach  Leipzig  bedeutend- 
sten Handelsstadt  seines  Reiches,  —  dies  alles  würde 
Seine  Majestät  der  unheilvollen  Notwendigkeit  aus- 
setzen, die  ausserordentlichen  Finanzoperationen  zu 
mehren,  falls  man  nicht  das  Kurfürstentum  des  gröss- 
ten  Teiles  seiner  früheren  Schulden  entledigen,  es 
sozusagen  kurrent  machen  und  ihm  hierdurch  die 
Möglichkeit  bieten  würde,  nach  feststehenden  Regeln 

19   Poniatowski  2$9 


zu  handeln,  die  seinen  wahren  Interessen  und  auch 
denen  der  ganzen  Allianz  entsprechen  würden. 

„Auf  diesen  Prinzipien  fussend  und  bei  einer  Ge- 
legenheit, wo  S.  M.  der  König  von  Polen  einen  so 
eklatanten  Beweis  der  Freundschaft  seiner  hohen  Al- 
liierten erlangen  kann,  schlägt  er  ein  Arrangement 
mit  den  Generalstaaten  von  Holland  vor,  um  die  ge- 
samte Amortisation  von  Kapital  und  Zinsen  herbei- 
zuführen, welche  die  Untertanen  der  holländischen 
Republik  von  den  öffentlichen  Fonds  der  Steuer  zu 
beanspruchen  haben,  sei  es  durch  eine  Zession  oder 
eine'  Verpfändung  der  Stadt  und  der  Grafschaft 
Emden  oder  eines  Teils  von  Geldern,  sei  es  durch 
eine  Art  der  Abrechnung,  die  allgemein  als  die 
entsprechendste  für  alle  hohen  Alliierten  erachtet 
werden  würde,  um  die  besagte  Amortisation  durch- 
zuführen. 

„10.  Was  den  Herzog  von  Sachsen-Gotha  anlangt, 
den  nur  die  Aussichten  auf  eine  illegitime  Vergrösse- 
rung  auf  Kosten  des  kurfürstlich-sächsischen  Hauses 
bewogen  haben  können,  entgegen  den  Reskripten  des 
Kaisers  und  den  Konstitutionen  des  Reichs  der  Kon- 
föderation mit  dem  König  von  Preussen  beizutreten, 
und  der  durch  die  Vereinigung  seiner  Truppen  mit 
der  Armee  des  Herzogs  von  Cumberland  ganz  we- 
sentlich zur  Verlängerung  der  Bedrückung  beigetra- 
gen hat,  unter  der  das  Kurfürstentum  Sachsen  seit 
Beginn  dieser  Kampagne  zu  leiden  gehabt  hat  (indem 
er  den  Vormarsch  der  französischen  Hilfsarmee  ver- 
zögerte), so  überlässt  Seine  Majestät  es  den  hohen 
Alliierten,  die  Unrechtmässigkeit  und  Indezenz  dieses 
Vorgehens  zu  beurteilen  sowie  sich  über  die  Art  der 
Entschädigung  auszusprechen,  die  Seine  Majestät  von 

290 


ihm  zu  erwarten  berechtigt  ist,  um  hiermit  die  Not 
seiner  Untertanen  zu  lindern. 

„ii.  S.  M.  der  König  von  Polen  erhofft  im  Hin- 
blick auf  die  beständigen  Freundschaftsbande,  die  seit 
unvordenklichen  Zeiten  sein  Haus  mit  Österreich  einen, 
im  Hinblick  auf  die  Anhänglichkeit,  die  er  dessen 
Interessen  stets  bezeugt  hat,  und  endlich  im  Hinblick 
auf  die  unverbrüchliche  Treue,  mit  der  er  seinen 
Verpflichtungen  trotz  der  grössten  Missgeschicke 
nachgekommen  ist,  und  weil  es  für  S.  M.  den  König 
von  Polen  fast  eine  unbedingte  Notwendigkeit  ist,  un- 
behindert zwischen  seinem  Kurfürstentum  und  sei- 
nem Königreich  zu  verkehren  (welcher  Umstand  für 
die  Kaiserin  und  Königin  nur  von  geringer  Bedeu- 
tung ist  und  sein  muss),  —  so  hofft  also  S.  M.  der 
König  von  Polen,  dass  Ihre  K.  und  K.  Majestät  die 
Zession  des  Distrikts  von  Schwiebus  in  Schlesien  der 
Lostrennung  des  Fürstentums  Krossen  und  Züllichau 
folgen  lassen  wird,  das  unter  von  Ihren  Majestäten 
früher  beschlossenen  und  stipulierten  Bedingungen 
dem  König  von  Preussen  abgenommen  ward,  auf 
Grund  der  besonderen  Konvention  von  1745,  nach 
dem  Traktat  von  Warschau. 

„12.  Von  diesem  selben  Prinzip  unwandelbarer 
Freundschaft  geleitet  und  von  dem  aufrichtigen 
Wunsche  beseelt,  in  Gegenwart  und  Zukunft  alles 
aus  dem  Wege  zu  räumen,  was  Grund  zu  der  gering- 
sten Meinungsverschiedenheit  abgeben  könnte,  hofft 
S.  M.  der  König  von  Polen  und  Kurfürst  von  Sach- 
sen, dass  durch  das  zukünftige  Traktat  des  allgemei- 
nen Friedens  im  Namen  Ihrer  K.  u.  K.  Majestät  end- 
gültig der  Verzicht  auf  die  vorgeblichen  Hoheitsrechte 
über    die    Prinzen    und    Fürsten   von  Schwarzburg, 

19*  291 


Reuss,  Schwenburg  (?),  Liechtenstein  und  der  Mark 
Asch  statuiert  werden  wird. 

„i3.  Wie  auch  über  den  völligen  Verzicht  auf  das 
vorgebliche  Feudalrecht  der  Krone  Böhmens  auf 
Sonnewalde  in  der  Lausitz  und  einige  Gebiete  des 
Vogtlandes. 

„Das  sind  die  Hauptpunkte,  die  Seine  Majestät 
seinen  Alliierten  vorlegen  wollte  und  deren  Beant- 
wortung er  im  Namen  der  Freundschaft  und  der  Ge- 
rechtigkeit verlangt,  zur  besseren  Klärung  seiner 
Sache  und  zur  Sicherung  seines  Staates,  welche  Ant- 
wort klar  und  mit  gegenseitiger  Aufrichtigkeit  pro- 
visorisch erteilt  werden  möge,  in  Erwartung  des 
feierlichen  Friedenstraktats;  andererseits  verpflichtet 
sich  Seine  Majestät,  seinerseits  gleichfalls  mit  völliger 
Offenherzigkeit  auf  ein  anderes  Arrangement  oder 
einen  Vorschlag,  der  von  einem  seiner  hohen  Alliier- 
ten vorgebracht  werden  könnte,  zu  erwidern. 

„Die  offensichtlichen  Beweise  beständiger  Freund- 
schaft, die  Seine  Majestät  von  den  Fürsten  seiner 
Allianz  empfangen  hat,  gestatten  ihm  keine  Zweifel 
an  der  x^ufrichtigkeit,  mit  der  sie  gegenseitig  ihre  gu- 
ten Dienste  aufbieten  werden,  um  alle  Hindernisse 
und  alle  Schwierigkeiten  zu  beseitigen,  die  die  völlige 
Durchführung  eines  zur  Wiederherstellung  Sachsens 
so  wesentlichen  und  für  das  allgemeine  Wohl  und 
die  Buhe  von  ganz  Deutschland  so  nützlichen  Pro- 
jektes verzögern  könnten." 

Ich  übergab  dieses  Schriftstück  am  19.  September 
1757.  Als  Erwiderung  wurde  mir  am  7.  (18.)  Okto- 
ber folgende  Note  überreicht: 

„Um  dem  Verlangen  des  Herrn  bevollmächtigten 
Ministers  zu  entsprechen,  das  in  einer  Note  vom  1./12. 

292 


dieses  Monats  bekundet  wurde,  es  möge  ihm  ein 
Auszug  der  Schriftstücke  an  die  Gesandten  dieses 
Hofes  in  Wien  und  in  Paris  übergeben  werden,  durch 
die  sie  veranlasst  werden  sollen,  die  Schritte  der  Ge- 
sandten S.  M.  des  Königs  von  Polen  betreffs  seiner 
Entschädigungsansprüche  für  die  erlittenen  Verluste 
zu  unterstützen,  wird  ihm  hierdurch  der  Inhalt  einer 
diesbezüglichen  Depesche  an  den  Herrn  Botschafter 
Grafen  von  Kaiserling  zur  Kenntnis  gebracht  und 
ihm  zugleich  bekannt  gegeben,  dass  ein  gleichlau- 
tendes Schriftstück  an  Se.  Exz.  den  Herrn  Grafen  von 
Bestuschew-Riumin,  Gesandten  in  Paris,  abgegan- 
gen ist. 

Auszug  aus  einer  Depesche  an  den  Herrn  Grafen  von 
Kaiserling,  Gesandten  Russlands. 

„St.  Petersburg,  den  3o.  September  1757. 

„Graf  Poniatowski,  bevollmächtigter  Minister  S.  M. 
des  Königs  von  Polen  an  unserem  Hofe,  hat  bei  un- 
serem Ministerium  neue  Schritte  unternommen,  um 
unsere  Einwilligung  zu  der  Entschädigung  zu  erlan- 
gen, welche  sein  königlicher  Herr  für  die  Verluste 
zu  erhalten  wünscht,  die  das  kurfürstlich-sächsische 
Haus  bereits  erlitten  hat  und  noch  ei  leidet,  und  um 
uns  zu  bewegen,  diese  Entschädigungsansprüche  an 
den  Höfen  von  Wien  und  Frankreich  zu  befürworten. 

„Worauf  wir  dem  besagten  Grafen  Poniatowski 
haben  durch  unser  Ministerium  wissen  lassen,  Seine 
Majestät  der  König  könne  unserer  unwandelbaren 
Freundschaft  für  ihn  versichert  sein  und  unseres  so 
aufrichtigen  Wunsches,  seine  Interessen  zu  fördern; 
dass  wir  nicht  allein  eine  genügende  Kompensation 
für  die  Schäden  des  Kurfürstentums  Sachsen  gerecht- 

293 


fertigt  finden,  sondern  sogar  diesen  Wunsch  schon 
nachdrücklich  geäussert  haben,  so  dass  Seine  Maje- 
stät damit  rechnen  könne,  dass  der  Zuwachs  seiner 
Besitzungen  uns  nur  im  höchsten  Masse  angenehm 
sein  werde  und  dass  wir  infolgedessen  unseren  Mi- 
nistern an  den  Höfen  von  Wien  und  Frankreich  In- 
struktionen geben  werden,  auf  dass  sie  die  Verhand- 
lungen der  Minister  S.  M.  des  Königs  von  Polen  un- 
terstützen, soweit  es  nötig  und  angemessen  sein 
wird;  so  befehlen  wir  denn,  dass  Sie,  sobald  Sie 
durch  den  Minister  an  jenem  Hof,  an  dem  Sie  sich 
befinden,  von  dem  Stand  der  Verhandlungen  infor- 
miert und  gebeten  werden,  diese  zu  unterstützen,  Sie 
dies  nicht  ablehnen,  sondern  im  Gegenteil  die  Ver- 
handlungen so  dirigieren,  dass  trotz  unserer  Erklä- 
rung vom  6.  Mai  dieses  Jahres,  in  der  wir  eingewil- 
ligt haben,  dass  das  Fürstentum  Magdeburg  und  der 
Saalekreis  dem  König  von  Polen  zugesprochen  wür- 
den, nicht  daraus  gefolgert  werden  könne,  diese  Er- 
klärung beraube  den  König  von  Polen  des  Rechts 
einer  weitgehenderen  Reparation  der  erlittenen  Schä- 
den; und  dies  um  so  mehr,  als  sie  auf  Kosten  eines 
Fürsten  geschehen  soll,  der  schon  sozusagen  alle  Ar- 
ten der  Grausamkeit  erschöpft  hat,  um  Sachsen  zu 
bedrücken  und  zu  ruinieren,  während  andererseits  die 
Beständigkeit,  mit  der  der  König  von  Polen  alles  ge- 
opfert, und  die  Grossherzigkeit,  mit  der  er  alle  Frie- 
densvorschläge abgelehnt  hat,  sicherlich  besondere 
Anerkennung  verdienen  und  wir  infolgedessen  von 
der  Gerechtigkeit  I.  K.  u.  K.  Majestät  erwarten  dür- 
fen, dass  der  König  von  Polen  seine  Verhandlungen 
in  befriedigender  Weise  wird  zu  Ende  führen  kön- 
nen." 

294 


Ich  habe  alle  Ursache  zu  glauben,  dass  diese 
Sprache  aufrichtig  war,  aber  die  Talente  des  Königs 
von  Preussen  und  vor  allem  sein  Glück  überwogen 
den  vereinten  Willen  der  grössten  Mächte  Europas, 
obwohl  sie  es  weder  an  Mühen,  Kräften  noch  Aus- 
gaben fehlen  Hessen. 


295 


VIERTES    KAPITEL 

PORTRÄT  VON  MONSIEUR  L'HÖPITAL.  —  POR- 
TRÄT DES  GRAFEN  DE  RROGLIE.  —  BRIEF  DES 
KANZLERS  KAÜNITZ  AN  ESTERHAZY,  MEINE  PER- 
SON BETREFFEND.  —  TRAKTAT  ZWISCHEN  DEM 
WIENER  HOF  UND  DEM  GROSSFÜRSTEN  VOM  i5. 
JULI  1757.  —  MEMORIAL  BROGLIES  GEGEN 
MICH.  —  MEINE  ABBERUFUNG.  DAS  SCHREIBEN 
DES  KÖNIGS.  —  MEINE  ANTWORT.  —  BRIEF 
MEINES  VATERS.  —  BBIEF  AN  MEINE  FAMILIE 
VOM  2.  DEZEMBEB.  —  ROSSBACH.  —  LETZTE  ZU- 
SAMMENKUNFT MIT  WILLIAMS.  —  WIEDEREIN- 
SETZUNG IN  MEIN  AMT.  —  APRAXIN  IN  UN- 
GNADE. —  RILLETTS  DER  GROSSFÜRSTIN  UNTER 
APRAXINS  PAPIEREN.  —  NIEDERKUNFT  DER 
GROSSFÜRSTIN.  —  SCHLITTENUNFALL. 


■  IIIIIIIIIIIIIIIIIIUIIII 


] Frankreich  glaubte  den  Augenblick  gekommen,  wo 
_  es  den   Einfluss  wiedergewinnen  konnte,  den  es 
eine  Zeitlang  auf  Elisabeth  ausgeübt  hatte. 

Marquis  de  THopital  wurde  zum  Gesandten  am 
russischen  Hofe  ernannt,  mit  zahlreicher  Suite  und 
einem  prunkvollen  Apparat,  mit  dem  man  offenbar 
Eindruck  machen  wollte  und  auf  den  Monsieur  de 
THopital  selbst  die  Aufmerksamkeit  lenkte.  Er  liess 
ein  Bild  malen,  auf  dem  der  Übergang  seiner  drei- 
undzwanzig Karossen  über  die  Karpathen  dargestellt 
war,  und  zeigte  es  mit  Emphase. 

Er  war  Gesandter  in  Neapel  gewesen,  als  Karl  III., 
der  jetzige  König  von  Spanien,  dort  regierte.  Er  war 
mit  ihm  in  Velletri  gewesen,  vor  allem  aber  war  er  in 
Versailles  gealtert,  in  der  Eigenschaft  eines  Stallmei- 
sters von  Mesdames  de  France1),  den  Töchtern  Lud- 
wigs XV.  Er  vermeinte  den  Ton  des  Hofes  Lud- 
wigs XIV.  anzuschlagen  und  dessen  hochmütige  Höf- 
lichkeit zu  beherrschen,  indem  er  gar  hochtrabend 
Phrasen  und  Maximen  vortrug,  welche  für  die  Höf- 
linge des  grossen  Königs  ganz  besonders  charakteri- 
stisch waren;  im  Grunde  genommen  war  er  jedoch 
ein  recht  ungebildeter  Mensch  (wie  Madame  Geof- 

x)  Die  vier  unverheirateten  Töchter  Ludwigs  XV.,  Adelaide, 
Victoire,  Sophie,  Louise.   Anm.  d.  Herausg. 

298 


frin  es  mir  bereits  gesagt  hatte),  dessen  Allüren  mehr 
an  einen  alten  Komödianten  denn  an  einen  Seigneur 
gemahnten.  Er  hat,  so  gut  er  konnte,  zu  meinem 
Schaden  gearbeitet,  weil  auf  seiner  Durchreise  in 
Warschau  der  Gesandte  Frankreichs  bei  August  III. 
ihn  mit  Vorurteilen  gegen  mich  erfüllt  hatte. 

Dieser  Gesandte  war  Graf  de  Broglie l).  Als  er  seine 
Ernennung  für  Dresden  erhielt,  fragte  man  sich  in 
Paris  unter  Lachen:  „Will  denn  unser  König  dem 
König  von  Polen  den  Krieg  erklären?"  In  der  Tat, 
er  war  ein  kleiner  Brausekopf,  stolz,  herrschsüchtig, 
zänkisch,  masslos  unruhig,  was  er  schliesslich  zu  sei- 
nem eigenen  Schaden  und  dem  seiner  Familie  bewiesen 
hat,  jedoch  voll  Geist  und  arbeitsam,  obgleich  er  das 
Vergnügen  liebte;  er  wollte  Polen  und  Sachsen  ganz 
allein  regieren  und  es  erfüllte  ihn  mit  Unwillen,  dass 
Russland  am  Hofe  Augusts  III.  einen  so  bedeutenden 
Einfluss  hatte.  Er  bemühte  sich  um  meine  Abberu- 
fung, weil  er  glaubte,  ich  sei  englandfreundlich,  und 
weil  er  verhindern  wollte,  dass  infolge  meiner  An- 
wesenheit in  Russland  an  die  in  Polen  residierenden 
russischen  Minister  Weisungen  erteilt  würden,  welche 
den  Einfluss  meiner  Familie  hätten  heben  können, 
die  er  für  antifranzösisch  hielt.  Dennoch  widerstand 
Brühl  fast  während  des  ganzen  Jahres  1 767  seinem 
Drängen,  aus  Furcht,  er  könnte  Bestuschew  und  die 
Grossfürstin  verärgern,  und  weil  ich  den  Wiener  Hof 
für  mich  gewonnen  hatte  durch  einen  Dienst,  der  in 
damaliger  Zeit  wichtig  erscheinen  mochte. 

*)  Charles  Francois  Comte  de  Broglie  (1719 — 1781)  ward 
1  752  Gesandter  Frankreichs  am  Hofe  Augusts  III.  Er  bemühte 
sich  im  geheimen  Auftrag  Ludwigs  XV.,  dem  Prinzen  von  Conti 
den  Weg  zum  polnischen  Thron  zu  bahnen.   Anm.  d.  Herausg. 

299 


Da  ich  es  für  meine  Pflicht  hielt,  soweit  es  in 
meinen  Kräften  stand  zum  Besten  der  gemeinsamen 
Sache  die  Vorurteile  zu  zerstören,  die  der  Grossfürst 
dem  Grafen  Esterhazy  und  dessen  Hofe  entgegen- 
brachte, benützte  ich  hierzu  jede  Gelegenheit  des  Zu- 
sammenseins mit  diesem  Fürsten,  und  seit  dem  Früh- 
jahr des  Jahres  1707  gelang  es  mir  so  gut,  dass  dies 
den  Anlass  gab  zu  einem  Brief  des  Fürsten  Kaunitz  an 
den  Grafen  Esterhazy,  der  folgendermassen  lautete: 

„Wien,  den  26.  Mai  1757. 

„Mit  doppelter  Genugtuung  haben  Ihre  Majestät 
und  das  Ministerium  vernommen,  was  Ihnen  uns  mit- 
zuteilen beliebte,  dass  Herr  Graf  Poniatowski  sich 
aufrichtig  und  erfolgreich  bemüht  hat,  den  Gross- 
fürsten von  dem  schlechten  Eindruck  und  der  Ab- 
neigung abzubringen,  die  man  ihm  gegen  Ew.  Ex- 
zellenz eingeflösst  hat,  und  eine  mündliche  Aus- 
sprache über  diesen  Punkt  herbeizuführen. 

„Denn  einerseits  wird  die  Denkungsart  Ew.  Exzel- 
lenz hierdurch  um  so  gerechter  und  leidenschafts- 
loser erscheinen,  und  andererseits  wird  nicht  der 
mindeste  Zweifel  darüber  bestehen  bleiben,  was  Ew. 
Exzellenz  uns  so  oft  über  die  freundschaftliche  und 
vorsichtige  Konduite  des  Herrn  Grafen  Poniatowski 
versichert  haben. 

„Das  Vorurteil,  das  man  anfänglich  gegen  oben 
genannten  Grafen  nährte,  war  in  Wirklichkeit  sehr 
stark  und  schien  auch  nicht  ungerechtfertigt  und  un- 
begründet zu  sein;  aber  da  unser  Hof  gewöhnt  ist, 
eher  das  Gute  als  das  Schlechte  von  einem  Minister 
anzunehmen,  der  scharfsichtig  und  auf  seine  Ehre  be- 
dacht ist,  war  man  hier  sehr  erfreut,  eines  besseren 
belehrt  zu  werden,  und  Ew.  Exzellenz  werden  die 

3oo 


Intensionen  unseres  Hofes  erfüllen,  wenn  Sie  dem 
Herrn  Grafen  Poniatowski  unbedingtes  Vertrauen 
entgegenbringen  und  in  Übereinstimmung  mit  ihm 
handeln. 

„Ich  habe  die  Ehre,  usw." 

Am  i5.  Juli  wurde  folgendes  Traktat  unterzeich- 
net: 

„Wir  geben  kund,  dass  die  Kaiserliche  Majestät 
der  Königin  von  Ungarn  und  Böhmen,  nachdem  sie 
es  unter  diesen  Umständen  für  gut  befunden  hat,  mit 
Seiner  Kaiserlichen  Hoheit  dem  Grossfürsten  aller 
Reussen  und  regierenden  Herzog  von  Schleswig-Hol- 
stein bezüglich  seiner  holsteinischen  Truppen  zu  kon- 
ferieren und  sich  gleichzeitig  mit  ihm  in  seiner  Ei- 
genschaft als  Fürst  des  Reiches  enger  zu  liieren,  und 
nachdem  S.  K.  Hoheit  gemäss  seinen  Gefühlen  der 
Freundschaft  und  des  Patriotismus,  sowohl  als  Gross- 
fürst des  russischen  Imperiums  als  auch  als  Glied  des 
Römischen  Reiches,  sich  in  der  einen  wie  in  der  an- 
deren Beziehung  gleich  geneigt  gezeigt  hat,  —  hat 
I.  K.  u.  K.  Majestät  ihren  wirklichen  geheimen  Rat 
und  Kammerherrn  Grafen  Nikolaus  Esterhazy,  Pala- 
tin  der  ungarischen  Krone  und  zur  Zeit  Gesandten 
am  Kaiserlich  russischen  Hofe,  Ritter  des  Skt.  An- 
dreas- und  des  Alexander  Newski-Ordens,  ernannt 
und  autorisiert,  um  auf  dieser  Grundlage  eine  Kon- 
vention vorzubereiten,  wogegen  S.  K.  Hoheit  seiner- 
seits seinen  wirklichen  Konferenzrat  und  Kammer- 
herrn Gottlieb  Georg  Heinrich  Baron  von  Stambke, 
Ritter  des  Skt.  Annen-Ordens,  ernannt  hat;  nach 
Beratung  und  Austausch  ihrer  Vollmachten  haben 
diese  beiden  beschlossen : 

„i.  Seine  K.    Hoheit   der  Grossfürst    verpflichtet 

3o  i 


sich,  nicht  nur  seine  holsteinischen  Truppen  stets 
vollzählig  und  auf  der  jetzigen  Höhe  zu  halten  son- 
dern auch  in  einem  solchen  Zustand,  dass  sie  jeder- 
zeit bereit  seien,  sich  unter  den  Befehl  Ihrer  Majestät 
der  Kaiserin  und  Königin  zu  begeben,  für  den  Fall, 
dass  Ihre  Majestät  je  nach  den  Umständen  es  für  gut 
befinden  sollte,  davon  Gebrauch  zu  machen  und  sich 
mit  S.  K.  Hoheit  ins  Einvernehmen  zu  setzen. 

„2.  Ebenso  verspricht  S.  K.  Hoheit  und  verpflich- 
tet sich  feierlichst,  während  der  jetzigen  Wirren  im 
Reich  stets  die  Interessen  I.  M.  der  Kaiserin  und  Kö- 
nigin im  Auge  zu  behalten,  sowohl  in  seiner  Eigen- 
schaft als  russischer  Grossfürst  —  in  Anbetracht  der 
Konformität  der  Absichten  beider  kaiserlicher  Höfe, 
und  der  hieraus  folgenden  engen  Union  zwischen 
diesen  —  als  auch  besonders  in  seiner  Eigenschaft 
als  Glied  des  Römischen  Reiches,  und  wird  deshalb 
seinen  Ministern  im  .Landtage  und  in  den  Bezirken 
des  Reichs  anordnen,  stets  im  besten  Einvernehmen 
mit  den  Ministern  I.  K.  u.  K.  Majestät  zu  verharren 
und  es  stets  als  ihre  vornehmste  Pflicht  anzusehen, 
immerdar  und  in  allen  Angelegenheiten  ihre  Stim- 
men zugunsten  I.  K.  u.  K.  Majestät  abzugeben. 

„3.  Hierfür  und  vor  allem,  um  S.  K.  Hoheit  einen 
in  bezug  auf  die  Equipierung  seiner  oben  erwähnten 
holsteinischen  Truppen  entsprechenden  Vorschuss 
zuteil  werden  zu  lassen,  verspricht  und  verpflichtet 
sich  I.  K.  u.  K.  Majestät,  vom  Tage  der  Unterzeich- 
nung dieser  Konvention  ab  S.  K.  Hoheit  in  Ham- 
burg jährliche  Subsidien  von  hunderttausend  Flo- 
rins  (oder  fünfzigtausend  kaiserlichen  Talern)  in  bar 
in  zwei  Raten  von  sechs  zu  sechs  Monaten  und  im 
voraus  auszahlen  zu  lassen,  und  zwar  derart,  dass  die 

J02 


erste  Zahlung  erst  nach  Austausch  der  Ratifikationen 
erfolgen  soll. 

„4-  Die'se  Konvention  soll  in  allen  Punkten  so 
lange  in  Kraft  bleiben,  als  der  gegenwärtige  Krieg 
dauern  wird,  und  noch  ein  Jahr  nach  dem  Frieden; 
nach  Ablauf  dieser  Frist  bleibt  es  den  beiden  hohen 
Kontrahenten  vorbehalten,  sie  entweder  zu  annullie- 
ren oder  für  einige  Jahre  zu  erneuern. 

„5.  Die  vorliegende  Konvention,  von  der  zwei 
gleichlautende,  von  beiden  Bevollmächtigten  unter- 
zeichnete und  gesiegelte  Exemplare  ausgefertigt  wer- 
den, soll  von  den  beiden  hohen  Kontrahenten  ratifi- 
ziert und  die  betreffenden  Ratifikationen  so  schnell 
als  möglich  und  spätestens  in  einem  Zeitraum  von 
zwei  Monaten  ausgetauscht  werden. 

„St.  Petersburg,  den  i5.  Juli  17.^7." 

Wer  je  Peter  III.  und  seinen  preussischen  Fanatis- 
mus gekannt  hat,  den  wird  es  nicht  wundernehmen, 
welchen  Wert  der  Wiener  Hof  damals  dem  Dienste 
beimass,  den  ich  ihm  erwiesen,  indem  ich  den  Gross- 
fürsten zu  diesem  Schritte  bewog;  später  hat  man  es 
wohl  vergessen,  aber  in  jener  Zeit  hat  es  mir  die  auf- 
richtige Zuneigung  des  Grafen  Esterhazy  eingetragen, 
und  diese  hat  mir  geholfen,  mich  während  einiger 
Monate  des  Jahres  1766  und  des  Jahres  1 767  gegen 
die  Manöver  Frankreichs  zu  verteidigen;  dennoch 
wurde  meine  Abberufung  beschlossen,  als  Broglie 
folgendes  Memorial  in  Warschau  vorlegte1): 

*)  Anmerkung  des  Königs:  Dieses  Schriftstück  sowie  alle  fol- 
genden befinden  sich  in  dem  Manuskriptenbuch  der  Akten, 
die  sich  auf  meine  Mission  beziehen ;  es  wird  im  Archiv  ver- 
wahrt. 

3o3 


„Den  25.  Oktober  1767. 

„Se.  Exzellenz  der  Herr  Gesandte  von  Frankreich 
hat  bei  seiner  gestrigen  Unterredung  mit  Sr.  Exzel- 
lenz dem  Herrn  Grafen  von  Brühl  mit  grosser  Genug- 
tuung festgestellt,  dass  die  Eröffnungen,  die  er  be- 
züglich der  Mission  des  Herrn  Grafen  Poniatowski 
am  russischen  Hofe  vorzubringen  die  Ehre  hatte,  ihn 
von  den  Gefahren  überzeugt  haben,  die  daraus  resul- 
tieren können,  und  dass  er  entschlossen  war,  S.  M. 
dem  König  von  Polen  die  unumgängliche  Notwendig- 
keit sofortiger  Abberufung  vorzustellen.  Dem  Herrn 
Gesandten  wird  es  ein  Vergnügen  sein,  zur  Kenntnis 
seines  Hofes  zu  bringen,  welches  Entgegenkommen 
Herr  Graf  von  Brühl  in  dieser  Sache  bezeugt  hat, 
und  weil  er  ihm  dieses  Verdienst  nicht  schmälern 
wollte,  hat  er  ihm  bei  dieser  Unterredung  keine  Kennt- 
nis der  Orders  gegeben,  die  er  vom  König,  seinem  Herrn, 
erhalten  hatte  und  die  folgend ermassen  lauteten: 

„Dass  der  Aufenthalt  des  Grafen  Poniatowski  am 
Petersburger  Hofe  äusserst  gefährlich  sei,  sowohl  we- 
gen der  Bevorzugung  Englands,  um  die  er  sich  dort 
noch  bemühe,  als  auch  wegen  der  Instruktionen,  die 
ihm  von  seiner  Familie  zuteil  werden  könnten,  und 
dass  infolgedessen  der  Herr  Gesandte  seine  Rückbe- 
rufung bewerkstelligen  müsse,  wodurch  er  Seiner 
Majestät  einen  grossen  Dienst  erweisen  werde;  dass  er 
die  Wichtigkeit  der  Angelegenheit  verstehen  müsse; 
dass  die  Art,  wie  Herr  Graf  von  Brühl  diesen  Vor- 
schlag aufnehmen  werde,  als  Prüfstein  seiner  Gesin- 
nung dienen  solle;  des  ferneren,  dass  Mylord  Stor- 
mond1)  gewiss  versuchen  werde,  diese  Unterhand- 
x)  David  Murrav  Viscount  ofStormond,  nachmals  Lord  Mans- 
field  (1727 — 1796),  hatte  damals  seine  politische  Karriere  be- 

3o4 


ALEXY'COMES  -DJ>BESTÜSCHEF*RIUMIN 

CAXC  E  LU  \  RIÜ  S  •  KTC  KTC  - 
MDCCLV 


lung  beim  Herrn  Grafen  von  Brühl  zu  durchkreuzen, 
sowohl  um  nicht  in  Petersburg  den  Agenten  seines 
Hofes  zu  verlieren,  als  auch  wegen  meiner  Beziehun- 
gen zu  dem  Hause  Czartoryski;  es  sei  wünschens- 
wert, dass  auch  dieser  Minister  Englands  Polen  ver- 
lasse." 

So  wurde  mir  denn  auch  mein  Abberufungsschrei- 
ben durch  einen  französischen  Kurier  zugestellt. 

Am  selben  Tage  erhielt  ich  auf  anderem  Wege 
folgendes  Schreiben  des  Königs: 

„Mein  lieber  Herr  Stolnik1)  von  Litauen. 
„Ich  habe  so  oft  Veranlassung  gehabt,  mit  der  bis- 
herigen Art  der  Ausübung  Ihres  Amtes  am  russischen 
Hofe  zufrieden  zu  sein,  wo  Sie  sich  mit  allem  er- 
denklichen Eifer  für  meine  Interessen  eingesetzt  ha- 
ben, dass  ich  im  gegebenen  Zeitpunkt  mich  Ihnen 
hierfür  erkenntlich  erweisen  werde.  Da  jedoch  der 
König  von  Frankreich  Sie  im  Verdacht  hat,  dass  Sie 
eine  besondere  Neigung  für  England  hegen  und  ein 
geheimes  Einverständnis  unterhalten,  welches  die 
Interessen  dieser  Krone  im  selben  Masse  begünstigt, 
als  es  für  ihn  selbst  und  die  gemeinsame  Sache 
im  allgemeinen  schädlich  ist,  so  hat  er  mich  instän- 
digst bitten  lassen,  Sie  unverzüglichst  abzuberufen, 
und  er  will  darin  einen  Beweis  der  Aufrichtigkeit 
meiner  Freundschaft  für  ihn  erblicken.  Demnach 
werden  Sie  verstehen,  dass  es  uns,  vor  allem  unter 

gönnen,  die  er  später  in  Wien  und  Versailles  fortzusetzen  ver- 
mochte.  Sein    angeborenes   Taktgefühl   ermöglichte  es  ihm, 
während  des  ganzen  Siebenjährigen  Krieges  in  Warschau  aus- 
zuhalten. Anm.  d.  Herausg. 
*)  Truchsess. 

20   Poniatowski  3o5 


den  gegenwärtigen  Umständen,  unmöglich  war,  ihm 
diesen  Gefallen  zu  versagen.  Also  schicke  ich  Ihnen 
beifolgend  Ihre  Abberufung,  von  der  Sie  möglichst 
rasch  Gebrauch  machen  werden;  Sie  werden  Ihre 
Abreise  beschleunigen,  da  jede  Verzögerung  nur  An- 
lass  zu  neuen  Klagen  und  Unzufriedenheiten  geben 
kann.  Ich  bete  zu  Gott,  er  möge  Sie,  mein  lieber  Herr 
Stolnik  von  Litauen,  in  seinem  Schutz  und  seiner 
heiligen  Obhut  bewahren. 

„Gegeben  zu  Warschau,  den  3o.  Oktober  1767. 

„August,  König." 

Meine  Antwort  hierauf  lautete : 

„Sire, 

Mit  tiefster  Ehrfurcht  habe  ich  den  Brief  und  die 
Befehle  Ew.  Majestät  vom  3o.  Oktober  entgegenge- 
nommen; ich  fühle  mich  vollauf  belohnt,  da  Ew. 
Majestät  meinen  Eifer  und  meine  Dienste  anerkennen. 
Die  Billigung  Ew.  Majestät  ist  mein  grösstes  Lob,  ich 
strebe  nach  nichts  anderem.  Hätte  ich  die  Ehre  ge- 
habt, Ew.  Majestät  im  Kriege  zu  dienen,  so  hätte  ich 
willig  Blut  und  Leben  für  die  Sache  Ew.  Majestät 
hingegeben,  weil  sie  gerecht  ist  und  ich  Ew.  Maje- 
stät ergebener  Diener  bin ;  um  so  mehr  ist  es  meine 
Pflicht,  von  hier  abzureisen,  und  ich  werde  mit  dem 
stolzen  Bewusstsein  reisen,  dass  ich  auch  dadurch 
Ew.  Majestät  diene.  Im  übrigen  bin  ich  unbesorgt, 
da  ich  mich  unschuldig  weiss,  und  ich  glaube  mich 
über  jede  Rechtfertigung  erhaben,  solange  nur  mein 
Fürst  keinen  Verdacht  gegen  mich  hegt. 

„Ich  habe  die  Kopie  meines  Abberufungsschrei- 
bens vorgestern  im  Ministerium  vorgelegt,  eine 
Stunde   nachdem  ich    es   erhalten,    und  sobald  die 

3o6 


Kaiserin  mir  Audienz  gewährt  haben  wird,  werde  ich 
meine  Rückkunft  beschleunigen,  —  soweit  diese  un- 
erwartete Abreise  und  meine  häuslichen  Massnahmen 
es  gestatten  werden,  —  um  Ew.  Majestät  die  Ver- 
sicherung meines  tiefsten  Respekts,  meiner  eifrigen 
Anhänglichkeit  und  meiner  grenzenlosen  Ergeben- 
heit zu  Füssen  zu  legen,  mit  der  ich  die  Ehre  habe, 
Ew.  Majestät  untertänigster,  ergebenster  und  ge- 
treuester  Diener  zu  sein. 

„St.  Petersburg,  den  11.  November  1757." 

Zur  selben  Zeit  schrieb  mir  mein  Vater  unter  dem 
3o.  Oktober  folgendes: 

„Deine  unerwartete  Abberufung  hat  mich  veran- 
lasst, den  König  um  eine  Audienz  zu  bitten,  bei  der 
ungefähr  folgendes  erörtert  wurde: 

„Ich  habe  Seiner  Majestät  gesagt,  es  schmeichle 
mir  das  Bewusstsein,  dass  meine  Ehrfurcht  und  An- 
hänglichkeit für  die  Person  des  Königs  ihm  bekannt 
sei,  da  ich  nicht  einen  Augenblick  von  ihr  abgewichen 
bin.  Ich  habe  den  König  daran  erinnert,  dass  nicht 
ich  ihn  um  deine  Mission  gebeten,  sondern  dass  ich, 
sobald  ich  erfahren,  dass  Se.  Majestät  dich  für  fähig 
halte,  ihm  zu  dienen,  sofort  meine  Einwilligung  zu 
deiner  Mission  erteilt  habe,  alle  Erwägungen  beiseite 
lassend,  du  könntest  auf  deine  Person  und  auf  unsere 
ganze  Familie  den  Hass  der  Mächte  herabziehen,  die 
Russlands  Einmischung  in  die  europäischen  Ange- 
legenheiten nur  ungern  sehen,  und  den  Hass  eines 
grossen  Teiles  unserer  Landsleute,  die  auf  Antrieb 
der  Fremden  den  Einzug  der  Russen  in  Polen  im 
schlechtesten  Licht  darzustellen  versuchen;  dass 
Brühl  mir  gestern  durch  den  Rat  Schmidt  sagen  liess, 

20*  307 


du  seiest  auf  Frankreichs  Ersuchen  abberufen  wor- 
den ;  dass  ich  fürchtete,  du  hättest  dir  die  Ungnade 
Sr.  Majestät  zugezogen;  deshalb  wäre  ich  gekom- 
men, Se.  Majestät  anzuflehen,  wenn  dem  nicht  so  sei, 
möge  er  es  mir  selbst  sagen.  Daraufhin  geruhte  der 
König  mir  zu  antworten :  Er  habe  stets  allen  Grund 
gehabt,  sich  meiner  Anhänglichkeit  an  seine  Person  und 
seine  Sache  zu  rühmen,  er  entsinne  sich  genau,  dass  du 
einzig  und  allein  au  f  seinen  Wunsch,  und  ohne  dass  ich 
darum  ersucht  hätte,  nach  Russland  gegangen  seiest:  er 
sei  so  mit  dir  zujrieden,  dass  er  dem  Lob  über  dein  Ver- 
halten nur  beistimmen  könne  und  dir  stets  sein  Wohl- 
ivollen  und  seine  Gnade  beweisen  werde. 

„Ich  ergriff  wieder  das  Wort  um  zu  sagen,  ich  sei 
nicht  gekommen,  deine  neuerliche  Berufung  oder 
deinen  Verbleib  in  Petersburg  zu  erbitten,  ich  müsse 
aber  Se.  Majestät  untertänigst  anflehen  in  Betracht 
zu  ziehen,  dass  das  Publikum  und  vor  allem  unsere 
Feinde  deine  Abberufung  als  Ungnade  ansehen  oder 
als  solche  ausgeben  werden,  und  ich  müsse  infolge- 
dessen Se.  Majestät  bitten  zu  veranlassen,  dass  mein 
Sohn  unter  Ehren  und  Beweisen  seiner  Huld  aus 
diesem  Amte  scheide. 

„Ich  weiss  sehr  wohl,  so  sagte  ich,  dass  ja  nicht  je- 
derzeit eine  Vakanz  zu  besetzen  ist;  aber  die  Bewilli- 
gung einer  Pension  von  6000  Talern  bis  zum  Zeit- 
punkt irgend  einer  Vakanz  hängt  nur  vom  Willen 
Ew.  Majestät  ab.  Ich  denke,  Ew.  Majestät  werden  es 
nur  gerecht  finden  anzuordnen,  dass  die  Schulden, 
die  er  in  Petersburg  hat  machen  müssen,  bezahlt 
werden;  und  Schulden  müssen  vorhanden  sein,  da 
der  Stand  meiner  Angelegenheiten  mir  nicht  erlaubt 
hat,  genügend  zu  seinem  Unterhalt  beizutragen,  und 

3o8 


ausser  von  mir  hat  er  kein  Geld  erhalten,  um  sich  zu 
equipieren  und  seine  Auslagen  zu  decken. 

„Daraufhin  geruhte  der  König  zu  antworten:  ich 
müsse  doch  seine  Lage  verstehen  and  dass  er  in  die  Not- 
wendigkeit versetzt  worden  sei,  dich  abzuberufen,  da 
Frankreich  es  sogar  zu  Drohungen  kommen  Hess,  es 
werde  ihn  im  Stiche  lassen,  wenn  er  dich  nicht  abberufe; 
dass  nur  die  Subsidiär  Frankreichs  und  Russlands  ihm 
die  Existenz  ermöglichten,  ohne  diese  hätte  er  auch 
nicht  ein  Stuck  Brot,  weder  für  sich,  noch  für  die  Kö- 
nigin; dass  er  nach  dem  Fauxpas  des  Herrn  Apraxin 
sich  nicht  mehr  auf  diesen  verlassen  könne  und  folglich 
genötigt  sei,  sich  an  Frankreich  als  letzte  Hilfsquelle  zu 
halten;  seine  Börse  sei  so  leer,  dass  es  ihm  trotz  der 
Notlage,  in  der  er  dich  sieht,  unmöglich  sei,  dir  diese 
Pension  zuzuweisen,  —  er  werde  jedoch  versuchen,  dir 
etwas  Geld  zukommen  zu  lassen;  er  sei  durchaus  nicht 
gegen  mich  oder  gegen  unsere  Familie  eingenommen 
und  noch  weniger  gegen  dich,  der  ihm  so  vortrefflich 
gedient,  woran  er  sich  stets  mit  Dankbarkeit  entsinnen 
werde.  Während  dieser  ganzen  Unterredung  herrschte 
eine  solche  Rührung,  dass  es  beinahe  zu  Tränen  ge- 
kommen wäre." 

Man  kann  sich  wohl  denken,  dass  die  Grossfürstin 
nicht  verfehlte,  Bestuschew  zu  veranlassen,  in  dieser 
Sache  seinen  Einfluss  geltend  zu  machen;  der  da- 
malige Günstling  Iwan  Iwanowitsch  Schuwalow  hatte 
solche  Achtung  vor  ihr,  dass  nicht  nur  er  mir  bei 
dieser  Gelegenheit  seinen  guten  Willen  bezeugte,  son- 
dern dass  sogar  die  Kaiserin  Elisabeth,  anstatt  mir  die 
Abschiedsaudienz  zu  gewähren,  um  die  ich  nachge- 
sucht hatte,  mir  vor  allen  Leuten  ihr  Bedauern  über 
meine  Abreise  ausdrückte  und  zwar  in  äusserst  gnä- 

3o9 


diger  Weise,  und  dies  fiel  um  so  mehr  auf,  als  es 
sonst  nicht  üblich  war,  dass  sie  an  Hoftagen  an  Mi- 
nister zweiten  Ranges  auch  nur  ein  Wort  richtete. 
Welche  Wirkung  dies  hatte,  kann  man  aus  mei- 
nem Brief  an  meine  Familie  vom  2.  Dezember  er- 
sehen. 

„Vor  ungefähr  drei  Wochen  hat  der  Kanzler  Be- 
stuschew  an  Brühl  geschrieben,  meine  Abberufung 
sei  eine  gegen  ihn  gerichtete  Feindseligkeit,  für  die 
er  Genugtuung  fordere;  er  verlange,  dass  ich  zum 
Kommissär  und  bevollmächtigten  Minister  der  Re- 
publik ernannt  und  nach  Petersburg  zurückbeordert 
werde,  für  alle  Differenzen  mit  Russland  bezüglich 
der  Grenzen,  Hajdamakenüberfälle  und  alles,  was 
zwischen  den  beiden  Staaten  zu  regeln  sei,  und  ins- 
besondere bezüglich  der  litauischen  Beschwerden  aus 
Veranlassung  des  russischen  Durchzugs;  ich  hoffe, 
dass  die  Antwort  günstig  sein  wird,  und  so  werde  ich 
denn  dem  Verlangen  Frankreichs  vorläufig  entspre- 
chen und  nach  Polen  kommen  und  werde  dann  wie- 
der nach  Petersburg  zurückkehren  können,  aber  nicht 
mehr  als  Gesandter  Sachsens,  sondern  als  ein  Mini- 
ster meines  Vaterlandes  und  mit  weit  mehr  Annehm- 
lichkeiten." 

Kurz  nach  meiner  Abberufung  traf  die  Nachricht 
von  der  Niederlage  der  Franzosen  bei  Rossbach1)  ein, 
was  zu  jenem  Zeitpunkt  den  Einfluss  Frankreichs  in 
der  grossen  Allianz  natürlich  verminderte;  Monsieur 
de  FHöpital  war  so  niedergeschlagen  und  beklagte 
dieses   Unglück   in   so  affektierter   und   lächerlicher 

*)  Am  S.November  1  707  besiegte  Friedrich  der  Grosse  bei  Ross- 
bach die  Franzosen  und  die  Reichsarmee.    Anm.  d.  Herausg. 

3  I  O 


Weise,  dass  es  den  Anschein  hatte,  er  bitte  das  Pu- 
blikum wegen  der  Ungeschicklichkeit  seiner  Lands- 
leute um  Verzeihung. 

Dies  half  mit,  den  Schlag  abzuschwächen,  den 
Broglie  mir  hatte  versetzen  wollen. 

Da  jedoch  der  Leser  fragen  könnte,  ob  ich  den 
Franzosen  durch  eine  gewisse  Anglomanie  nicht 
wirklich  berechtigten  Grund  zum  Argwohn  geliefert 
hatte,  so  muss  er  erfahren,  dass  kurz  vorher  Williams 
mir  hatte  sagen  lassen,  er  habe  sein  Abberufungs- 
schreiben erhalten  und  die  Abschiedsaudienz  sei  ihm 
gewährt  worden,  daher  bitte  er  mich,  ihn  bis  zu  sei- 
ner Abreise  freundschaftlich  zu  besuchen,  da  dies 
nunmehr  weder  falsch  gedeutet  werden  noch  ver- 
dächtig erscheinen  könne. 

Ich  teilte  diese  Meinung  und  ging  ihn  besuchen  ; 
der  Zufall  führte  jedoch  verschiedene  Umstände  her- 
bei, die  seine  Abreise  einige  Wochen  hindurch  von 
Tag  zu  Tag  verzögerten,  und  meine  Besuche  waren 
für  das,  was  man  von  ihnen  hielt,  vielleicht  zu  häu- 
fig, obgleich  zwischen  Williams  und  mir  hierbei  nie 
die  Rede  von  Geschäften  war  und  ich  ihn  fast  nie 
allein  sah.  Meine  Freundschaft  und  Dankbarkeit  für 
ihn  trugen  den  Sieg  über  die  Vorsicht  davon  als  ich 
sah,  in  welchem  Zustand  körperlicher  und  geistiger 
Niedergeschlagenheit  sich  dieser  Mann  befand,  den 
ich  während  so  vieler  Jahre  als  überlegenen  und 
sprühend-geistreichen  Menschen  gekannt  hatte. 

Einige  Befehle,  die  Bestuschew  dem  Prinzen  Wot- 
konski  erteilt  hatte,  der  damals  sich  erst  seit  kurzem 
in  Polen  aufhielt,  und  die  am  Hofe  Augusts  III.  trotz 
der  Gegnerschaft  Mniszechs  und  der  französischen 
Partei    manche    Begünstigung    meiner    Familie    zur 

3il 


Folge  hatten,  verstärkten  Broglies  Besorgnisse,  der 
mit  Unwillen  sah,  wie  Mylord  Stormond  von  meiner 
ganzen  Familie  herzlich  aufgenommen  und  ziemlich 
allgemein  ihm  vorgezogen  wurde,  jedoch  mehr  noch 
als  Mensch  denn  als  Minister. 

Das  alles  zusammen  hatte  die  Franzosen  gegen 
mich  aufgebracht. 

In  mein  Amt  wiedereingesetzt,  übte  ich  es  noch 
einige  Monate  aus,  jedoch  inmitten  der  heftigsten 
Stürme.  Einer  der  ersten  war  jener,  der  Apraxin  hin- 
wegfegte. 

Man  hat  gesehen,  wie  seine  Unfähigkeit  und  seine 
Fehler  auf  mein  Schicksal  zurückgewirkt  hatten;  sie 
veranlassten  schliesslich  die  Kaiserin  Elisabeth,  Gene- 
ral Fermor  an  Apraxins  Stelle  zu  setzen  und  diesen 
sogar  verhaften  und  als  Staatsgefangenen  nach  Pe- 
tersburg bringen  zu  lassen,  wo  er  sich  wegen  der  ge- 
gen ihn  erhobenen  Anklage  des  Hochverrats  verant- 
worten sollte.  Das  Haus  Österreich  glaubte  ihn  der 
Kollusion  mit  dem  König  von  Preussen  überführen 
zu  können;  Esterhazy  hegte  sogar  den  gleichen  Ver- 
dacht gegen  den  Grosskanzler  Bestuschew,  Apraxins 
Beschützer.  Der  französische  Hof  dachte,  durch  Auf- 
rollung dieser  Angelegenheit  nicht  allein  einen  Schlag 
gegen  Bestuschew  zu  führen,  dessen  durchaus  anti- 
gallikanische  Gesinnung  ihm  bekannt  war,  sondern 
er  hoffte  sogar  die  Grossfürstin  zu  treffen,  die  er  der 
Anglomanie  beschuldigte. 

Die  Beschlagnahme  der  Papiere  Apraxins  brachte 
Bestuschews  Privatbriefe  an  Apraxin  zutage,  worin 
er  ihn  als  Freund  beschwor,  mit  grösster  Energie  die 
Befehle  auszuführen,  die  er  ihm  als  Minister  in  den 
offiziellen  Depeschen   erteilte,   und   den  König   von 

3  I  2 


Preussen  möglichst  empfindlich  heimzusuchen;  es 
wurden  in  dieser  Korrespondenz  auch  drei  Billetts 
von  der  Hand  der  Grossfürstin  vorgefunden,  worin 
sie  A praxin  ermunterte,  seine  Pflicht  zu  erfüllen  und 
auf  Kosten  des  Königs  von  Preussen  der  russischen 
Armee  Ehre  zu  machen. 

Es  schien,  dass  diese  Entdeckungen  den  Kredit  des 
Kanzlers  bei  Elisabeth  stärken  und  seine  Feinde  de- 
mütigen sollten;  diese  waren  auch  tatsächlich  im  er- 
sten Augenblick  recht  bestürzt;  doch  bald  verstan- 
den sie  es,  sogar  hieraus  neue  Waffen  gegen  Bestu- 
sehew  zu  schmieden.  Sie  sagten  der  Kaiserin,  es  sei 
schon  eine  schwerwiegende  Übertretung,  die  Gross- 
fürstin veranlasst  zu  haben,  in  Staatssachen  heimlich 
an  Apraxin  zu  schreiben ;  sie  betonten  den  äusserst 
lebhaften  Stil  dieser  Billetts  der  Grossfürstin;  sie 
machten  Elisabeth  darauf  aufmerksam,  dass  die 
Grossfürstin  an  Apraxin  wie  an  eine  ihr  ergebene 
Kreatur  schrieb  und  als  würde  die  Fortdauer  ihrer 
Gunst  und  infolgedessen  seiner  Zukunftshoffnungen 
von  seinem  Verhalten  im  gegenwärtigen  Kriege  ab- 
hängen. Dann  gingen  sie  dazu  über,  der  Kaiserin  vor- 
zustellen, dass  eine  mächtige  Partei  bereits  existiere, 
oder  doch  im  Begriff  sei  sich  zu  bilden,  deren  Ziel 
die  Entthronung  Elisabeths  wäre  und  die  Einsetzung 
des  Grossfürsten,  in  dessen  Namen  seine  Frau  regie- 
ren würde,  gestützt  auf  Bestuschews  Rat,  dessen  Ehr- 
geiz und  Kühnheit  allgemein  bekannt  waren.  Dieses 
Thema  wurde  mit  allen  Schlichen  und  Verleumdun- 
gen verbrämt,  deren  die  Schlechtigkeit  der  Höflinge 
und  die  Politikder  Höfe  fähig  ist,  besonders  wenn  — 
wie  damals  in  Russland  —  Furcht  sie  anspornt,  wie  es 
bei  den  Schuwalows  und  Woronzows,  den  Franzosen 

3i3 


und  Esterhazy  der  Fall  war,  die  befürchteten,  Russ- 
lands sämtliche  Angelegenheiten  alsbald  in  Bestu- 
schews  Händen  zu  sehen,  der  aus  verschiedenen 
Gründen  ihnen  allen  gefährlich  werden  konnte. 

Elisabeth  verfiel  damals  bereits  häufig  in  Krank- 
heiten und  man  konnte  ihr  kein  langes  Leben  pro- 
phezeien. Die  Grossfürstin  war  zu  jener  Zeit  mit  einer 
Tochter  niedergekommen,  die  1 769  starb.  Ich  sah  sie 
oft,  Narischkin  brauchte  ich  hierzu  nicht  mehr.  In 
einem  Wagen  oder  einem  Schlitten  begab  ich  mich  in 
die  Nähe  des  Schlosses  und  ging  dann  zu  Fuss  allein 
über  jene  kleine  Treppe,  über  die  Narischkin  mich 
das  erste  Mal  geführt  hatte;  die  dort  postierte  Schild- 
wache (anscheinend  wurde  sie  vorher  verständigt) 
stellte  mir  keine  Frage  und  legte  mir  kein  Hindernis 
in  den  Weg.  Manchmal  kam  die  Grossfürstin  als 
Mann  verkleidet  zu  festgesetzter  Stunde  auf  dem  glei- 
chen Wege  zu  meinem  Schlitten,  und  ich  führte  sie 
in  mein  Haus.  Eines  Tages,  als  ich  auf  sie  im  Schlit- 
ten wartete,  kam  ein  Korporal  herbei,  beobachtete 
mich  und  sprach  mich  sogar  an.  Ich  hatte  eine  grosse 
Mütze  aufgesetzt  und  war  ganz  in  einen  grossen  Pelz 
gehüllt.  Ich  tat  als  schliefe  ich,  wie  ein  Diener,  der 
auf  seinen  Herrn  wartet.  Ich  gebe  zu,  dass  es  mich 
trotz  des  herrschenden  furchtbaren  Frostes  heiss  über- 
lief; endlich  entfernte  sich  der  Fragesteller  und  die 
Prinzessin  kam;  aber  es  sollte  die  Nacht  der  Aben- 
teuer sein.  Mein  Schlitten  stiess  so  heftig  gegen  einen 
Stein,  dass  sie,  mit  dem  Gesicht  zu  Boden,  einige 
Schritt  weit  aus  dem  Schlitten  herausgeschleudert 
wurde.  Sie  rührte  sich  nicht;  ich  dachte  schon,  sie 
wäre  tot;  ich  sprang  herzu,  um  sie  aufzuheben;  sie 
kam  mit  einigen  Kontusionen  davon;  als  sie  jedoch 

3i4 


heimkehrte,  hatte  ihr  Kammerfräulein  infolge  eines 
Missverständnisses  die  Tür  des  Zimmers  nicht  offen 
gelassen;  sie  lief  die  grösste  Gefahr,  bis  schliesslich 
ein  glücklicher  Zufall  es  herbeiführte,  dass  die  Tür 
durch  eine  andere  Person  geöffnet  wurde. 


D  i  o 


FÜNFTES    KAPITEL 

NOTE  ANS  MINISTERIUM  VOM  i3.  FEBRUAR  1758 
ÜBER  DIE  AUSNUTZUNG  DER  EROBERUNG  PREUS- 
SENS  ZUGUNSTEN  SACHSENS.  —  NOTE  VOM  1  7. 
MÄRZ  ÜBER  DIE  APPROVISIONIERUNG  DES  HEE- 
RES UND  ÜBER  DIE  SCHONUNG  DER  BEWOHNER 
POLENS.  —  RRIEF  AN  DEN  GRAFEN  BRÜHL  VOM 
7.  MÄRZ  ÜBER  ELRING  UND  DANZIG.  BESTÜSCHEW 
IN  UNGNADE.  —  BRIEF  AN  BRÜHL  VOM  14.  MÄRZ 
WEGEN  EINER  VERZÖGERUNG  DER  REISE  DES 
PRINZEN  KARL.  DIE  OKKUPATION  VON  ELBING. 
—  BRIEF  AN  BRÜHL  VOM  17.  MÄRZ.  DIE  REISE 
DES  PRINZEN  KARL  SOLL  VERSCHOBEN  WERDEN ; 
IWAN  TSCHERNISCHEW  WIRD  ZU  SEINEM  PER- 
SÖNLICHEN DIENST  BESTIMMT.  MEINE  ERKRAN- 
KUNG. —  BRIEF  AN  BBÜHL  VOM  21.  MÄRZ. 
BESUCH  WORONZOWS.  GENERALLEUTNANT 
TSCHERNISCHEW  AN  STELLE  SALTYKOWS  BE- 
FEHLSHABER DES  NEUEN  KORPS.  RUSSLAND, 
ÖSTERREICH  UND  FRANKREICH  SOLLEN  POLEN 
DIE  RESTITUTION  ELBINGS  UND  SEINER  RECHTE 
GARANTIEREN.  —  BRIEF  AN  BBÜHL  VOM  24. 
MÄBZ.  SCHBEIBEN  DES  K ANZLEBS  M ALACHOWSKI 
UND  DES  BISCHOFS  VON  KIEW  SOLTYK.  JEDEN 
SAMSTAG  AUDIENZTAG  BEI  WORONZOW.  DIE 
REGIMENTER  VON  INGERMANLAND  UND  ASTRA- 
CHAN MARSCHBEREIT.  RÜCKZUG  DER  FRANZO- 
SEN AUS  HANNOVER.  PROJEKT  EINER  VERTEI- 
DIGUNG DER  OSTSEE  GEMEINSAM  MIT  SCHWE- 
DEN. PROJEKT  MIT  DÄNEMARK  BEZÜGLICH  HOL- 
STEINS. BROCKDORF  WIRD  BEGÜNSTIGT. 


Inzwischen  setzte  ich  nicht  nur  meine  Bemühun- 
gen für  die  persönlichen  Interessen  Augusts  III.  als 
Kurfürsten  von  Sachsen  fort,  sondern  auch  jene  für  den 
polnischen  Hof,  je  nachdem  die  Vorfälle  es  erheisch- 
ten; man  wird  es  aus  den  nachstehenden  Dokumen- 
ten ersehen. 

Note  ans  Ministerium  vom  i3.  (2.)  Februar  1758. 
„  Sr.  M.  dem  König  von  Polen  ist  die  erfreuliche  Nach- 
richt von  der  Okkupation  Brandenburgisch-Preussens 
mit  der  Stadt  Königsberg  durch  kaiserlich-russische 
Truppen  zugegangen;  Seine  Majestät  war  darüber 
ausserordentlich  erfreut,  wie  auch  über  die  Ordnung 
und  Disziplin,  die  diese  Truppen  auf  ihrem  Marsche 
eingehalten  haben,  was  ihnen  nicht  nur  zur  Ehre  ge- 
reicht, sondern  auch  zu  ihrem  Vorteil  ausschlägt,  da 
sie  sich  hierdurch  das  Wohlwollen  der  Einwohner 
zugezogen  haben,  die  sich  um  so  williger  unterwer- 
fen und  alles  zu  ihrem  Unterhalt  Nötige  herbeischaf- 
fen. Dieser  glückliche  Anfang,  zu  dem  der  König 
I.  M.  die  Kaiserin  beglückwünscht,  lässt  in  ihm 
gleichzeitig  die  Hoffnung  erstehen,  dass  man  hierbei 
nicht  stehen  bleiben,  sondern  sich  die  guten  Wege 
zunutze  machen  und  die  Truppen  auf  Pommern 
vorrücken  lassen  wird,  während  das  besondere,  für 
Schlesien  bestimmte  Korps  sich  auf  einem  anderen 

3i8 


Wege  nach  den  Ufern  der  Weichsel  begeben  wird. 
Man  kann  im  übrigen  versichert  sein,  dass  auf  diesen 
Märschen  nirgends  ein  Mangel  an  Lebensmitteln  ein- 
treten wird,  falls  die  Aufträge  rechtzeitig  erteilt  wer- 
den und  das  zum  Ankauf  der  Vorräte  nötige  Geld  be- 
reit gestellt  wird.  Der  Herr  Baron  von  Stein,  der  sich 
augenblicklich  in  Warschau  befindet,  erwartet  beides 
mit  Ungeduld,  da  er  ohne  Auftrag  und  prompte  Be- 
zahlung nicht  imstande  ist,  das  Korn,  das  er  bereits 
in  ziemlich  grossen  Mengen  aufgekauft  hat,  nach  den 
Magazinen  zu  schaffen;  zu  diesem  Transport  muss 
man  die  beste  Jahreszeit  benützen,  ehe  sie  vorbei  ist. 

„Die  Eroberung  Preussens  durch  die  Armeen  I.  M. 
der  Kaiserin  versetzt  die  erhabene  Fürstin,  deren 
Grossherzigkeit  sich  bei  jeder  Gelegenheit  offenbart, 
um  so  leichter  in  die  Lage,  dem  König  ihre  guten 
Intensionen  und  ihre  wahrhafte  Freundschaft  zu  be- 
zeugen, als  sie  dort  die  Mittel  finden  wird,  ihren 
Grossmut  zur  Unterstützung  Sachsens  und  im  beson- 
deren der  Stadt  Leipzig  zu  betätigen. 

„Es  ist  bekannt,  dass  der  König  von  Preussen  die 
Einwohner  dieser  Stadt  bereits  zur  Zahlung  einer 
Summe  von  über  anderthalb  Millionen  Talern  in  ba- 
rem Gelde  gezwungen  hat,  abgesehen  von  den  ande- 
ren immensen  Lieferungen,  die  man  für  seine  Armee 
zur  Verfügung  stellen  musste;  neuerdings  nun  ver- 
langt er  wieder  achthunderttausend  Taler  Kontribu- 
tion, welche  Summe  sie  unmöglich  auftreiben  kön- 
nen; dies  lässt  den  völligen  Ruin  der  Stadt  befürch- 
ten, deren  Handel  schon  in  den  letzten  Zügen  liegt. 
Es  würde  zu  weit  führen,  auf  die  Details  der  Bedräng- 
nisse einzugehen,  unter  denen  dieses  Land  im  allge- 
meinen zu  leiden  hat  und  deren  Ende  unglücklicher- 

3 19 


weise  noch  gar  nicht  abzusehen  ist.  I.  K.  Majestät 
könnte  diesen  Gewalttaten  ein  Ende  machen,  wenn 
sie  geneigt  wäre  zu  erklären,  sie  werde  gegen  die 
Einwohner  Preussens  und  vor  allem  gegen  die  Stadt 
Königsberg  Repressalien  anwenden  für  alles,  was  der 
König  von  Preussen  den  Einwohnern  Leipzigs  antun 
wird,  und  wenn  der  Vollzug  dieser  Erklärung  ohne 
Aufschub  exekutiert  würde. 

„In  voller  Anerkenntnis  der  Beweise  der  Freund- 
schaft, welche  die  Kaiserin  ihm  bezeugt  hat,  und  der 
grossen  Ausgaben,  welche  ihr  durch  den  Krieg  be- 
reits erwachsen  sind,  würde  der  König  keine  neuen 
Bitten  vorbringen,  wenn  nicht  durch  diesen  glückli- 
chen Umstand  der  Eroberung  Preussens  der  Plan, 
den  er  I.  K.  Majestät  vorschlägt,  leicht  auszuführen 
und  auch  für  das  allgemeine  Wohl  der  Allianz  von 
Vorteil  wäre. 

„Der  König  hat  gegenwärtig  bereits  12 — i3ooo 
Mann  eigener  sächsischer  Truppen,  davon  ein  Drittel 
gute  Kavallerie.  Diese  Zahl  setzt  sich  zusammen  aus 
jenen  Kavallerieregimentern,  welche  während  der 
ganzen  verflossenen  Kampagne  mit  so  grosser  Aus- 
zeichnung in  der  österreichischen  Armee  Dienste  ge- 
leistet haben,  und  aus  über  9000  Sachsen,  früheren 
Soldaten  des  Königs,  denen  es  gelungen  ist,  aus  der 
preussischen  Sklaverei  zu  flüchten,  und  die  in  Un- 
garn gesammelt  worden  sind.  Dieses  so  formierte 
Korps,  an  dessen  Spitze  der  König  S.  K.  Hoheit  den 
Prinzen  Karl  *),  seinen  Sohn,  zu  setzen  beabsichtigt, 
würde  sich  mit  der  Armee  der  Kaiserin  unter  dem 

*)  Karl  Prinz  von  Sachsen  (1  j33 — 1796),  dritter  Sohn  Au- 
gusts III.;  1758  erhielt  er  mit  Einwilligung  der  Kaiserin  Elisa- 
heth  das  Herzogtum  Kurland,  das  er  1763  nach  einer  Belage- 

3  20 


Oberbefehl  des  Herrn  Generals  Fermor  vereinigen  und 
gemäss  den  Dispositionen  vorgehen,  welche  man  für  die 
Operationen  dieser  Kampagne  gemeinsam  beschlies- 
sen  wird,  wenn  es  I.  K.  Majestät  belieben  würde,  an 
diesem  Projekt  Gefallen  zu  finden  und  ihrerseits  das 
einzige  dazu  beizutragen,  woran  es  dem  König  fehlt, 
um  das  Korps  mobil  zu  machen  und  es  zu  unterhal- 
ten, und  was  natürlich  aus  den  Kontributionen  ge- 
deckt werden  könnte,  die  man  von  Brandenburgisch- 
Preussen  fordern  und  von  denen  1.  K.  Majestät  einen 
für  diesen  Zweck  genügenden  Teil  zu  bestimmen  ge- 
ruhen würde. 

„Das  ist  der  Plan,  den  der  Unterzeichnete,  bevoll- 
mächtigter Minister  S.  M.  des  Königs  von  Polen,  die 
Ehre  hat  vorzulegen  und  von  dem  er  zu  hoffen  wagt, 
dass  I.  K.  Majestät  ihm  zustimmen  werde,  angesichts 
der  bewährten  Freundschaft  für  den  König  und  sei- 
ner den  wirklichen  Interessen  der  Alliierten  so  för- 
derlichen Intentionen." 

Note  ans  Ministerium  vom  17.  (6.)  März  1758. 

„Dem  Unterzeichneten,  bevollmächtigten  Mini- 
ster S.  M.  des  Königs  von  Polen,  ist  kürzlich  die 
Mitteilung  zugegangen,  dass  Offiziere  der  russischen 
Truppen,  die  zu  den  Magazinen  abkommandiert  wa- 
ren, welche  man  zum  Unterhalt  der  Truppen  in  je- 
nem Königreich  errichtet  hat,  geäussert  hätten,  man 
würde  die  Schiffe  mit  Kornladungen  für  Danzig  fest- 
halten ;  dieser  Umstand  muss  unverzüglich  zur  Kennt- 
nis des   Ministeriums  I.  K.  Majestät  gelangen,  weil 

rung  Mitaus  durch  die  Russen  wieder  herausgeben  musste. 
Eine  Zeitlang  wurde  er  als  Kandidat  auf  den  polnischen 
Thron  genannt.  Anm.  d.  Herausg. 

2  1    Poniatowski  32  1 


schon  allein  das  Gerücht  dieser  Massnahme  einen 
grossen  Aufruhr  im  Lande  verursacht  hat  und  weil 
ihre  Durchführung  jene  ruinieren  würde,  die  ihre 
Erzeugnisse  nach  Danzig  verschiffen,  was  einen  Teil 
der  Nation  sehr  kränken  und  auf  alle  den  schlechte- 
sten Eindruck  machen  würde. 

„Sollte  dies  eine  Vorsichtsmassregel  sein,  die  man 
ergreifen  will,  damit  die  russischen  Truppen  nicht 
der  Subsistenzmittel  ermangeln,  so  ist  sie  gewiss  über- 
flüssig; der  gute  Wille  der  Einwohner  genügt  hier- 
für. Man  braucht  bloss  zu  bestimmen,  welche  Quan- 
titäten an  Lebensmitteln  für  jedes  Magazin  nötig  sind, 
dann  werden  die  Einwohner  der  Umgegend  willig 
alles  liefern,  was  man  nur  verlangen  wird,  vorausge- 
setzt, dass  man  den  üblichen  Marktpreis  in  bar  be- 
zahlt und  dass  die  Unternehmer  oder  andere,  die  mit 
der  Approvisionierung  der  Magazine  beauftragt  wer- 
den, keine  willkürlichen  Taxen  zu  eigenem  Profit 
auferlegen  und  die  Verkäufer  nicht  gezwungen  wer- 
den, sich  diesen  zu  unterwerfen. 

„Der  Unterzeichnete  ist  überzeugt,  dass  auch  in 
diesem  Falle,  wie  sonst  stets,  von  Seiten  Russlands 
alles  vermieden  werden  wird,  was  den  leisesten  An- 
schein der  Gewalt  gegen  einen  befreundeten  und  al- 
liierten Staat  hervorrufen  könnte;  indessen  hat  die 
Furcht  vor  der  Festhaltung  dieser  Schiffe,  obgleich 
wenig  begründet,  die  Gemüter  dennoch  so  gepackt, 
dass  der  Fürst-Grosskanzler  Czartoryski  und  der 
Grossschatzmeister  von  Litauen  Graf  Flemming  für 
alle  Fälle  Pässe  zu  erhalten  wünschen,  der  erstere 
für  zehn  seiner  Schiffe,  letzterer  für  zwanzig.  Der  Un- 
terzeichnete kann  nicht  umhin  die  prompteste  Zustel- 
lung derselben  zu  erbitten,  da  die  Schiffahrt  bald  ge- 

322 


öffnet  wird  und  er  sie  ihnen   rechtzeitig    zustellen 
möchte,  um  ihre  Befürchtungen  zubeschwichtigen." 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  7.  März  1758. 

„Mit  vorgestriger  Post  habe  ich  das  Schreiben  Ew. 
Exzellenz  vom  22.  d.  M.  erhalten  und  habe  mich 
vorerst  zu  dem  Herrn  Vizekanzler  begeben,  um  mit 
ihm  über  die  Nachricht  zu  sprechen,  die  Ew.  Exzel- 
lenz mir  zukommen  Hessen,  es  habe  der  General  Fer- 
mor  die  Absicht,  sich  nicht  allein  Elbings  zu  bemäch- 
tigen, sondern  auch  Danzigs,  und  letzteren  Platz  so- 
gar zu  bombardieren,  wenn  man  sich  dem  Einzug 
der  Truppen  widersetzen  würde. 

„Was  Danzig  betrifft,  so  erwiderte  er  mir,  es  sei 
nichts  Wahres  daran,  und  der  General  habe  niemals 
einen  ähnlichen  Befehl  erhalten;  sollten  jedoch  sich 
Umstände  ergeben,  die  seine  Besetzung  erheischten, 
so  würde  man  nichts  unternehmen,  ohne  sich  vor- 
her mit  unserem  Hofe  ins  Einvernehmen  gesetzt  zu 
haben. 

„Was  Elbing  betrifft,  so  desavouierte  er  nicht 
völlig  das  Projekt  von  dessen  Besetzung,  jedoch  nur 
im  Falle  äusserster  Notwendigkeit  und  um  dem  Kö- 
nig von  Preussen  zuvorzukommen,  falls  er  Lust  be- 
zeugen sollte,  sich  seiner  zu  bemächtigen;  denn  es 
wäre  doch  besser,  diese  Festung  würde  von  ihren 
Truppen  geschützt,  als  dass  sie  in  die  Hände  der 
Preussen  fiele;  übrigens  habe  die  Republik  nichts  zu 
fürchten  und  man  werde  alle  erdenklichen  Rücksich- 
ten auf  ihre  Rechte  nehmen. 

„Da  ich  mich  mit  dieser  Antwort  nicht  begnügen 
konnte,  führte  ich  noch  sämtliche  Gründe  an,  die 
mir  geeignet  schienen,  dieses  Unglück  abzuwenden, 

21*  323 


und  vor  allem  den  äusserst  schlechten  Eindruck,  den 
die  Ausführung  eines  solchen  Projektes  bei  uns  her- 
vorrufen würde,  wo  es  nicht  an  Parteigängern  des 
Königs  von  Preussen  mangelt,  die  diese  Gewalttätig- 
keit an  die  grosse  Glocke  hängen  würden;  dass  im 
übrigen  auch  nicht  der  geringste  Anschein  der  Not- 
wendigkeit einer  Okkupation  dieser  beiden  oben  ge- 
nannten Städte  vorhanden  wäre,  auch  nicht  für  eine 
Bedrohung  durch  den  König  von  Preussen;  sollten 
wider  jede  Erwartung  die  Konjunkturen  sich  so  än- 
dern, dass  dieser  Fürst  die  eine  oder  andere  dieser 
Städte  besetzen  wollte  und  dazu  in  der  Lage  sein 
würde,  so  dürfte  ihm  dies  nicht  leicht  fallen,  denn 
die  Stadt  Danzig  besitze  ihre  eigene  Garnison,  die 
erst  im  Vorjahr  verstärkt  wurde,  und  Elbing  sei  durch 
Truppen  der  Republik  genügend  geschützt. 

„Ich  glaubte  dies  um  so  mehr  betonen  zu  müssen, 
da  dieser  Minister  zwei  Tage  früher  als  er  mir  mit- 
teilte, dass  man  bereits  ganz  Preussen  besetzt  habe 
und  Anstalten  treffe,  um  einen  Kordon  von  Thorn 
ab  längs  der  Weichsel  zu  ziehen,  auch  von  der  Not- 
wendigkeit sprach,  Elbing  zu  besetzen,  dass  man  die- 
sen Platz  besser  befestigen  könnte  und  dass  die 
Kriegsraison  diese  Vorsichtsmassregel  erheischen 
dürfte.  Darauf  hatte  ich  dasselbe  erwidert  wie  dies- 
mal und  mit  aller  erdenklichen  Anschaulichkeit,  um 
Eindruck  zu  machen. 

„Laut  den  Rapporten  des  Generals  Fermor  sind 
bereits  Abteilungen  russischer  Truppen  nach  Pom- 
mern entsandt  worden,  um  Kontributionen  zu  holen ; 
sie  sind  bis  nach  Brükow  vorgedrungen,  und  der 
Herr  Vizekanzler  hat  mir  gesagt,  er  glaube,  sie  be- 
fänden sich  augenblicklich  bereits  in  Stolp." 

3^4 


Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  14.  März  1758. 

„In  Beantwortung  der  Depesche  Ew.  Exzellenz 
vom  27.  vergangenen  Monats,  die  ich  am  9.  d.  M. 
abends  erhalten  habe,  beehre  ich  mich  mitzuteilen, 
dass  ich  den  Herrn  Vizekanzler  erst  vorgestern,  Sonn- 
tag, sprechen  konnte,  als  ich  durch  die  an  jenem 
Tage  angelangte  Post  erfahren,  dass  S.  H.  Prinz  Karl 
am  I.  d.  M.  einen  Fieberanfall  hatte;  ich  teilte  dem 
Minister  diesen  Umstand  mit  und  zugleich  auch  die 
Nachricht,  dass  S.  K.  Hoheit  beabsichtige,  seine  Reise 
hierher  am  7.  anzutreten,  es  sei  denn,  dass  der  Zwi- 
schenfall seiner  Unpässlichkeit  ihn  aufhalte.  Zunächst 
gab  er  mir  zur  Antwort,  es  sei  bereits  Ordre  für  fünf- 
zig Pferde  erteilt,  und  als  ich  zu  insinuieren  begann, 
dass  ich  in  Wirklichkeit  keinen  Auftrag  hätte,  ein 
Logement  für  den  Prinzen  zu  fordern,  liess  mich  der 
Herr  Vizekanzler  gar  nicht  ausreden  und  sagte,  dar- 
an sei  bereits  gedacht  worden;  ich  habe  Grund  zu 
glauben,  dass  der  Kammerherr  Schuwalow  sein  Haus 
anbieten  wird.  Jedoch  bin  ich  aus  sehr  guter  Quelle 
darüber  unterrichtet,  dass  man  wegen  dieser  Reise 
hier  in  grösster  Verlegenheit  ist;  dieser  leichte  Fie- 
beranfall S.  K.  Hoheit  könnte  einem  Aufschub  als 
Vorwand  dienen  und  später  könnte  diese  Reise  ganz 
fallen  gelassen  werden,  weil  S.  K.  Hoheit  unbedingt 
an  allen  Operationen  dieser  Kampagne  teilnehmen 
wolle;  wenn  es  aber  durchaus  sein  muss,  dass  S.  K. 
Hoheit  hierher  kommt,  so  wäre  es  gut,  wenn  die  An- 
kunft möglichst  bis  nach  dem  russischen  Osterfeste 
verschoben  würde. 

„Der  Herr  Vizekanzler  teilte  mir  gestern  mit,  ein 
Kurier  des  Generals  Fermor  habe  die  Nachricht  über- 
bracht, dass  die  Garnison   von  Elbing  diesen  Platz 

325 


verlassen  habe  und  dass  die  russischen  Truppen  ihn 
am  7.  d.  M.  (11.  St.)  okkupiert  haben,  nach  Stimulierung 
gewisser  Bedingungen  seitens  der  Stadt.  Da  man  mir 
einige  Tage  früher  versichert  hatte,  man  würde  nur 
im  Falle  einer  Niederlage  jenseits  der  Weichsel  an 
diesen  Stützpunkt  denken  und  würde  diesbezüglich 
nichts  unternehmen,  ohne  sich  vorher  mit  unserem 
Hofe  ins  Einvernehmen  gesetzt  zu  haben,  so  über- 
raschte mich  diese  unerwartete  Neuigkeit  dermassen, 
dass  ich  nur  fragte,  wie  die  Artikel  lauteten,  die  die 
Stadt  Elbing  stipuliert  hatte,  und  was  mit  der  polni- 
schen Garnison  geschehen  wäre.  Der  Herr  Vizekanzler 
gab  mir  zur  Antwort,  diese  Artikel  seien  in  deutscher 
Sprache  niedergelegt  und  noch  nicht  übersetzt,  des- 
halb seien  sie  ihm  noch  unbekannt,  und  was  die  pol- 
nische Garnison  anlange,  so  glaube  der  Kurier,  dass 
sie  sich  auf  Marienburg  zurückgezogen  habe.  Offen- 
bar hatte  der  Herr  Vizekanzler  keine  Lust,  sich  aus- 
führlicher zu  explizieren,  denn  er  versteht  und  spricht 
Deutsch  und  könnte  den  Inhalt  der  erwähnten  Arti- 
kel sehr  wohl  verstehen,  obgleich  sie  in  deutscher 
Sprache  niedergelegt  sind." 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  17.  März  1758. 

„Da  ich  mich  so  unwohl  fühle,  dass  es  mir  un- 
möglich ist  auszugehen,  hat  sich  Herr  Ogrodzki  ge- 
stern in  meinem  Auftrag  zu  dem  Herrn  Vizekanzler 
begeben,  sowohl  um  ihm  den  Brief  Ew.  Exzellenz 
betreffs  der  Reise  S.  K.  Hoheit  des  Prinzen  Karl  ein- 
zuhändigen, als  auch  um  ihm  das  Wesentliche  der 
mir  zugegangenen  Mitteilungen  über  die  Okkupation 
Elbings  zur  Kenntnis  zu  bringen,  bis  ich  selbst  in 
der  Lage  sein   werde,  ihm  die  Umstände  dieses  un- 

326 


angenehmen  Zwischenfalles  detailliert  bekannt  zu 
geben . 

„Den  Brief  fand  er  äusserst  verbindlich,  und  um 
das  Vertrauen,  das  man  ihm  erwies,  sogleich  zu  er- 
widern sagte  er,  die  Kaiserin  habe,  sobald  sie  den 
zur  Abreise  des  Prinzen  festgesetzten  Tag  erfahren, 
sofort  allerorts  Anordnungen  für  die  Bequemlichkeit 
seiner  Reise  erlassen  sowie  für  seinen  Empfang;  hier 
am  Orte  habe  sie  das  Haus  des  Kammerherrn  Schu- 
walow  für  sein  Logement  bestimmt  und  den  Kam- 
merherrn Tschernischew 1)  zum  Dienst  bei  ihm  wäh- 
rend seines  hiesigen  Aufenthaltes  ernannt.  Da  er  je- 
doch hinzusetzte,  eine  so  weite  Reise  werde  zweifel- 
los viel  Zeit  erfordern,  auch  werde  der  Prinz  bei  der 
Durchreise  durch  Königsberg  wahrscheinlich  die 
Truppen  sehen  wollen,  was  einen  neuen  Aufenthalt 
bedeuten  würde,  so  sei  infolgedessen  anzunehmen, 
dass  er  erst  in  der  dritten  oder  vierten  Woche  der 
russischen  Fastenzeit  hier  ankommen  werde  —  und 
obgleich  er,  ich  glaube  aus  Höflichkeit,  versicherte, 
alles  würde  bereit  sein,  auch  wenn  der  Prinz  morgen 
ankäme  (und  da  der  Kammerherr  Schuwalow  es  mir 
noch  deutlicher  zu  verstehen  gab,  indem  er  mir  po- 
sitiv sagte,  man  wünsche,  dass  der  Prinz  erst  in  der 
sechsten  oder  gegen  Ende  der  fünften  Woche  an- 
komme, weder  früher  noch  später),  glaubte  ich  es 
auf  mich  nehmen  zu  können,  S.  K.  Hoheit  sofort  eine 
Stafette  entgegenzuschicken,  um  den  Prinzen  zu  bit- 
ten, das  Tempo  der  Reise  zu  verlangsamen  und  erst  ge- 
gen den  14.  April  (n.  St.)  hier  anzukommen,  oder  nur 

*)  Graf  Iwan  Tschernischew,  unter  Katharina  II.  russischer 
Marinemir.ister,  jüngerer  Bruder  des  Generals  Sachar  Tscher- 
nischew. Anni.  d.  Heraus«. 


32 


7 


kurz  vorher,  und  zwar  aus  oben  erwähnten  Gründen. 
Ferner  fragte  der  Herr  Vizekanzler,  unter  welchem 
Namen  der  Prinz  herzukommen  gedenke,  und  da  ich 
erwiderte,  er  beabsichtige  unter  seinem  eigenen  Na- 
men herzukommen,  so  sagte  er,  man  werde  ihn  als 
Königssohn  empfangen.  (Jedoch  fürchte  ich  in  dieser 
Hinsicht  Schwierigkeiten  und  irgend  einen  unange- 
nehmen Zwischenfall,  vor  allem  mit  den  zwei  Ge- 
sandten, die  übermässig  viel  von  der  Etikette  spre- 
chen.) 

„Es  würde  mich  ausserordentlich  verdriessen,  wenn 
meine  Unpässlichkeit  (ein  Fieberanfall,  von  dem  ich 
fürchte,  dass  er  in  eine  ernsthafte  Krankheit  aus- 
schlägt) mich  verhinderte,  S.  K.  Hoheit  entgegenzu- 
reisen;  ich  werde  jedoch  mein  Möglichstes  tun,  um 
dieser  Ehrfurchtspflicht  zu  genügen. 

„(Was  die  Affäre  von  Elbing  anlangt,  so  wird  al- 
les, was  ich  hier  darüber  vorbringen  werde,  nur  ein 
Schlag  ins  Wasser  sein.  Diesem  Übel  könnte  einzig 
und  allein  abgeholfen  werden,  wenn  der  König  selbst 
an  die  Kaiserin  schreiben  und  als  gerechter  Fürst 
und  guter  Vater  sich  für  das  Schicksal  seiner  Unter- 
tanen und  seiner  Kinder  interessieren  würde.)" 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  21.  März  1758. 

„Am  Samstag  hat  Graf  Esterhazy  mir  den  Brief  Ew. 
Exzellenz  vom  10.  d.  M.  geschickt,  den  sein  Kurier 
für  mich  mitgebracht  hat. 

„Ich  begab  mich  hierauf  zum  Vizekanzler,  um  ihm 
den  Beschluss  des  Wiener  Hofes  betreffs  des  neuen 
Hilfskorps  von  3oooo  Mann  mitzuteilen;  gestern 
abend   nun  erwies  er  mir  die  Ehre,  bei  mir  vorzu- 

328 


sprechen,  da  meine  Krankheit  mich  nötigt,  das  Zim- 
mer zu  hüten. 

„Er  sagte  mir,  man  sei  hier  über  diesen  Beschluss 
sehr  erfreut  und  darüber  einig,  den  zweiten  Vor- 
schlag anzunehmen,  um  dieses  Korps  dem  bereits  in 
Preussen  stehenden  anzugliedern,  welches  laut  ihrem 
eigenen  Zugeständnis  kaum  den  Effektivstand  von 
f>oooo  Mann  erreicht;  infolgedessen  wird  diese  Ver- 
stärkung nur  die  Zahl  von  80 ooo  auffüllen,  zu  der 
sich  der  hiesige  Hof  im  letzten  Traktat  mit  dem  Wie- 
ner Hof  verpflichtet  hat.  Was  das  Geld  betrifft,  so 
hofft  er  noch  ein  Mittel  ausfindig  zu  machen,  um  die 
Bitte  fallen  zu  lassen,  vor  allem  erhofft  er  sich  einen 
Erfolg  bei  der  Kaiserin  selbst,  sobald  er  mit  ihr  wird 
darüber  sprechen  können. 

„Im  übrigen  hat  er  mir  zu  verstehen  gegeben,  ich 
solle  in  dieser  Angelegenheit  keinerlei  Schritte  mehr 
unternehmen  und  nicht  einmal  verlauten  lassen,  dass 
er  mir  den  Entschluss  seines  Hofes  mitgeteilt,  wor- 
über ich  wirklich  sehr  froh  bin;  denn  je  weniger  wir 
im  Augenblick  bitten  und  verhandeln  müssen,  desto 
besser  ist  es,  und  der  vernünftigste  Ausweg  ist,  uns 
still  zu  verhalten,  bis  wir  uns  über  die  Stimmung  und 
Geneigtheit  derjenigen,  die  augenblicklich  am  Ruder 
sind,  mehr  im  klaren  sein  werden. 

„Den  Oberbefehl  über  dieses  Korps  von  3oooo 
Mann  wird  nicht  General  Saltykow  erhalten;  er  hat 
Schwierigkeiten  gemacht,  es  zu  übernehmen,  sei  es  im 
Glauben,  es  mangle  an  gar  vielem,  sei  es  dass  er  keine 
Truppen  anführen  will,  die  er  nicht  kennt,  sei  es  aus 
Faulheit  und  Hang  zur  Bequemlichkeit  oder  aus  irgend 
einem  anderen  Grunde.  So  will  man  ihn  denn  hier- 
von entbinden  und  sucht  nach  einem  Ausweg,  damit 

329 


er  sich  dieser  Verpflichtung  ehrenvoll  entledigen  kann. 
Demnach  wird  Generalleutnant  Tschernischew1)  mit 
diesem  Kommando  betraut  werden,  und  da  dieses 
Korps  mit  den  Truppen  Fermors  vereinigt  werden 
soll,  ist  es  um  so  weniger  nötig,  an  seine  Spitze  einen 
general  en  chef  zu  stellen. 

„Diesen  Morgen  übersandte  mir  Graf  Esterhazv 
ein  Reskript  mit  dem  Beschluss  über  dieses  Korps; 
ich  fand  darin  einen  Artikel,  der  sich  auf  die  vier 
sächsischen  Regimenter  und  die  zwei  Ulanen-Abtei- 
lungen bezieht;  der  Wiener  Hof  schlägt  vor,  sie  den 
30  000  Mann  anzugliedern,  an  Stelle  der  geforderten 
österreichischen  Kavallerie,  die,  wenn  sie  Polen  be- 
treten würde,  Aufregung  verursachen  könnte,  was 
bei  den  eigenen  Truppen  des  Königs  ausgeschlossen 
wäre;  ich  nehme  an,  dass  Graf  Flemming2)  Ew.  Ex- 
zellenz bereits  hierüber  unterrichtet  hat. 

„Derselbe  Gesandte,  endlich  überzeugt  von  dem  un- 
gerechtfertigten Vorgehen  des  hiesigen  Hofes  bei  der 
Okkupation  Elbings,  hat  mit  dem  Vizekanzler  ernst- 
haft darüber  gesprochen,  der  das  Unrechtmässige 
dieses  Vorgehens  dann  zugestanden  hat;  um  dem  ab- 
zuhelfen und  um  die  Gemüter  in  Polen  zu  beruhigen, 
hat  er  übereinstimmend  mit  dem  Gesandten  Frank- 
reichs vorgeschlagen,  die  Kaiserin  solle  schriftlich 
eine  bindende  Versicherung  der  Restitution  dieser 
Stadt  abgeben,  und  ausserdem  solle  dieser  Hof  an  die 

2)  Graf  Sachar  Tschernischew  (1722 — 1784),  dem  Peter  III. 

im  Mai    1762   befahl,  sein  Korps  den   Preussen  zuzuführen. 

Unter  Katharina  II.  Kriegsminister  und  später  Reichsfeldmai  - 

schall. 

2)  Karl  Flemming,  der  sächsische  Gesandte  am  Wiener  Hof. 

Anm.  d.  Herausg. 

33o 


Höfe  von  Versailles  und  Wien  das  Ersuchen  richten, 
dass  sie  gemeinsam  die  Rechte,  Prärogativen,  Immu- 
nitäten und  Freiheiten  der  Republik  garantieren. 
Dennoch  wiederhole  ich,  was  ich  bereits  in  meinem 
letzten  Rrief  Ew.  Exzellenz  zu  sagen  die  Ehre  hatte, 
dass  ein  eigenhändiger  Brief  des  Königs  an  die  Kai- 
serin zweifellos  den  besten  Erfolg  haben  würde. 

„Was  den  Artikel  der  Kapitulation  von  Königsberg 
anlangt,  der  dem  König  von  Preussen  einen  neuen 
Vor  wand  liefern  könnte,  zu  Repressalien  in  Sachsen 
zu  greifen  und  die  Güter  der  abwesenden  Einwohner 
zu  sequestieren  oder  derjenigen,  die  gegen  ihn  direkt 
oder  indirekt  Dienste  tun,  so  hat,  da  mich  eine  Krank- 
heit am  Ausgehen  verhindert,  Herr  Prasse l)  es  über- 
nommen, gemäss  den  Befehlen  Ew.  Exzellenz  Schritte 
zur  Revozierung  dieses  Artikels  zu  unternehmen. 

„Apraxin  soll  in  einigen  Tagen  hier  ankommen; 
man  hat  seinen  Sohn  hergebracht,  von  dem  seine  Frau 
vergangenes  Jahr  in  Riga  entbunden  wurde;  auch 
ein  Teil  seiner  Equipage  ist  bereits  angekommen. c; 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  24.  März  1758. 

„Mit  gestriger  Post  habe  ich  den  Brief  erhalten, 
den  Ew.  Exzellenz  mir  am  i3.  d.  M.  zu  schreiben 
geruhten. 

„Ich  werde  erst  morgen  die  Briefe  des  Kron-Gross- 
kanzlers  2)  und  des  Bischofs  von  Kiew  3)  (von  denen  ich 

*)  Johann  Moritz  Prasse,  sächsischer  Legationssekretär  und 
später  Resident. 

2)  Jan  Malachowski  (1698 — 1768),  Kron-Grosskanzler,  An- 
hänger der  sächsischen  Partei  und  Russophile. 
s)  Kajetan  Soltyk(i7i5 — 1788),  bald  hernach   Bischof  von 
Krakau.  Anm.  d.  Herausg. 

33 1 


gewünscht  hätte,  Kopien  zu  erhalten)  dem  Herrn 
Vizekanzler  Grafen  Woronzow  übergeben,  denn  die- 
ser Minister  Hess  mich  sowie  alle  anderen  ausländi- 
schen Minister  wissen,  dass  er  uns  jeden  Samstag  von 
9  Uhr  bis  Mittag  Audienz  erteilen  werde;  wenn  man 
ihn  ausserhalb  dieser  Zeit  zu  sprechen  wünsche, 
müsse  man  um  Festsetzung  einer  Stunde  nachsuchen. 
So  will  ich  mich  denn,  vor  allem  dies  erste  Mal,  an 
diese  neue  Ordnung  halten,  da  mein'  Gesundheits- 
zustand mich  ohnedies  hierzu  zwingt  und  ich  sogar 
bezweifle,  dass  meine  Krankheit  es  mir  morgen  ge- 
statten wird,  in  welch  letzterem  Falle  ich  Herrn 
Ogrodzki  mit  der  Mission  betrauen  werde.  So  werde 
ich  erst  mit  nächster  Post  Ew.  Exzellenz  informieren, 
wie  diese  Briefe  aufgenommen  wurden,  welche  Wir- 
kung sie  erzielten  und  über  alles,  was  auf  diese  un- 
angenehme Elbinger  Sache  Bezug  hat. 

„Was  das  Korps  von  3oooo  Mann  betrifft,  so  wis- 
sen wir  nichts  weiter,  als  was  ich  letzthin  darüber 
berichtet  habe,  doch  bestätigt  folgende  Anordnung 
die  Absicht  eines  energischen  Vorgehens. 

„Die  Regimenter  von  Ingermanland  und  Astra- 
chan, die  mit  den  vier  Garderegimentern  immer  hier 
in  Garnison  bleiben  und  nur  im  Falle  äusserster  Not- 
wendigkeit ins  Feld  rücken,  haben  bereits  zwei  Be- 
fehle erhalten,  marschbereit  zu  sein.  Man  behauptet, 
dass  sie  zusammen  mit  einem  dritten  Regiment,  des- 
sen Namen  ich  nicht  weiss,  eingeschifft  werden  sollen. 

„Die  Nachricht  vom  Rückzug  der  Franzosen  über 
die  Weser,  unter  Aufgabe  von  ganz  Hannover,  wurde 
hier  vor  8  oder  io  Tagen  bekannt,  und  alle  späteren 
Meldungen  bestätigen  dies  in  einer  für  sie  äusserst 
ungünstigen  Weise. 

332 


„Man  hat  dem  schwedischen  Gesandten  eine 
Schrift  überreicht,  betitelt  , Deklaration';  in  Wirk- 
lichkeit ist  es  jedoch  nur  das  Projekt  einer  Kon- 
vention, worin  Russland  vorschlägt,  im  Falle  Eng- 
land es  wagen  sollte,  eine  Eskader  in  die  Ostsee 
zu  schicken,  an  einer  gewissen  Stelle  diesseits  des 
Sunds  16  Linienschiffe  und  4  Fregatten  zu  postieren 
unter  der  Bedingung,  dass  Schweden  10  Linien- 
schiffe und  4  Fregatten  hinzubringe,  das  Kommando 
an  jenen  der  Admiräle  von  gleichem  Rang  über- 
geben werde,  dessen  Patent  das  älteste  ist  und  man 
es  vermeide,  sich  in  zu  grosser  Nähe  einer  dänischen 
Festung  aufzustellen,  und  diese  Schrift  von  den  bei- 
derseitigen Ministern  unterschrieben  und  hernach 
von  beiden  Höfen  ratifiziert  werde. 

„Der  hier  residierende  dänische  Minister1)  wird 
tagtäglich  mehr  umschmeichelt;  man  verspricht  ihm, 
die  Kaiserin  werde  sich  jetzt  bemühen,  den  Gross- 
fürsten zum  Tausch  zu  bestimmen,  und  gibt  ihm  zu 
verstehen,  diese  Affäre  sei  der  Kaiserin  widerwärtig 
gewesen,  solange  der  vorige  Kanzler  sie  betrieben.  So 
schiebt  man  denn  alles  auf  das  Konto  dieses  unglück- 
lichen Ministers,  obgleich  keine  Beweise  vorhanden 
sind,  und  man  belastet  ihn  nicht  nur  mit  Dingen, 
mit  denen  er  nichts  zu  tun  gehabt  hat,  sondern  es 
werden  sogar  solche  Dinge  falsch  interpretiert,  bei 
denen  er  dem  Staat  wirkliche  Dienste  erwiesen  hat. 

„Graf  Esterhazy  hat  neue  Ordres  erhalten,  nicht 
das  geringste  Versprechen  betreffs  Ostfrieslands  los- 
zulassen, solange  die  Sache  des  Tausches  nicht  gere- 
gelt ist,  welche  Regelung  gewiss  noch  in  weiter  Ferne 
liegt.  Dies  ist  durchaus  nicht  erstaunlich,  seitdem  — 
*)  Adolf  Siegfried  von  der  Osten,  1726 — 1 797. 

333 


der  Widerspruch  ist  unbegreiflich  —  tagtäglich  jene 
Personen  mehr  begünstigt  werden,  die  den  Grossfür- 
sten von  jedem  vernünftigen  Gedanken  abhalten. 
Seinem  Oberkammerherrn  Brockdorf1)  wurde  so- 
eben von  der  Kaiserin  eine  monatliche  Pension  von 
200  Rubel  zugebilligt,  obwohl  er  stets  und  auch  jetzt 
noch  seinen  Herrn  in  den  preussenfreundlichen  Ge- 
fühlen bestärkt.  Aber  die  Feinde  des  Alten  glaubten 
ihm  diese  Belohnung  verschaffen  zu  müssen,  weil  es 
ihm  gelungen  ist,  den  Grossfürsten  so  zu  beeinflus- 
sen, dass  er  jetzt  ihre  Pläne  unterstützt. 

a)  Christian  August  Brockdorf,  holsteinischer  Generalleutnant. 
Anm.  d.  Herausg. 


334 


SECHSTES     KAPITEL 

BRIEF  AN  DEN  GRAFEN  BRÜHL  VOM  28.  MÄRZ. 
ANKUNFT  SEINES  SOHNES.  ELBING,  DANZIG.  DER 
KÖNIG  SOLL  EINEN  BRIEF  AN  ELISABETH  SCHBEI- 
BEN.  —  BRIEF  AN  BRÜHL  VOM  3 1 .  MÄRZ.  SEQUE- 
STRATION DER  GÜTER  DER  ABWESENDEN  PREUS- 
SISCHEN  MINISTER.  REITRITT  SCHWEDENS  ZUR 
GROSSEN  ALLIANZ.  ELISABETH  WILL  KEINE 
NEUEN  ÖSTERREICHISCHEN  SUBSIDIEN  UND  WILL 
DIE  EROBERUNGEN  IN  DEUTSCHLAND  IN  EIGE- 
NEM NAMEN  UND  NICHT  IM  NAMEN  ÖSTERREICHS 
MACHEN.  OLSUWJEF  REIST  DEM  PRINZEN  KARL 
ENTGEGEN.  ESTERHAZY  UND  VOR  ALLEM  L'HÖ- 
PITAL  VERLANGEN  GLEICHSTELLUNG  MIT  IHM. 

—  BRIEF  AN  BBÜHL  VOM  4.  APBIL.  SEQUESTRA- 
TION DER  GÜTER  DER  PREUSSISCHEN  MINISTER. 
GENERAL  YORKE  SOLL  ZUM  KÖNIG  VON  PREUS- 
SEN  GESANDT  WERDEN.  —  BRIEF  AN  BRÜHL 
VOM  7.  APRIL.  ERKLÄRUNG  FRANKREICHS,  DER 
RÜCKZUG  AUS  HANNOVER  BEDEUTE  KEINEN  AB- 
FALL. BELAGERUNG  VON  SCHWEIDNITZ.  —  BBIEF 
AN  BRÜHL  VOM  14.  APRIL.  DAS  ZEREMONIELL 
DER  GESANDTEN.  SCHLIMME  UNPÄSSLICHKEIT 
ELISABETHS.  LANGSAMKEIT  DER  MILITÄRISCHEN 
HILFE   RUSSLANDS.   DIE   AFFÄRE    BESTUSCHEW. 

—  BRIEF  AN  BRÜHL  VOM  19.  APBIL.  DER  PRINZ 
MACHT  RESUCHE.  BÜTÜRLIN  UND  IWAN  TSCHER- 
NISCHEW  BEGLEITER  DES  PBINZEN.  PLÄTZE  IN 
DER  KAROSSE.  STREIT  ZWISCHEN  LA  CHINAL, 
LUBOMIRSKI  UND  RZEWUSKI.  AUSWECHSLUNG 
DER  SCHWEDISCHEN  RATIFIKATIONEN.  ABREISE 
DES  JONGEN  L'HÖPITAL.  STAMBKE  IST  AM  18. 
ABGEREIST.  WESTPHAL  KOMMT  NICHT.  BROCK- 
DORF; QUOD  TIBI  HODIE,  MIHI  CRAS.  ZWEI  REI- 
SEBETTEN FÜR  BESTUSCHEW. 


*iMMiHii!iiiinmi!itiiriiiMiijiiitiiiiiiiii!iiiiiiiiim 


Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  28.  März  1758. 

^W7orgestern,  den  26.,  habe  ich  den  Brief  erhalten, 
j ■>  T  mit  dem  Sie  mich  am  i5.  zu  beehren  geruhten. 
An  jenem  Tage  ging  ich  zum  ersten  Mal  nach  mei- 
ner ziemlich  heftigen  Erkrankung  aus,  um  den  Herrn 
Starosten  von  Warschau1),  der  am  Abend  des  ib. 
hier  angekommen  ist,  dem  Herrn  Vizekanzler  vorzu- 
stellen; bei  dieser  Gelegenheit  sprach  ich  mit  ihm 
auch  über  Elbing,  händigte  ihm  die  fünf  Briefe  aus, 
die  Ew.  Exzellenz  mir  übersandt  haben,  und  die  Ko- 
pie der  Note  des  Kron-Grosskanzlers  hinsichtlich  der 
Erklärung,  die  Herr  Benoit,  der  Legationssekretär 
des  Königs  von  Preussen,  beim  Kron-Grosshetman  ab- 
gegeben hat. 

„Gestern  sprach  ich  wieder  mit  ihm  darüber, 
und  er  teilte  mir  mit,  der  König  habe  an  General 
Fermor  wegen  der  Evakuation  dieser  Stadt  geschrie- 
ben, dieser  General  jedoch  erkläre  in  seinem  Rapport 
die  Sache  aus  Gründen  der  Kriegsraison  für  absolut 
unmöglich.  Da  er  mir  einige  Augenblicke  früher  ge- 
sagt hatte,  dass  die  verschiedenen  Abteilungen,  die 
der  General  auf  Kundschaft  ausgesandt  hatte,  nichts 
Neues  über  den  Feind  erfahren  konnten,  wollte  ich 

*)  Friedrich  Alois  Brühl  (1739 — 179-*),  Sohn  des  Ministers 
Brühl.  Anm.  d.  Herausg. 

336 


fi/i/  L  01  nie 


ViihL  ; 


I 


unbedingt  wissen,  worin  denn  diese  unumgängliche 
Kriegsraison  bestehe,  da  doch  vom  Feinde  nichts  zu 
hören  sei.  Also  in  die  Enge  getrieben,  antwortete  er, 
man  habe  Kunde  erhalten,  dass  der  König  von  Preus- 
sen  ein  mächtiges  Korps  bei  Stolp  zusammenziehe. 
Wir  hatten  allerdings  gehört,  dass  er  bei  Küstrin 
Truppen  zusammenziehe,  doch  im  Augenblick  brauch- 
ten sie  ihn  in  Stolp,  und  so  wurde  er  nach  Stolp  ver- 
pflanzt. Ich  bemühte  mich,  den  Herrn  Vizekanzler 
zu  bewegen  und  zu  rühren,  damit  man  wenigstens 
in  bezug  auf  Danzig  nachgab,  und  ich  entwarf  ihm 
ein  möglichst  ergreifendes  und  trauriges  Bild  von 
Polen,  wie  es  aussehen  würde,  wenn  der  König  von 
Preussen  seine  Drohungen  wahr  machte.  Jetzt  end- 
lich sagte  er,  es  habe  von  Anfang  an  nicht  in  seiner 
Absicht  gelegen,  die  Festungen  in  unserem  Preussen 
zu  besetzen,  und  er  werde  all  meine  Gründe  im  Con- 
seil  vorlegen;  doch  gleichzeitig  eröffnete  er  mir,  dass 
er  an  der  Möglichkeit  einer  Änderung  der  Mass- 
nahmen zweifle.  Ich  stellte  ihm  vor,  dass,  wenn 
die  russische  Armee  Preussen  verlassen  und  in  die 
feindlichen  deutschen  Provinzen  einbrechen  würde, 
all  diese  fatalen  Vorsichtsmassnahmen  überflüssig 
wären.  Darauf  bekam  ich  nur  die  Antwort,  die 
Truppen  müssten  doch  ausruhen  und  die  ganze 
Division  Browne  sei  noch  nicht  einmal  eingetrof- 
fen. 

„Um  die  Dinge  bei  ihrem  Namen  zu  nennen,  — 
man  hat  solche  Angst  vor  einem  Zusammenstoss  mit 
einer  preussischen  Armee  im  offenen  Felde,  dass  man 
nie  wird  genug  Vorsichtsmassregeln  treffen  und  nie 
genug  Vorsicht  walten  lassen  können;  unglücklicher- 
weise glaubt  man  auch,  Polen  ungestraft  schädigen 

2  2   Poniatowski  3  3  1 


zu  können.  Besonders  im  gegenwärtigen  Augenblick, 
da  es  entschieden  ist,  dass  das  neue  Korps  von  3o  ooo 
Mann  mit  jener  Armee  in  Preussen  vereint  werden 
soll,  um  endlich  die  durch  die  Konvention  mit  dem 
Wiener  Hof  stipulierte  Zahl  von  80000  aufzufüllen, 
kann  man  wetten,  dass  man  Preussen  nicht  verlassen 
wird,  bevor  die  3oooo  Mann  angelangt  sind.  Gott 
weiss,  wann  das  zu  erwarten  ist.  Da  ich  also  von 
Esterhazy  wenig  oder  fast  gar  nicht  unterstützt  werde 
(denn  er  hat  erklärt,  das  Verlangen  nach  Danzig  sei 
die  gerechteste  Sache  der  Welt,  und  die  Art,  wie  es 
bewerkstelligt  werde,  durchaus  vernünftig)  und  da 
ich  von  PHöpital  sogar  grausam  verspottet  werde, 
der  alles  dem  einen  Wunsche  opfert,  diesem  Hof  zu 
gefallen,  den  er  beherrschen  will,  —  sehe  ich  wirk- 
lich nur  den  einen  Ausweg,  dass  der  König  an  die 
Kaiserin  selbst  einen  Brief  schreibt,  worin  er  darlegt: 
welchen  Gefahren  Polen  und  seine  eigene  geheiligte 
Person  ausgesetzt  sein  wird,  wenn  er  nicht  einmal 
mehr  in  Warschau  selbst  sicher  ist;  dass  Danzig  so- 
wohl wie  auch  Elbing  für  die  Russen  von  keinerlei 
Nutzen  sein  können  in  Anbetracht  der  Entfernung 
des  Feindes  von  dieser  Gegend;  wie  nichtswürdig  und 
unrechtmässig  dieser  Schritt  ist  und  welche  notwen- 
digen Folgen  er  im  Königreich  zeitigen  muss;  haupt- 
sächlich aber  und  als  geeignetstes  Mittel,  um  all  die- 
sen eingebildeten  Gefahren  vorzubeugen,  gegen  die 
man  so  viele  Vorsichtsmassnahmen  ergreift,  und  zu- 
gleich auch  als  nützlichstes  Mittel  für  die  gemein- 
same Sache  und  für  die  Befreiung  Sachsens  im  be- 
sonderen muss  der  König  vorschlagen,  die  Armee 
Fermors  solle  so  rasch  als  möglich  ins  Herz  der 
Staaten   des   Königs  von    Preussen    vordringen,    be- 

338 


vor  dieser  Zeit  findet,  eine  besondeie  Armee  gegen 
die  Russen  aufzustellen. 

„Soeben  erhalte  ich  die  beifolgende  neue  Note  in 
französischer  Sprache,  worin  gesagt  wird,  der  Ma- 
gistrat von  Danzig  habe  bereits  beschlossen,  die  rus- 
sischen Truppen  in  der  Stadt  zu  empfangen.  Was  das 
Verlangen  betrifft,  ich  solle,  um  Zeit  zu  gewinnen, 
direkt  an  den  Residenten  des  Königs  in  dieser  Stadt 
schreiben,  so  werden  Ew.  Exzellenz  es  sicherlich  für 
gut  befinden,  dass  ich  es  nicht  getan,  und  ich  bin  in 
der  Tat  sogar  überrascht,  dass  man  überhaupt  daran 
denken  konnte,  mich  zu  einem  solchen  Schritte  ver- 
anlassen zu  wollen. 

„Apraxin  soll  heute  Nacht  in  einem  wenige  Werst 
von  hier  entfernten  Landhaus  eintreffen,  Monsieur 
de  lHöpital  hat  mir  diese  Nachricht  überbracht  und 
ich  übermittle  sie  als  von  ihm  stammend.  Er  über- 
schüttet den  Herrn  Starosten  von  Warschau  mit 
Zärtlichkeiten,  ich  wünschte,  sie  wären  aufrichtig." 

Brief  an  denselben  vom  3i.  März  1768. 
„In  Beantwortung  des  Briefes,  mit  dem  Ew.  Ex- 
zellenz mich  am  20.  d.  M.  beehrt  haben,  teile  ich 
mit,  dass  der  Herr  Vizekanzler  sich  bereits  den 
Vorstellungen  wegen  Sequestration  der  Güter  jener 
Preussen,  die  ausser  Landes  sind  und  gegen  Russ- 
land und  dessen  Alliierten  dienen,  geneigt  gezeigt 
hat;  ich  werde  diesen  Anschein  der  Bereitwilligkeit 
ausnützen  und  morgen  nochmals  mit  ihm  darüber 
sprechen,  da  dieser  Tag  für  die  Audienzen  der  aus- 
ländischen Minister  festgesetzt  ist,  und  ich  werde  ihm 
die  berechtigten  Befürchtungen  darlegen,  die  man 
für  die  Diener  des  Königs,  unseres  Herren,  hegt,  nicht 

22*  33g 


nur  für  jene,  die  sich  augenblicklich  in  seiner  Umge- 
bung befinden,  sondern  auch  für  so  viele  andere  säch- 
sische Untertanen,  die  sich  ausser  Landes  begeben  ha- 
ben, um  so  mehr  als  Nachrichten  verlauten,  man  wolle 
sogar  Besitzungen  der  preussischen  Minister  konfis- 
zieren und  ihre  Möbel  und  Effekten  versteigern. 

„Ich  hoffe,  dass  es  mir  endlich  wieder  möglich  sein 
wird,  auszugehen  ohne  meiner  Gesundheit  zu  scha- 
den, obgleich  mein  letzter  Versuch,  den  ich  unter- 
nahm, um  den  Herrn  Starosten  von  Warschau  vorzu- 
stellen, mir  sehr  schlecht  bekommen  ist.  Bei  dieser 
Gelegenheit  kann  ich  es  mir  nicht  versagen,  Ew.  Ex- 
zellenz zu  einem  solchen  Sohne  zu  beglückwünschen. 
Es  scheint  mir  unmöglich,  dass  jemand  aus  seinen 
Reisen  und  hauptsächlich  aus  einer  Kampagne  besse- 
ren Nutzen  ziehen  könnte  als  er. 

„  Es  wäre  äusserst  betrüblich,  sollte  sich  die  Nach- 
richt vom  Einfall  der  Preussen  in  Gross-Polen  bewahr- 
heiten. Ich  werde  nicht  ermangeln,  es  dem  Herrn 
Vizekanzler  mitzuteilen,  zugleich  mit  allem,  was  über 
die  Vorbereitungen  des  Königs  von  Preussen  verlau- 
tet, zwecks  Ansammlung  verschiedener  Korps  seiner 
Truppen  sowohl  in  Schlesien,  an  den  Grenzen  von 
Polen,  wie  auch  in  Pommern.  Sollte  das  neue  Trak- 
tat dieses  Fürsten  mit  England  —  von  dem  Esterhazy 
nichts  zu  wissen  behauptet  —  wirklich  existieren,  so 
sind,  wie  ich  in  meiner  Depesche  vom  24.  v.  M.  Ew. 
Exzellenz  mitzuteilen  die  Ehre  hatte,  von  seiten  Russ- 
lands bereits  Gegenmassnahmen  ergriffen  worden, 
durch  einen  Vorschlag  an  Schweden  betreffs  Verei- 
nigung seiner  Eskader  mit  jener  dieses  Reiches.  Zur 
Ratifikation  des  Beitritts  Schwedens  zur  grossen  Al- 
lianz fehlt  nur  noch  die  Unterschrift  der  Kaiserin. 

34o 


„Dem  Grafen  Esterhazy  wurde  eine  schriftliche  Ant- 
wort zuteil  auf  die  Resolution  seines  Hofes  bezüglich 
des  neuen  Hilfskorps  von  3oooo  Mann.  Man  gibt  die 
Zustimmung  zu  einer  Vereinigung  mit  der  Armee 
Fermor;  sobald  dieser  General  all  seine  Truppen  bei- 
sammen haben  wird,  soll  er  mit  5o — 60000  Mann 
losmarschieren,  um  sich,  gemäss  dem  Wiener  Projekt, 
zwischen  Warthe  und  Netze  aufzustellen,  den  Rest 
wird  er  nach  Pommern  senden,  wohin  auch  alle  Ga- 
leeren geschickt  werden  sollen.  Im  übrigen  verlangt 
man  hier  nunmehr  weder  Lieferung  von  Subsistenz- 
mitteln  für  die  Armee  noch  irgend  eine  Geldhilfe  und 
insbesondere  tritt  die  Kaiserin  auch  von  dem  frühe- 
ren Vorschlag  einer  Zahlung  von  5ooooo  Taler  zu- 
rück, die  sie,  wenn  sie  hierzu  in  der  Lage  wäre, 
der  Kaiserin  und  Königin  sogar  am  liebsten  selbst 
anbieten  würde.  Zum  Schluss  bemerkt  man  jedoch, 
die  Kaiserin  und  Königin  werde  wohl  auch  nicht 
darauf  bestehen,  dass  man  in  ihrem  Namen  von  den 
deutschen  Provinzen  des  Königs  von  Preussen  Besitz 
ergreife,  die  die  Russen  erobern  werden,  da  die  Kai- 
serin von  Russland  nicht  mehr  als  Hilfskraft  ange- 
sehen zu  werden  wünscht,  sondern  als  kriegführende 
Partei,  und  dies  infolge  einer  Deklaration,  die  der 
König  von  Preussen  kürzlich  veröffentlicht  haben  soll 
und  die  als  Kriegserklärung  angesehen  werden  muss. 

„Da  der  Zeremonienmeister  Monsieur  Olsuwjef 
nach  Narwa  abgereist  ist,  um  Seine  Hoheit  den  Prin- 
zen Karl  zu  erwarten,  so  halte  ich  mich  bereit,  S.  K. 
Hoheit  entgegenzureisen,  —  falls  meine  Gesundheit 
es  mir  gestattet  —  sobald  wir  die  Nachricht  von  sei- 
ner bevorstehenden  Ankunft  erhalten.  Alle  Vorbe- 
reitungen zu  seinem  Empfang  sind  nunmehr  getrof- 

34i 


fen  und  man  ist  hier  wegen  seiner  Ankunft  nicht 
mehr  in  Sorge;  jedoch  wäre  es  für  den  Prinzen  selbst 
am  angenehmsten,  wenn  er  zu  dem  vom  Kammer- 
herrn Schuwalow  angegebenen  Zeitpunkt  hier  an- 
käme. Er  würde  dadurch  der  unaussprechlichen 
Langweile  der  hiesigen  Fastenzeit  teilweise  aus  dem 
Wege  gehen,  deren  Zwang  sogar  die  Kaiserin  sich 
unterwerfen  muss. 

„Das  ganze  Zeremoniell  ist  bereits  festgelegt  und 
soll  für  den  Prinzen  sehr  vorteilhaft  sein,  aber  die 
Ambassadeurs,  besonders  Marquis  de  l'Hopital,  reden 
beständig  von  der  vollständigen  Gleichberechtigung 
und  behaupten,  sie  könnten  von  keinem  ihrer  Rechte 
zugunsten  des  Prinzen  —  einem  Sohne  des  Königs 
von  Polen  und  Kurfürsten  von  Sachsen  —  zurück- 
treten, ohne  eine  Rüge  ihres  Hofes  zu  riskieren,  da- 
gegen wären  sie  vor  dem  Grafen  von  der  Lausitz  in 
gar  mancher  Beziehung  zurückgetreten  (weil  dies 
keine  Konsequenzen  nach  sich  ziehen  würde),  hätte 
der  Prinz  sich  diesen  Namen  zugelegt." 

.  Brief  an  denselben  vom  4-  April  1758. 
„Es  betrübt  mich  aufs  äusserste,  dass  ich  nicht  in 
der  Lage  bin,  Ew.  Exzellenz  gute  Nachrichten  be- 
treffs der  Sequestration  des  Eigentums  jener  Preus- 
sen  zu  geben,  die  sich  ausser  Landes  begeben  haben. 
Da  mein  Zustand  es  mir  am  Samstag  nicht  gestattete 
auszugehen,  so  habe  ich  Herrn  Ogrodzki  beauftragt, 
mit  dem  Vizekanzler  darüber  zu  sprechen;  dieser  hat 
in  jeder  Weise  die  Richtigkeit  der  Meldung  geleug- 
net, die  Ew.  Exzellenz  aus  Königsberg  erhalten  ha- 
ben, dass  man  dort  sogar  die  Besitzungen  der  abwe- 
senden preussischen  Minister  konfiszieren  und  ihre 

342 


Möbel  und  Effekten  versteigern  will,  denn  es  sei  nie- 
mals ein  solcher  Befehl  ergangen;  was  jedoch  die  Se- 
questration betrifft,  so  sagte  er,  man  könnte  hiervon 
nicht  abstehen  und  wäre  im  Recht,  dies  zu  tun,  denn 
diese  Minister  hätten  ihre  Posten  feige  verlassen  und 
wären  feige  geflohen;  zwischen  ihnen  und  jenen,  die 
dem  Könige,  unserem  Herren,  dienen,  sei  ein  grosser 
unterschied  und  der  König  von  Preussen  werde  kei- 
nen Grund  haben,  deshalb  in  Sachsen  Repressalien 
anzuwenden.  Worauf  ihm  vorgestellt  wurde,  dass 
dieser  Fürst  keinen  Unterschied  machen  würde, 
weil  der  geringste  Vorwand  ihm  genügt,  um  die  un- 
glücklichen und  unschuldigen  Sachsen  durch  neue 
Steuern  völlig  zu  Boden  zu  drücken,  —  als  Beweis 
hierfür  die  Zahlung,  die  er  von  Dresden  für  Halber- 
stadt fordert  —  und  dass  sogar  bereits  verlautet,  er 
habe  die  Güter  Ew.  Exzellenz  dem  General  Finken- 
stein gegeben,  dem  Kommandanten  von  Dresden, 
und  zwar  ausdrücklich  als  Folge  der  Sequestrationen 
in  Preussen;  hierauf  wurde  die  Antwort  zuteil,  dage- 
gen wäre  nichts  zu  machen.  Herr  Ogrodzki  erwiderte, 
wir  hofften,  es  wäre  doch  noch  etwas  zu  machen, 
und  der  Artikel  der  Kapitulation  von  Königsberg 
könnte  redressiert  werden;  Herr  Prasse  hat  uns  näm- 
lich mitgeteilt,  dass,  als  er  mit  dem  Vizekanzler  dar- 
über sprach,  dieser  seinen  Vorstellungen  anscheinend 
zugänglich  war;  doch  ist  auch  dies  wie  alles  andere 
ohne  Wirkung  geblieben. 

„Auf  die  Nachricht  vom  Einfall  der  Preussen  in 
Gross-Polen  sagte  er,  mau  habe  soeben  durch  eine 
Stafette  Briefe  von  General  Fermor  erhalten,  die  be- 
sagten, dies  sei  ein  blinder  Lärm;  was  jene  Massnah- 
men des  Königs  von  Preussen  zwecks  Zusammenzie- 

343 


hung  verschiedener  Truppenkorps  betreffe,  so  könne 
er  sie  mit  seinen  Kräften  gar  nicht  durchführen,  und 
er  prahle  hiermit  einzig  und  allein,  um  die  Gemüter 
in  Polen  einzuschüchtern. 

„Die  Meldung  eines  neuen  Traktats  des  Königs 
von  Preussen  mit  England  hielt  er  für  verfrüht ;  man 
wisse,  dass  dieser  Fürst  sich  in  keiner  Weise  enga- 
gieren wolle,  alle  Geldsubsidien  ablehne  und  nur  ver- 
lange, dass  ein  Korps  englischer  Truppen  nach 
Deutschland  geschickt  werde,  wogegen  das  britische 
Ministerium  opponiere;  General  Yorke1)  sei  vom 
Haag  nach  London  berufen,  weil  man  beabsichtige, 
ihn  zum  König  von  Preussen  zu  schicken ;  im  übrigen 
habe  man  Massnahmen  ergriffen  für  den  Fall,  dass 
England  eine  Eskader  in  die  Ostsee  schicken  sollte." 

Brief  an  denselben  vom  7.  April  1758. 

„Ich  erhielt  gestern,  fast  gleichzeitig,  die  beiden 
Briefe  Ew.  Exzellenz  vom  27.  und  29.  v.  M.,  den  er- 
sten durch  die  Post,  den  zweiten  durch  den  Kurier 
des  französischen  Gesandten,  der  vorerst  mit  seinen 
Depeschen  ausserordentlich  beschäftigt  zu  sein  schien, 
da  sie  zum  grossen  Teil  chiffriert  waren.  Er  ist  zuerst 
zum  Grafen  Esterhazy  gegangen  und  hat  mit  ihm 
beinahe  eine  ganze  Stunde  gesprochen,  hernach  be- 
gab er  sich  zum  Vizekanzler,  mit  dem  er  eine  sehr 
lange  Konferenz  hatte.  Was  darüber  verlautet  und 
was  die  Kavaliere  der  französischen  Gesandtschaft 
mitzuteilen  geruht  haben  beschränkt  sich  darauf, 
dass  der  französische  Hof  diesen  Kurier  mit  einer  sehr 

*)  Josef  Yorke,  der  Sohn  Lord  Hardwicks,  von  dem  im  ersten 
Buch  bereits  die  Rede  war.   Anm.  d.  Herausg. 

344 


entschiedenen  Erklärung  bezüglich  des  Rückzugs 
ihrer  Armee  aus  dem  Kurfürstentum  Hannover  her- 
gesandt hat,  um  zu  versichern,  dies  dürfte  durchaus 
nicht  als  Abfall  angesehen  werden,  sondern  wäre  le- 
diglich eine  Vorsichtsmassnahme,  die  getroffen  wurde, 
um  neue  Kraft  zu  sammeln. 

„Eine  Stafette,  die  gestern  beim  Grafen  Esterhazy 
ankam,  überbrachte  ihm  die  Nachricht,  dass  die  Lauf- 
gräben vor  Schweidnitz  bereits  am  17.  v.  M.  aufge- 
worfen waren.  Aus  seinen  Reden  und  den  Reden  sei- 
ner Hausgenossen  zu  schliessen,  scheint  diese  Festung 
sogar  bereits  gefallen  zu  sein;  denn  sie  betonen  im- 
mer wieder,  es  sei  besser,  eine  schlechte  Festung  zu 
verlieren,  als  eine  Schlacht  zu  wagen,  um  sie  zu 
retten J).  Wir  könnten  über  die  Neuigkeiten  von  aus- 
sen bedeutend  besser  unterrichtet  sein,  wenn  es  Ew. 
Exzellenz  belieben  würde  anzuordnen,  dass  sie  uns 
mitgeteilt  werden  sollen.  Denn  FHöpital  sagt  mir  fast 
nie  etwas,  und  der  Wiener  Hof  ist  gegen  seinen  Ge- 
sandten hinsichtlich  militärischer  Neuigkeiten  äus- 
serst lakonisch. 

„Die  Unterschrift  der  Ratifikation  des  Beitritts 
Schwedens  wird  hier  noch  immer  hingezogen.  Apra- 
xin  befindet  sich  noch  immer  in  dem  gleichen  Land- 
haus auf  halbem  Wege  von  hier  nach  Zarskoje  Sielo." 

Brief  an  denselben  vom  14.  April  1758. 

„Der  Brief,  mit  dem  Ew.  Exzellenz  mich  am  3o. 

v.  M.  beehrten,  wurde  mir  durch  die  gestrige  Post 

zugestellt;  da  er  keine  Antwort  erfordert,  gehe  ich 

sogleich  zu  den  Informationen  betreffend  Seine  Ho- 

*)  Schweidnitz  wurde  im  April  1758  von  den  Preussen  zu- 
rückerobert.  Anm.  d.  Ilerausg. 

345 


heit  den  Prinzen  Karl  seit  seiner  Ankunft  hier  am 
Orte  über. 

„Um  dem  vorgeschriebenen  Zeremoniell  zu  genü- 
gen, hat  S.  K.  Hoheit,  kurz  nach  seiner  Ankunft,  den 
Herrn  Grafen  Einsiedel 1)  zum  Herrn  Vizekanzler  und 
den  Herrn  Generalmajor  de  la  Chinal2)  zum  Herrn 
Grafen  Alexander  Schuwalow  gesandt.  Nach  ihrer 
Rückkehr  kam  der  Herr  Kammerherr  Iwan  Iwano- 
witsch  Schuwalow  seitens  der  Kaiserin ;  Seine  Hoheit 
der  Grossfürst  wie  auch  Ihre  Hoheit  die  Grossfürstin 
Hessen  den  Prinzen  durch  ihren  Hofmarschall  Mon- 
sieur Golowkine  begrüssen.  Auch  der  Herr  Vizekanz- 
ler kam  am  selben  Tage  und  teilte  dem  Prinzen  mit, 
I.  K.  Majestät  werde  ihn  wissen  lassen,  wann  sie  ihm 
Audienz  gewähren  könne,  augenblicklich  leide  sie  an 
einer  kleinen  Unpässlichkeit  am  Auge. 

„  Am  darauffolgenden  Tage,  dem  1 2.  d.  M.,  statte- 
ten die  beiden  Ambassadeurs  dem  Prinzen  gemeinsam 
ihren  Besuch  ab;  er  empfing  sie  ohne  irgendwelche 
Zeremonien  und  unterhielt  sich  stehend  mit  ihnen 
ungefähr  eine  halbe  Stunde.  Am  Abend  vorher  bin 
ich  beim  Grafen  Esterhazy  gewesen,  wo  ich  den  Mar- 
quis de  l'Höpital  antraf;  gesprächsweise  teilte  ich 
ihnen  mit,  —  wie  ich  es  mit  dem  kaiserlichen  Ge- 
sandten vereinbart  hatte  —  dass  der  Prinz  angekom- 
men war  und  sich  freuen  würde,  sie  zu  begrüssen; 
der  französische  Ambassadeur  hielt  mir  darauf  eine 

*)  Graf  Johann  Georg  Friedrich  Einsiedel  (iy3o — 181 1), 
Kammerherr,  zuletzt  Kabinettsminister  des  Königreichs  Sach- 
sen. 

2)  Generalmajor  Georg  de  la  Chinal  wurde  später  zum  Re- 
sidenten des  Prinzen  Karl  in  Petersburg  ernannt  (1759  bis 
1762).   Anm.  d.  Herausg. 

346 


weitschweifige  Rede,  worin  er  behauptete,  es  sei  nö- 
tig, dass  der  Prinz  ihnen  dies  formell  mitteile;  aber 
schliesslich  blieb  es  dabei;  jetzt  regen  sie  sich  dar- 
über auf,  dass  der  Prinz  ihren  Besuch  noch  nicht  er- 
widert hat;  aber  er  kann  es  nicht  tun,  ehe  er  nicht 
die  Kaiserin  gesehen  hat,  und  aus  diesem  Grunde  hat 
er  beim  Herrn  Vizekanzler  nochmals  um  seine  Au- 
dienz nachgesucht  oder  um  die  Erlaubnis  I.  K.  Maje- 
stät, inzwischen  die  Gesandten  und  andere  Privat- 
personen aufzusuchen,  die  ihm  gemäss  den  Vorschrif- 
ten des  Zeremoniells  ihren  Besuch  bereits  abgestattet 
haben.  Den  Ministern  zweiten  Ranges  wurde  keine 
Mitteilung  gemacht;  die  Minister  von  Schweden  und 
Dänemark  haben  ohnedies  bereits  gestern  ihren  Be- 
such abgestattet. 

„Da  die  Infanterie-Kompagnie,  die  beim  Prinzen 
die  Wache  bezieht,  keine  Fahne  hat  und  die  Trom- 
mel nicht  gerührt  wurde,  als  S.  K.  Hoheit  ankam, 
sind  hierüber  dem  Herrn  Vizekanzler  Vorhaltungen 
gemacht  worden,  jedoch  erfolglos.  Betreffs  einiger 
anderer  strittiger  Punkte  des  Zeremoniells,  wie  z.  B. 
betreffs  der  öffentlichen  Soupers  an  grossen  Gala- 
tagen, hat  dieser  Minister  mir  gesagt,  dass  der  Prinz 
und  die  Gesandten  um  den  Platz  bei  Tische  losen 
werden;  was  den  Ball  betrifft,  so  hofft  man  S.  K.  Ho- 
heit durch  den  Ausweg  zufriedenzustellen,  dass  er, 
um  jeder  Auseinandersetzung  mit  den  Gesandten  aus 
dem  Wege  zu  gehen,  erst  zu  kommen  braucht,  wenn 
der  Tanz  bereits  begonnen  hat;  da  ich  ihm  aber  vor- 
stellte, dass  der  Prinz  sich  hiermit  durchaus  nicht  zu- 
frieden geben  könne  und,  ganz  im  Gegenteil,  diesen 
Ausweg  als  für  ihn  sehr  ungünstig  ansehen  müsse, 
weil  er  also  hinter  den  Gesandten  rangiere,  so  erwi- 

347 


derte  er,  man  werde  mit  ihnen  darüber  sprechen, 
das  Zeremoniell  sei  ihnen  bereits  mitgeteilt,  man 
könne  nichts  daran  ändern,  ohne  sie  vorher  zu  be- 
nachrichtigen, und  man  müsse  abwarten,  was  sie  da- 
zu sagten.  Was  die  Besuche  des  Prinzen  bei  den  Per- 
sönlichkeiten ersten  und  zweiten  Ranges  anlangt,  so 
wird  S.  K.  Hoheit  sie  einigen  abstatten,  bei  anderen 
sich  jedoch  hiervon  dispensieren. 

„Übrigens  ist  die  Unpässlichkeit  der  Kaiserin  nicht 
derart,  wie  man  es  angegeben,  sondern  ein  recht  bö- 
ser Unfall;  einige  der  hierbei  Anwesenden  wurden 
sogar  zu  Tränen  gerührt. 

„S.  K.  Hoheit  der  Prinz  hat  mir  den  Brief  Ew. 
Exzellenz  gezeigt;  er  hat  sowohl  zum  Herrn  Vize- 
kanzler wie  auch  zum  Herrn  Kammerherrn  Schuwa- 
low  viel  über  die  neuen  Bedrückungen  des  Königs 
von  Preussen  in  Sachsen  gesprochen  und  über  die 
Schmach,  die  er  der  königlichen  Familie  fortgesetzt 
antut.  Sie  haben  versprochen,  es  der  Kaiserin  in  den 
lebhaftesten  Farben  vorzustellen. 

„Bei  meinen  Unterredungen  mit  dem  Vizekanzler 
gab  dieser  mir  zu  verstehen,  man  würde  den  Prinzen 
gerne  bis  zum  Monat  Juni  hier  festhalten;  als  ich  ihm 
sagte,  dies  sei  ein  recht  ferner  Zeitpunkt  und  S.  K. 
Hoheit  verzehre  sich  vor  Ungeduld,  so  bald  als  mög- 
lich bei  der  Armee  einzutreffen,  da  S.  K.  Hoheit 
annehme,  die  Truppen  würden  nicht  mehr  lange 
müssig  bleiben,  so  erwiderte  er  mir,  er  wage  nicht 
einmal  mit  der  Kaiserin  über  die  Kriegsoperationen 
zu  sprechen,  denn  ihre  Güte  und  Menschlichkeit 
fühle  sich  durch  das  sie  begleitende  Unheil  schmerz- 
lich berührt  und  sobald  sie  erfahre,  dass  einige  hun- 
dert Menschen  getötet  wurden,  sei  sie  aufs  schmerz- 

348 


lichste  betroffen.  Ich  setzte  meine  Fragen  fort  und 
wollte  wissen,  ob  Fermor  noch  vor  Vereinigung  mit 
dem  Korps  der  3oooo  Mann  handeln  würde?  Er  gab 
ausweichende  Antworten,  sagte  weder  ja  noch  nein, 
aber  schliesslich  musste  er  doch  gestehen,  dass  man 
nichts  unternehmen  werde,  ehe  man  nicht  durch  die 
Ankunft  dieses  neuen  Korps  über  genügend  Kräfte 
verfüge. 

„Das  Los  des  früheren  Kanzlers  ist  noch  nicht  ent- 
schieden; jedoch  sagt  man,  die  Entscheidung  werde 
bald  fallen,  und  zwar  in  einer  für  ihn  ziemlich  gün- 
stigen Weise,  obgleich  er  sich  ziemlich  geschadet  hat, 
indem  er  die  Angelegenheit  Stambkes  leugnete,  als 
man  ihn  fragte,  ob  er  an  der  Verleihung  des  weissen 
Adlerordens  an  letzteren  teilgenommen  hätte.  Diese 
Bagatelle  wäre  ihm  beinahe  teuer  zu  stehen  gekom- 
men." 

Brief  an  denselben  vom  19.  April  1758. 
„Seit  der  Audienz  am  Sonntag  hat  der  Prinz  bis- 
her noch  keine  Einladung  zu  Hofe  erhalten;  am 
gleichen  Tage  ist  er  zu  den  beiden  Ambassadeurs  und 
zum  Vizekanzler  gegangen,  aber  man  war  so  zuvor- 
kommend, ihm  die  Mühe  zu  ersparen,  aus  der  Ka- 
rosseauszusteigen, und  Hess  sagen,  man  wäre  nicht  an- 
wesend; als  der  Vizekanzler  mit  mir  hierüber  sprach, 
erklärte  er  mir,  er  wüsste  die  Ehre,  die  der  Prinz 
ihm  erwiesen,  sehr  wohl  zu  schätzen,  wäre  jedoch 
nicht  in  der  Lage  gewesen,  ihn  in  seinem  Hause  zu 
empfangen,  jedoch  würde  er  sich  die  Freiheit  neh- 
men, S.  K.  Hoheit  zu  sich  zum  Diner  zu  bitten.  An 
den  beiden  darauffolgenden  Tagen  hat  der  Prinz  noch 
einige  andere  Besuche  gemacht. 

349 


„Graf  Esterhazy  hat  mich  voller  Eifer  gefragt, 
wann  die  geeignetste  Zeit  sei,  um  S.  K.  Hoheit  die 
Cour  zu  machen,  denn  er  wünsche  den  Prinzen  mög- 
lichst oft  zu  sehen,  um  ihm  seinen  Respekt  zu  be- 
zeugen, und  er  ist  auch  gleich  gestern  gekommen. 

„Obwohl  ich  keinen  Zweifel  hege,  dass  Ew.  Exzel- 
lenz aufs  genaueste  über  alle  Umstände  des  Aufent- 
halts S.  K.  Hoheit  am  hiesigen  Orte  informiert  wer- 
den, darf  ich  es  dennoch  nicht  unterlassen,  den  pein- 
lichen Zwischenfall  zu  vermerken,  der  bei  der  ersten 
Ausfahrt  S.  K.  Hoheit,  um  sich  an  den  Hof  zu  bege- 
ben, unterlaufen  ist.  Es  war  Vorschrift,  dass  Kammer- 
herr Tschernischew  und  Kammerjunker  Buturlin, 
die  von  der  Kaiserin  zur  Begleitung  des  Prinzen  be- 
stimmt wurden,  mit  ihm  in  der  gleichen  Karosse  Platz 
nehmen  sollten;  es  gab  hierüber  keine  Meinungs- 
verschiedenheit, weil  angenommen  wurde,  dass  der 
Prinz  allein  im  Fond  sitzen  würde  und  die  beiden 
Kavaliere  auf  dem  Rücksitz;  da  jedoch  Monsieur  de 
Tschernischew  unbedingt  neben  dem  Prinzen  sitzen 
wollte  und  dieser  es  nicht  für  angebracht  hielt,  ihm 
den  Gefallen  zu  versagen,  so  musste  der  vierte  Platz 
auf  dem  Rücksitz  besetzt  werden,  und  S.  K.  Hoheit 
bestimmte  den  Generalmajor  de  la  Chinal.  Darauf- 
hin waren  der  Fürst- Woiwode  von  Lublin  *)  und  der 
Herr  Kronsekretär2)  der  Ansicht,  dies  bedeute  eine 
Bevorzugung,  und  sie  wollten  nicht  mit  zu  Hofe  ge- 
hen und  lieber  ein  andermal,  allein,  als  ausländische 
Reisende  vorgestellt  werden,  als  Monsieur  de  la  Chinal 
mit   dem  Prinzen  in    einer  Karosse  zu  sehen,  indes 

a)  Anton  Lubomirski  (171 9 — '782),  Hofmarschall  des  Prin- 
zen Karl. 
2)  Franz  Rzewuski.   Anm.  d.  Herausg. 

35o 


sie  in  einer  zweiten  folgen  sollten.  Sie  liessen  sich  je- 
doch bald  beschwichtigen  als  man  ihnen  erklärte, 
dass  der  vierte  Platz  in  der  prinzlichen  Karosse,  nach 
den  Herren  Tschernischew  und  Buturlin,  durchaus 
kein  Ehrenplatz  wäre  und  weder  eines  Fürst- Woi- 
woden  noch  des  Herrn  Kronsekretärs  würdig,  und 
Monsieur  de  la  Ghinal  wäre  hierzu  nur  als  erster  Die- 
ner des  Prinzen  ausersehen  worden,  um  das  Loch  zu 
stopfen,  weil  es  besser  war,  den  Platz  zu  besetzen,  als 
Herrn  Tschernischew  neben  S.  K.  Hoheit  im  Fond 
und  Herrn  Buturlin  allein  auf  den  Rücksitz  zu  setzen ; 
dies  wäre  also  durchaus  nicht  der  Beweis  einer  Be- 
vorzugung und  täte  diesen  beiden  Seigneurs  keinen 
Abbruch,  denn  sie  würden  unmittelbar  nach  dem 
Prinzen  den  Hof  betreten  und  als  erste  durch  ihn 
vorgestellt  werden.  Übrigens  ist  es  eine  Distinktion, 
dass  man  S.  K.  Hoheit  mit  seinem  ganzen  Gefolge 
empfangen  hat;  denn  die  Ambassadeurs  begeben  sich 
für  gewöhnlich  allein  zur  ersten  Audienz  und  die 
Mitglieder  der  Gesandtschaft  werden  erst  bei  einer 
öffentlichen  Assemblee  an  einein  Hoftage  vorgestellt. 

„Der  Prinz  amüsiert  sich  zu  Hause  so  gut  es  geht, 
von  Zeit  zu  Zeit  gibt  es  Musik,  da  die  Musikanten 
der  Kaiserin  hierzu  befohlen  sind.  Gestern  zeigte  man 
S.  K.  Hoheit  die  Elefanten;  man  führte  sie  in  den 
Hof  des  Hauses,  dessen  Besitzer,  der  Herr  Kammer- 
herr Schuwalow,  mit  S.  K.  Hoheit  dinierte. 

„Die  Ratifikationen  des  Beitritts  Schwedens  zur 
grossen  Allianz,  die  in  vergangener  Woche  von  der 
Kaiserin  unterzeichnet  wurden,  sind  vorgestern  aus- 
gewechselt worden;  aber  man  stiess  noch  auf  Hin- 
dernisse, denn  Schweden  hatte  nur  ein  Exemplar  ge- 
schickt, anstatt  der  drei  erforderlichen,  und  auf  jenen 

35i 


Frankreichs  stand  durch  ein  Versehen  der  Kanzlei 
Russland  in  allen  dreien  an  erster  Stelle.  Der  Ge- 
sandte Frankreichs  schickt  morgen  seinen  Neffen,  den 
Baron  de  FHöpital,  nach  Frankreich,  um  dem  dorti- 
gen Hofe  das  ihm  zukommende  Exemplar  zu  über- 
bringen. 

„Baron  Stambke  ist  gestern  nach  Holstein  abge- 
reist, wo  man  ihm  seinen  Platz  im  Conseil  nicht  ent- 
zogen hat;  S.  K.  Hoheit  der  Grossfürst  hat  ihm  sein 
Wohlwollen  bezeugt,  als  er  sich  von  ihm  verabschie- 
dete. Es  ist  noch  un  gewiss,  ob  Herr  Westphal  an 
seine  Stelle  kommen  wird,  man  glaubt,  er  werde  aus 
Rücksicht  auf  sein  Alter  ablehnen.  Inzwischen  erle- 
digt Herr  Brockdorf  die  Angelegenheiten,  aber  er 
wiederholt  stets,  dass  auch  er  nicht  lange  hier  blei- 
ben werde,  dass  er  sich  zurückziehen  wolle,  jedoch 
nicht  nach  Holstein.  Solange  Stambke  sein  Haus 
nicht  verlassen  durfte,  ging  er  ihn  oft  besuchen  und 
hörte  nicht  auf  ihm  zu  sagen :  quod  tibi  hodie,  mihi 
aas;  dies  ist  zum  Teil  mit  Ursache,  dass  Stambke 
nicht  härter  behandelt  wurde;  obgleich  seine  Frau 
eine  Nichte  Brockdorfs  ist,  haben  sie  sich  nie  verstan- 
den; jedoch  hat  sich  der  Onkel  mit  dem  Triumph  be- 
gnügt, die  Entfernung  Stambkes  bewirkt  zu  haben, 
ohne  ihm  grösseres  Übel  zuzufügen. 

„Bestuschews  Angelegenheit  ist  noch  immer  un- 
entschieden; man  hat  mir  gesagt,  er  habe  bei  sei- 
nem Tischler  zwei  Reisebetten  bestellt;  das  würde  be- 
deuten, dass  er  mit  der  Abreise  von  hier  rechnet, 
dass  es  jedoch  nicht  nach  Sibirien  gehen  wird,  denn 
die  Reisen,  die  man  Staatsverbrecher  nach  jenem 
Lande  unternehmen  lässt,  gehen  nicht  mit  solchen 
Bequemlichkeiten  vonstatten." 

352 


Grossfürst  Peter 

(von  Rotari  um  iy58) 

(Original  im  Herzogl.  Anhalt.  Schlosse  Zerbst) 


SIEBENTES    KAPITEL 


BRIEF  AN  DEN  GRAFEN  BRÜHL  VOM  21.  APRIL. 
DER  AUSTAUSCH  VON  OSTFRIESLAND  UNMÖG- 
LICH. GEHEIME  FELDZUGSPLÄNE.  —  BBIEF  AN 
BRÜHL  VOM  22.  APRIL.  MILITÄRISCHE  MASSNAH- 
MEN UND  PROJEKTE.  ANKUNFT  DES  TÜRKISCHEN 
GESANDTEN.  —  BRIEF  AK  BRÜHL  VOM  25.  APRIL. 
ERHÖHUNG  DES  RUBELKUBSES  AUF  19  SZOSTAKS. 
EINE  KAMMERFRAU  DER  GROSSFÜRSTIN  WIRD 
ARRETIERT.  EINE  UNTERREDUNG  MIT  DER  KAI- 
SERIN SOLL  ALLES  IN  ORDNUNG  BBINGEN.  — 
BRIEF  AN  BRÜHL  VOM  28.  APRIL.  DIE  RUSSEN 
BBAUCHEN  DIE  SÄCHSISCHE  KAVALLERIE.  DAN- 
ZIG.  MIR  WIRD  EIN  URLAUB  BEWILLIGT.  ICH  ER- 
BITTE DAS  AMT  EINES  LANDBOTEN  VON  LI  VLAND. 
ICH  BEDANKE  MICH  FÜR  EINEN  WECHSEL  ÜBEB 
4ooo  BUBEL.  —  BRIEF  AN  BBÜHL  VOM  2.  MAI. 
SÄCHSISCHE  KAVALLEBIE  SOLL  ZUR  RUSSISCHEN 
ARMEE  STOSSEN.  DANZIG  SOLL  NICHT  MIT  GE- 
WALT EINGENOMMEN  WERDEN.  DER  KÖNIG  SOLL 
SELBST  AN  ELISABETH  SCHBEIBEN.  DIE  DANZI- 
GER  SOLLEN  AUFDER  ABLEHNUNG  EINER  GAR- 
NISON BESTEHIiN.  ANKAUF  VON  PFERDEN  IN 
PREUSSEN.  VERZÖGERUNG  DER  BEZAHLUNG  DES 
IN  POLEN  ANGEKAUFTEN  GETREIDES.  LOB  DES 
PRINZEN  KARL.  ELISABETH  BESCHENKT  IHN.  — 
BBIEF  AN  RRÜHL  VOM  5.  MAI.  DANZIG  KÖNNTE 
EINE  POLNISCHEGARNTSON  ERHALTEN,UM  KEINE 
ANDERE  AUFNEHMEN  ZU  MÜSSEN.  VERSUCH, 
BBOCKDORF  DAS  BLAUE  BAND  DES  POLNISCHEN 
ORDENS  ZUKOMMEN  ZU  LASSEN.  —  BRIEF  AN 
BBÜHL  VOM  9.  MAI.  VERSÖHNUNG  DER  GENE- 
RÄLE FERMOR  UND  BROWNE.  KÜSTRIN  SOLL 
NICHT  BELAGERT  WERDEN.  STATT  DES  ORDENS 
SOLL  BROCKDORF  EINE  PENSION  ERHALTEN. 


Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  21,  April  1758. 

Zwei  Stunden,  nachdem  ich  dem  Grafen  Ester- 
hazy  den  Brief  gesandt,  den  ich  vorgestern  an 
Ew.  Exzellenz  zu  schreiben  die  Ehre  hatte  und  der 
durch  seinen  Kurier  befördert  werden  sollte,  erhielt 
ich  Ihren  Brief  vom  7.  durch  den  Kurier,  der  beim 
Marquis  de  lHöpital  eintraf;  die  Post,  die  heute  von 
Riga  ankam,  hat  mir  jedoch  kein  Schreiben  von  Ew. 
Exzellenz  überbracht,  die  Warschauer  Post  scheint 
sich  infolge  der  schlechten  Wege  verspätet  zu  haben. 
„Wenn  die  Absicht  des  Wiener  Hofes,  dem  Gross- 
fürsten Ostfriesland  anzubieten,  von  den  Verhand- 
lungen über  den  Austausch  von  Schleswig  abhing, 
wodurch  dieses  Angebot  ungewiss  und  in  weite 
Ferne  gerückt  wurde,  so  steht  es  jetzt  damit  noch 
viel  schlimmer,  da  die  Preussen  einen  Teil  dieser 
Provinz  zurückgewonnen  und  die  Franzosen  sie  auf- 
gegeben haben.  Der  Hof  von  Versailles  hatte  es  sei- 
nerseits dem  König  von  Dänemark  angeboten,  um 
diesem  Fürsten  ein  Objekt  in  die  Hand  zu  geben, 
womit  er  den  Grossfürsten  hätte  zufrieden  stellen 
können,  indem  er  ihn  durch  dieses  Lockmittel  dort- 
hin brächte,  wo  er  ihn  haben  wollte.  Durch  die  ver- 
änderten Umstände  sind  jedoch  all  diese  Pläne  hin- 
fällig geworden;  Esterhazy  denkt  nicht  mehr  daran, 

354 


da  er  überzeugt  ist,  dass  die  Franzosen  nicht  im- 
stande sein  werden,  während  dieser  Kampagne  dem 
Haus  Österreich  noch  grosse  Dienste  zu  leisten. 

„Man  hat  hier  einen  Operationsplan  entworfen,  der 
dem  Könige  durch  die  russischen  Minister  an  seinem 
Hofe  direkt  übermittelt  werden  soll.  Man  hat  mir 
keine  Kenntnis  davon  gegeben,  aber  ich  habe  im  ge- 
heimen erfahren,  dass  er  in  folgendem  besteht:  Ge- 
neral Fermor  hat  Befehl  erhalten,  i5 — 17000  Mann 
von  seiner  Armee  abzuzweigen  und  sie  unverzüglich 
vorzuschicken,  um  jenen  berühmten  Posten  zwischen 
Warthe  und  Netze  einzunehmen,  sich  dort  zu  befesti- 
gen und  die  Ankunft  der  übrigen  Truppen  abzuwar- 
ten. Neben  dieser  Ordre  eine  Anfrage  an  denselben 
General,  er  solle  seine  Meinung  über  den  weiteren 
Verlauf  der  Operationen  äussern,  was  hinwieder  eini- 
germassen  befürchten  lässt,  er  könnte  die  Ausführung 
für  zu  schwierig  oder  sogar  für  unmöglich  haken,  ob- 
gleich der  Befehl  ganz  ausdrücklich  und  sehr  dring- 
lich sein  muss,  weil  er  den  guten  Willen  dieses  Hofes 
markieren  soll  und  seine  Bereitschaft,  rasch  und 
energisch  zu  handeln.  Im  übrigen  wird  hier  aus  die- 
ser Anordnung  ein  solches  Geheimnis  gemacht,  dass 
man  sogar  den  Grafen  Esterhazy  inständigst  gebeten 
hat,  dem  Grafen  Sternberg  nichts  hiervon  zu  schrei- 
ben. 

„S.  Hoheit  Prinz  Karl  macht  täglich  einige  Besuche, 
jedoch  ohne  sich  die  Mühe  nehmen  zu  müssen,  seine 
Karosse  zu  verlassen,  mit  Ausnahme  von  zwei  oder 
drei  Häusern,  unter  anderen  beim  Herrn  Vizekanz- 
ler, wo  er  gestern  an  einer  Quadrille  teilgenommen 
hat.  Nach  Ostern  wird  es,  wie  verlautet,  viele  Fest- 
lichkeiten und  Bälle  geben,  abgesehen  von  den  bei- 

23*  355 


den  Galatagen,  von  denen  der  eine  auf  den  21.  a.  St., 
den  Geburtstag  der  Grossfürstin,  und  der  zweite  auf 
den  2  5.,  den  Jahrestag  der  Krönung  I.  K.  Majestät 
fällt." 

Brief  an  denselben  vom  22.  April  1758. 

„Obgleich  ich  die  Ehre  hatte,  Ew.  Exzellenz  ge- 
stern durch  die  gewöhnliche  Post  zu  schreiben,  er- 
greife ich,  da  der  Herr  Ambassadeur  von  Frankreich 
mir  mitgeteilt  hat,  dass  sein  Neffe  heute  abreisen 
wird,  diese  Gelegenheit,  um  Ihnen  zu  berichten,  was 
ich  beim  Herrn  Vizekanzler  erfahren  habe,  als  ich 
ihm  heute  vormittag  meinen  gewöhnlichen  Minister- 
besuch abstattete. 

„Die  letzten  Nachrichten  von  General  Tscherni- 
schew  waren,  er  werde  unverzüglich  mit  IOOOO 
Mann  aus  Wilno  ausmarschieren,  um  20  OOO  anderen 
Platz  zu  machen,  von  denen  er  mir  jedoch  nicht  sa- 
gen konnte,  wo  sie  sich  augenblicklich  befänden, 
General  Romanzow  rekrutiere,  reformiere  und  exer- 
ziere die  Überreste  ihrer  Kavallerie  in  Stolp  und  an 
einem  anderen  Orte  in  Litauen,  an  dessen  Namen  er 
sich  nicht  mehr  entsinnen  könne.  General  Fermor 
habe  bereits  bei  Marienwerder  eine  Brücke  über  die 
Weichsel  schlagen  lassen,  um  die  Armee  überzu- 
setzen; diese  soll  —  so  versicherte  er  mir  —  59000 
Mann  stark  sein,  abgesehen  von  dem  Observations- 
korps;  das  muss  den  König  von  Preussen  in  die 
schlimmste  Verlegenheit  setzen,  falls  man  nur  mit 
etwas  Energie  vorgeht,  wie  zu  erhoffen  ist. 

„Der  Herr  Vizekanzler  glaubt  nicht,  dass  Eng- 
land ernsthaft  daran  denkt,  eine  Eskader  in  die  Ost- 
see zu  entsenden,  dies  könne  auch  nicht  der  Zweck 

356 


des  Auslaufens  der  Flotte  General  Hawkes  sein,  denn 
keiner  ihrer  Minister  habe  es  ihnen  berichtet,  die 
doch  in  der  Lage  seien,  dies  zu  erfahren,  und  nicht 
ermangeln  würden,  es  ihrem  Hofe  sogleich  mitzu- 
teilen. 

„Im  übrigen  wird  in  Kronstadt  mit  aller  Anstren- 
gung gearbeitet,  »im  die  russische  Flotte  so  rasch  als 
möglich  instand  zu  setzen,  die  mit  neunzehn  Segeln 
auslaufen  soll.  Die  Regimenter  Ingermanland  und 
Astrachan  haben  zum  dritten  Mal  den  Befehl  erhal- 
ten, marschbereit  zu  sein,  man  hat  ihnen  jedoch  noch 
nicht  gesagt,  wohin  sie  gehen  werden,  auch  nicht  ob 
sie,  wie  man  vermutete,  auf  den  Galeeren  eingeschifft 
werden  sollen. 

„Der  türkische  Gesandte  ist  vor  zwei  Tagen  im  Klo- 
ster St.  Alexander  Newski  angekommen,  einige  Werst 
von  hier,  und  soll  morgen  in  die  Stadt  einziehen." 

Brief  an  denselben  vom  id.  April  1768. 

„Die  gewöhnliche  Post,  die  vorgestern  hier  ankom- 
men sollte,  ist  erst  heute  angekommen,  infolgedessen 
kann  ich  erst  heute  den  Empfang  des  Briefes  bestäti- 
gen, mit  dem  Ew.  Exzellenz  mich  am  1  9.  d.  M.  be- 
ehrten und  der  sich  mit  der  vorletzten  Warschauer 
Post  verspätet  hat. 

„Ich  werde  nicht  ermangeln,  den  Herrn  Vizekanz- 
ler auf  den  bedeutenden  Schaden  aufmerksam  zu 
machen,  der  Polen  durch  die  beabsichtigte  Änderung 
des  Rubelkurses  erwachsen  würde,  das  heisst  wenn 
man  ihn  von  6  Tymphen  auf  19  Szostaks  erhöhen 
würde;  und  welcher  Unterschied  zwischen  dem 
eigentlichen  Wert  der  Münzen  der  Republik  und 
jenen  Brandenburgisch-Preussens  besteht. 

35, 


„Seine  Hoheit  Prinz  Karl  hat  bei  der  Kaiserin  völ- 
ligen Beifall  gefunden,  sie  äussert  sich  sehr  lobend 
über  ihn,  S.  K.  Hoheit  gewinnt  alle  Herzen  und  den 
Beifall  und  Bespekt  eines  jeden.  Ich  habe  gehört,  — 
kann  es  jedoch  nicht  mit  Bestimmtheit  versichern 
—  dass  I.  K.  Majestät  ihm  ein  Geschenk  von  60  bis 
80000  Bubel  zu  machen  gedenkt.    • 

„Man  hat  mir  auch  gesagt,  dass  Bestuschews  Sache 
heute  erledigt  werden  soll.  Was  ich  mit  einer  gewis- 
sen Bestimmtheit  versichern  kann  ist,  dass  wrir  in  der 
kommenden  Woche  wissen  werden,  was  wir  über 
den  Stand  des  hiesigen  Hofes  zu  denken  haben. 

„Vor  einigen  Tagen  ist  eine  Kammerfrau  der  Gross- 
fürstin verhaftet  worden;  gestern  hatte  die  Grossfür- 
stin mit  der  Kaiserin  eine  sehr  wichtige  Unterredung, 
welche,  allem  Anschein  nach,  sämtliche  Angelegen- 
heiten einer  guten  Lösung  entgegenführen  wird." 

Brief  an  denselben  vom  28.  April  1758. 

„Da  ich  soeben  erst  den  Brief  Ew.  Exzellenz  vom 
17.  d.  M.  erhalten  habe,  beantworte  ich  ihn  in  aller 
Eile  und  behalte  mir  alles  übrige  für  die  nächste 
Post  vor. 

„Es  ist  sozusagen  unmöglich,  von  hier  aus  im  Au- 
genblick mehr  Kavallerie  zur  Armee  des  Generals 
Fermor  zu  schicken.  Hier  in  der  Residenz  steht  das 
Reitergarderegiment  und  ein  Kürassierregiment,  in 
der  Ukraina  gibt  es  einige  Dragonerregimenter,  diese 
sind  aber  so  fern,  dass  sie  erst  gegen  Ende  der  Kam- 
pagne ankommen  könnten.  Es  ist  daher  sehr  zu 
wünschen,  dass  an  der  Bestimmung  der  sächsischen 
Karabinier-  und  leichten  Reiterregimenter,  die  der 
russischen  Armee  angegliedert  werden  sollen,  nichts 

358 


geändert  werde,  denn  hier  sind  sie  am  nötigsten,  in- 
des die  Österreicher  ohnehin  über  genügend  eigene 
Kavallerie  verfügen. 

„Ich  habe  mich  gestern  beim  Herrn  Vizekanzler 
nach  Nachrichten  von  General  Tschernischew  erkun- 
digt; er  hat  mir  geantwortet,  seit  dessen  letztem 
Briefe  aus  Wilno  sei  nichts  verlautet,  auch  nicht  von 
General  Romanzow,  von  dem  ich  Ew.  Exzellenz  mit- 
geteilt habe,  dass  er  die  Überreste  der  russischen  Ka- 
vallerie in  Litauen  reformiere  und  einexerziere,  was 
ein  weiterer  Beweis  der  Notwendigkeit  einer  Kaval- 
lerie für  sie  ist  und  wie  nützlich  ihnen  jene  des  Kö- 
nigs sein  würde. 

„Was  den  Entschluss  dieses  Hofes  anlangt,  im 
eigenen  Namen  von  den  in  Deutschland  eroberten 
Provinzen  des  Königs  von  Preussen  Besitz  zu  ergrei- 
fen, so  sehe  ich  kein  anderes  Mittel,  als  durch  den 
Grafen  Flemming  den  Wiener  Hof  darauf  aufmerk- 
sam zu  machen,  falls  diese  Klausel,  die  in  der  Ant- 
wort Russlands  (über  die  Esterhazy  sich  so  gefreut 
hat)  angefügt  war,  nicht  bereits  die  Aufmerksamkeit 
des  österreichischen  Ministeriums  erweckt  hat. 

„Was  Apraxin  anlangt,  so  spricht  man  schon 
nicht  mehr  über  ihn,  denn  sein  Los  kann  in  keiner 
Weise  das  Los  Bestuschews  beeinflussen,  da  es  ausser 
Zweifel  steht,  dass  jener  keinerlei  Anteil  an  dem 
schmachvollen  Rückzug  hatte,  den  der  andere  im 
verflossenen  Jahre  mit  seinen  Truppen  ausführte; 
im  Gegenteil,  er  hat  am  lautesten  dawider  gespro- 
chen, obgleich  er  mit  Apraxin  befreundet  war,  denn 
er  stellte  das  öffentliche  Wohl  über  seine  persön- 
lichen Beziehungen.  Deshalb  ist  auch  von  dieser 
Sache  gar  nicht  mehr  die  Rede;  Ew.  Exzellenz  sind 

•359 


die  anderen  Yorwände  bekannt,  die  herangezogen 
wurden,  um  diesen  Minister  zu  stürzen. 

„Bezüglich  der  Verhandlungen  mit  der  Stadt  Dan- 
zig  hat  mir  der  Herr  Vizekanzler  gesagt,  der  russische 
Resident  sei  beauftragt,  dem  Magistrat  ein  zweites 
Memorial  zu  überreichen,  und  er  hoffe,  die  Stadt 
werde  endlich  auf  seine  Vorstellungen  hin  nachgeben. 

„Als  ich  mir  die  Freiheit  nahm,  Ew.  Exzellenz  zu 
schreiben,  ich  sei  der  Ansicht,  dass  ein  Brief  des 
Königs  an  die  Kaiserin  das  einzige  Mittel  wäre,  wel- 
ches bezüglich  der  Okkupation  von  Elbing  und  Thorn 
noch  eine  Wirkung  ausüben  könnte,  so  war  es  meine 
Überzeugung,  die  sich  auch  jetzt  nicht  geändert  hat, 
denn  es  steht  fest,  dass  man  an  diesem  Hofe  nichts 
erreicht,  wenn  man  die  Sachen  nicht  nachdrücklichst 
vorstellt  und  betreibt;  die  persönlichen  Briefe  Ew. 
Exzellenz  an  den  Herrn  Vizekanzler,  die  ich  diesem 
übermittelt  habe,  genügten  nicht  und  hatten  nicht 
genug  Autorität. 

„Ich  danke  Ew.  Exzellenz,  dass  Sie  mir  vom  Kö- 
nig die  Erlaubnis  erwirkt  haben,  mich  nach  Polen  zu 
begeben,  um  mich  zum  nächsten  Reichstag  als  Land- 
bote wählen  zu  lassen;  ich  werde  gemäss  dem  Wil- 
len Sr.  Majestät  im  gegebenen  Zeitpunkt  von  dieser 
Erlaubnis  Gebrauch  machen;  inzwischen  bitte  ich 
Ew.  Exzellenz  inständigst,  mir  unter  den  livländi- 
schen  Landboten  einen  Platz  zu  sichern  und  mir  hier- 
über eine  Antwort  zuteil  werden  zu  lassen. 

„Des  ferneren,  da  Sie  mir  nichts  von  dem  Wech- 
sel über  4000  Rubel  geschrieben  haben,  der  mir  zu- 
gegangen ist  und  den  ich  einzig  und  allein  dem 
Wohlwollen  des  Königs  und  Ihrem  Eintreten  für 
mich  verdanken  zu  müssen  glaube,  so  bitte  ich  Sie, 

36o 


CA&03L375  Eil  rSEO-^Ol^^IMi 
LSÄX.=CUHL.€-t  SEI 


:3BB| 


— 


Karl,  Herzog  von  Kurland,  Sohn  König  Augusts  III. 
von  Polen 


Seiner  Königlichen  Majestät  meinen  untertänigsten 
Dank  zu  Füssen  zu  legen,  und  den  Dank,  den  ich  Ihnen 
schulde,  freundlichst  entgegennehmen  zu  wollen." 

Briet' an  denselben  vom  2.  Mai  1758. 

„Ich  habe  Seiner  Königlichen  Hoheit  mitgeteilt, 
was  Ew.  Exzellenz  mich  am  17.  d.  M.  wissen  Hessen, 
dass  der  Wiener  Hof  die  Bestimmung  der  Verwen- 
dung der  sächsischen  Kavallerieregimenter  ändern 
wolle  in  der  Annahme,  die  grosse  russische  Armee 
des  Generals  Fermor  verfüge  bereits  über  genügend 
Kavallerie.  S.  K.  Hoheit  hat  es  für  gut  befunden,  von 
den  beiden  Ambassadeurs  zu  verlangen,  dass  sie  nach 
Wien  schreiben,  um  diese  Abänderung  zu  verhindern. 
Graf  Esterhazy,  mit  dem  ich  darüber  gesprochen 
habe,  war  über  diese  Nachricht  um  so  mehr  erstaunt, 
als  sein  Hof  ihm  nichts  bekannt  gegeben  und,  ganz 
im  Gegenteil,  Graf  Kaunitz  ihm  sogar  mitgeteilt 
hatte,  dass  diese  sächsische  Kavallerie  sich  bereits  auf 
dem  Marsche  nach  Polen  befände.  Er  gab  zu,  dass  es 
eine  falsche  Massnahme  wäre,  wenn  man  sie  der 
russischen  Armee  entzöge,  die  ihrer  notwendig  be- 
dürfe, sowohl  wegen  des  schlechten  Zustands  ihrer 
eigenen  dort  vorhandenen  Kavallerie,  als  auch  weil 
man  von  hier  aus  keine  Kavallerie  hinschicken  kann 
und  das  Observationskorps  nur  aus  Infanterie  be- 
steht; er  will  auch  an  seinen  Hof  schreiben,  um  die 
Gründe  und  die  Notwendigkeit  des  Festhaltens  am 
ursprünglichen  Plan  darzulegen. 

„Was  die  Affäre  von  Danzig  betrifft,  die  den  Ge- 
genstand des  letzten  Briefes  Ew.  Exzellenz  bildet,  so 
habe  ich  mich  zuerst  zu  den  beiden  Gesandten  be- 
geben, um   ihnen    die    Details   mitzuteilen.    Marquis 

36i 


de  THopital  sprach  sehr  viel  über  die  Grossherzigkeit 
der  Kaiserin,  über  die  guten  Absichten  Russlands, 
von  dem  man  nicht  annehmen  dürfe,  dass  es  Gewalt- 
massnahmen  plane,  da  es  sich  doch  nur  auf  den  Weg 
der  Unterhandlungen  begeben  wolle,  die  durch  die 
Garantien  der  alliierten  Höfe  unterstützt  würden; 
nach  einer  äusserst  langen  Rede  konnte  ich  nichts 
weiter  aus  ihm  herausziehen,  als  dass  er  sich  dem 
Vorgehen  Esterhazys  anschliessen  werde.  Dieser  sagte 
mir,  ohne  so  weitschweifig  zu  werden,  der  Resident 
Russlands  in  Danzig,  Monsieur  Puschkin,  habe  einen 
grossen  Fehler  begangen,  als  er  bei  Übergabe  seines 
Memorials  an  den  Magistrat  nicht  auch  die  von  der 
Kaiserin  unterzeichnete  Deklaration  vorwies,  worin 
—  in  Erwartung  der  Garantien  der  Höfe  von  Wien 
und  Versailles  —  aufs  nachdrücklichste  alle  Befürch- 
tungen zerstreut  wurden,  die  bei  den  Bürgern  der 
Stadt  Danzig  auftauchen  konnten  angesichts  des  von 
Puschkin  zu  unterbreitenden  Vorschlags,  eine  rus- 
sische Garnison  dort  einzusetzen;  er  sei  deshalb  ge- 
tadelt worden  und  man  habe  ihm  ausdrücklich  be- 
fohlen, dieses  wesentliche  Schreiben  im  Original  vor- 
zulegen; dass  man  sicherlich  an  keine  Gewaltmass- 
nahmen  denke,  dass  man  nicht  einmal  in  der  Lage 
sei,  eine  Belagerung  durchzuführen,  da  es  an  Ka- 
nonen mangele;  dass  man  noch  hoffe,  die  Bewoh- 
ner würden  sich  endlich  den  freundschaftlichen  Vor- 
stellungen der  alliierten  Mächte  fügen ;  er  persönlich 
erhoffe  sich  ganz  besonders  viel  davon,  dass  General 
St.   Andre1)  beauftragt  sei,  in  einer  Sondermission 

*)  Friedrich  Daniel  Saint-Andre,  österreichischer  Feldmar- 
schalleutnant  und  Attache  der  russischen  Armee.  Anm.  d. 
Herausg. 

362 


nach  Danzig  zu  gehen  und  dort  im  Namen  seines  Ho- 
fes vorstellig  zu  werden;  auch  habe  gleichzeitig  Mon- 
sieur de  Stainville  *)  an  den  französischen  Residenten 
in  Danzig,  Monsieur  Dumont,  geschrieben,  da  er 
nicht  daran  zweifelte,  letzterer  würde  bald  vom 
allerchristlichsten  König  direkte  Ordre  erhalten,  die- 
sen General  und  den  Residenten  Russlands  zu  unter- 
stützen, um  die  ganze  Angelegenheit  einem  guten 
Ende  zuzuführen. 

„Der  Herr  Vizekanzler,  mit  dem  ich  heute  dar- 
über gesprochen  habe,  erwiderte  mir,  er  könne  mir 
nur  wiederholen,  was  er  bereits  gesagt,  nämlich  das* 
er  —  die  Klagen  und  Misslichkeiten,  welche  die  Ok- 
kupation Danzigs  nach  sich  ziehen  würde,  voraus- 
sehend —  von  Anbeginn  sich  dieser  Massnahme  wi- 
dersetzt habe,  dass  aber  die  bei  der  Konferenz  anwe- 
senden Militärs  so  sehr  auf  der  Notwendigkeit  der 
Besetzung  Danzigs  bestanden  (einer  angeblich  uner- 
lässlichen  Massnahme),  dass  er  endlich  gezwungen 
war,  nachzugeben ;  er  habe  aber  beständig  der  Mei- 
nung widersprochen,  man  solle  alle  Schwierigkei- 
ten, denen  man  bei  der  Ausführung  dieses  Planes  be- 
gegnen werde,  gewaltsam  hinwegräumen  und  habe 
stets  zu  verhindern  gewusst,  dass  diese  Ansicht  die 
Oberhand  bekam,  aus  Rücksicht  auf  ein  freund- 
schaftliches Nachbarverhältnis,  das  die  Kaiserin  mit 
der  polnischen  Republik  unverbrüchlich  aufrecht 
zu  erhalten  entschlossen  sei;  dass  infolgedessen  die 
präzisesten  Ordres  an  den  General  Fermor  abgegan- 
gen seien,  sich  aller  Gewaltmassnahmen  zu  enthal- 
ten, der  General  den  Empfang  dieser  Ordres  bereits 
a)  Etienne  Francois  Comte  de  Stainville,  der  spätere  Herzog 
von  Choiseul.   Anm.  d.  Herausg. 

363 


bestätigt  habe  und  solchermassen  sie  sicherlieh  nicht 
übertreten  könne,  —  er  müsste  sonst  wahnsinnig 
sein  (so  lauteten  die  Worte  des  Vizekanzlers) ;  Pusch- 
kin sei  ernstlich  getadelt  worden,  weil  er  nicht  zuerst 
die  von  der  Kaiserin  unterzeichnete  Deklaration  vor- 
gelegt hat,  von  der  oben  die  Rede  war;  gestern  habe 
man  im  Conseil  eine  sehr  freundschaftliche  Antwort 
an  die  Danziger  beschlossen,  auf  jenen  Brief,  den  sie 
an  die  Kaiserin  geschrieben ;  unserem  Hofe  werde 
man  davon  Mitteilung  machen,  mit  dem  Ausdruck 
des  Dankes  für  die  Art  und  Weise,  wie  er  in  dieser 
Angelegenheit  gehandelt  habe;  man  verspreche  sich 
sehr  viel  von  den  Verhandlungen  des  Generals  St. 
Andre  ;  und  er  wiederholte,  dass  man  in  dieser  Sache 
nur  auf  dem  Wege  der  Verhandlungen  vorgehen  und 
sich  jeder  Gewaltmassregel  enthalten  werde. 

„Durch  diese  günstige  Antwort  ermutigt,  unter- 
stützte ich  die  Idee,  keine  Besatzung  in  die  Stadt  zu 
legen  und  sie  nur  mit  einem  Korps  von  10 — [2000 
Mann  zu  decken.  Darauf  bekam  ich  nur  eine  ganz 
vage  Antwort.  In  Wirklichkeit  glaube  ich  jedoch  be- 
haupten zu  können,  dass,  wenn  die  Schwierigkeiten 
von  Seiten  der  Danziger  aufrecht  erhalten  und  durch 
stichhaltige  Gründe  gestützt  werden,  man  endlich 
vielleicht  doch  von  der  Idee,  eine  Garnison  hineinzu- 
legen, ablassen  wird.  Im  allgemeinen  wage  ich  zu 
sagen,  dass  jede  Opposition,  jedoch  vor  allem  jene, 
die  der  König  bei  dieser  oder  einer  anderen  Gelegen- 
heit zu  machen  für  richtig  befinden  würde,  hier  im- 
mer Eindruck  machen  wird,  und  besonders,  wenn 
Se.  Majestät  selbst  an  die  Kaiserin  schreiben  wollte. 

„Ich  ging  dann  zu  der  Frage  der  Pferdeankäufe  in 
den  beiden  Preussen  für  die  russische  Kavallerie  über. 

364 


Der  Herr  Vizekanzler  sagte  mir,  die  entsprechenden 
Ordres  seien  erteilt  und  man  kaufe  bereits  zu  10,  12 
und  20  Stück,  finde  jedoch  nicht  so  viel,  als  nötig 
wäre.  Ich  benützte  die  Gelegenheit  um  anzudeuten, 
man  hätte  Grund  zu  glauben,  es  sei  um  ihre  Militär- 
kasse schlecht  bestellt,  da  die  Bezahlung  des  Getrei- 
des, worüber  Herr  von  Stein  mit  Privatleuten  Ver- 
träge abgeschlossen  hat,  auf  sich  warten  lasse  und 
manchmal  ganz  ausbleibe.  Darauf  gab  er  seiner  Ver- 
wunderung Ausdruck  und  beteuerte,  dass  der  Armee 
gerade  zu  diesem  Zweck  anderthalb  Millionen  Rubel 
in  bar  zur  Verfügung  ständen  und  dass  die  Schuld 
vielleicht  an  Herrn  von  Stein  läge;  er  werde  die 
Angelegenheit  untersuchen  lassen,  weil  es  den  Ab- 
sichten und  den  Ordres  der  Kaiserin  entspreche, 
dass  in  diesem  Punkte  wie  auch  sonst  den  Unter- 
tanen der  Republik  gegenüber  mit  der  grössten 
Milde  und  mit  der  exaktesten  Gerechtigkeit  verfah- 
ren werde. 

„Da  Graf  Esterhazy  mich  persönlich  gebeten  hatte 
und  hierauf  mit  S.  K.  Hoheit  dem  Prinzen  Karl  und 
dem  Gesandten  Frankreichs  übereingekommen  war, 
es  sollte  dem  hiesigen  Ministerium  noch  nichts  von 
der  Abänderung  der  Verfügung  bezüglich  der  sächsi- 
schen Kavallerieregimenter  gesagt  werden,  sowohl 
deshalb,  weil  er  hierüber  Weisungen  hatte,  die  den 
unsrigen  entgegengesetzt  schienen,  als  auch  um  den 
hiesigen  Hof  nicht  zu  erschrecken,  der  auf  dieses  für 
seine  Armee  so  notwendige  Kavalleriehilfskorps  mit 
Gewissheit  zählt  und  sich  bereits  zur  Naturalverpfle- 
gung  für  dasselbe  entschlossen  hat,  —  so  habe  ich 
dem  Vizekanzler  nichts  hiervon  erwähnt,  um  so  mehr, 
als  sie  hier  wirklich  ausserstande  sind,  sich  auf  irgend 

365 


einem  Wege  mit  guter  Kavallerie  zu  versehen,  we- 
nigstens für  die  jetzige  Kampagne. 

„Was  meinen  Aufenthalt  hier  betrifft,  so  kann  ich 
Ew.  Exzellenz  nur  nochmals  dafür  danken,  dass  es 
Ihnen  beliebte  mir  mitzuteilen,  Se.  Majestät  wünsche, 
ich  solle  am  nächsten  Reichstage  als  Landbote  teil- 
nehmen. Ich  beabsichtige,  von  dieser  Erlaubnis  des 
Königs,  eine  Reise  nach  Polen  zu  unternehmen,  erst 
gegen  Ende  Juli  Gebrauch  zu  machen  und  es  erst  dann 
hier  bekannt  zu  geben,  zu  welchem  Zeitpunkt  alle 
Angelegenheiten  hier  wohl  bereits  geklärt  sein  wer- 
den und  ich  Ew.  Exzellenz  bereits  mit  Gewissheit 
werde  informieren  können,  ob  es  im  Interesse  des 
Königs  ist,  dass  Baron  Sacken  *)  mein  Nachfolger  wird. 
Ich  wiederhole  indes  Ew.  Exzellenz  meine  Bitte,  mir 
das  Amt  eines  Landboten  von  Livland  unter  Zustim- 
mung Sr.  Majestät  zu  sichern. 

„Obgleich  ich  Ew.  Exzellenz  durch  meinen  Brief 
vom  25.  v.  M.  mitgeteilt  habe,  dass  die  Entscheidung 
in  der  Sache  des  früheren  Kanzlers  an  jenem  Tage 
fallen  sollte,  schleppt  sie  sich  noch  immer  hin.  Die 
Grossfürstin  sollte  eine  zweite  persönliche  Unterre- 
dung mit  der  Kaiserin  haben,  doch  diese  hat  noch 
nicht  stattgefunden  und  zwar  (wie  die  Kaiserin  ihr 
sagen  Hess)  infolge  der  Erkrankung  ihres  Auges,  die 
sie  sogar  verhindert  hat,  sich  in  der  Osternacht  un- 
serem Prinzen  zu  zeigen,  der  zu  Hofe  ging,  um  sich 
die  Resurrektion  nach  griechischem  Ritus  anzusehen ; 
diese  Erkrankung  nennt  man  Fluxion,  es  soll  aber 
ein  Bluterguss  sein,  der  von  ihrem  letzten  Unfall  vor 

*)  Karl  von  der  Osten-Sacken  (1725 — 1 794)>  der  spätere 
sächsische  Rabinettsminister  und  Staatssekretär  für  auswär- 
tige Angelegenheiten.  Anm.  d.  Herausg. 

366 


drei  Wochen  herrührt.  Sie  hat  jedoch  der  Gross- 
fürstin sagen  lassen,  sie  solle  ganz  unbesorgt  sein,  es 
werde  sich  bald  alles  zum  besseren  wenden. 

„Ich  bin  überzeugt,  dass  S.  Hoheit  Prinz  Karl  Seine 
Majestät  sowohl  über  das  Geschenk,  das  er  von  der 
Kaiserin  empfangen  hat,  wie  auch  über  alles,  was  ihn 
persönlich  betrifft,  informieren  wird,  so  dass  ich  eine 
Wiederholung  für  überflüssig  halten  darf,  die  im 
Vergleich  mit  dem,  was  S.  K.  Hoheit  schreiben  wird, 
ja  nur  unvollkommen  sein  könnte.  Ich  will  mich 
darauf  beschränken  zu  sagen,  dass  I.  K.  Majestät  so- 
wie alle  anderen,  ihrem  Beispiel  folgend,  die  grösste 
Befriedigung  über  die  Konduite  und  die  Person  des 
Prinzen  äussern,  der  sicherlich  dazu  geschaffen  ist, 
von  aller  Welt  geliebt -zu  werden." 

Brief  an  denselben  vom  5.  Mai  1758. 

„Da  die  letzte  Post  sich  verspätet  hat,  bin  ich  erst 
heute  in  den  Besitz  der  Briefe  Ew.  Exzellenz  vom 
22.  und  24.  v.  M.  gelangt. 

„Auch  wir  wissen  noch  nichts  Näheres  über  Dan- 
zig,  aber  man  kann  zum  mindesten  mit  Bestimmt- 
heit darauf  rechnen,  dass  General  Fermor  nicht  ge- 
waltsam vorgehen  wird,  weil  er  hierüber  präziseste 
Ordre  erhalten  hat  und  anzunehmen  ist,  dass  er 
nicht  wagen  wird,  dawider  zu  handeln;  ich  habe 
dies  bereits  in  meinem  letzten  Briefe  berichtet  und 
der  Herr  Vizekanzler  hat  es  mir  heute  nochmals  wie- 
derholt, infolgedessen  darf  man  hoffen,  dass  diese  An- 
gelegenheit nicht  solch  üble  Folgen  haben  wird,  wie 
man  befürchten  musste.  Was  Ew.  Exzellenz  andeu- 
ten, dass  die  Stadt  Schwierigkeiten  wegen  Aufnahme 
russischer  Truppen  mache,  sich  jedoch  bei  Truppen 

367 


der  Republik  weniger  besinnen  würde,  so  wäre  dies 
nur  geeignet,  die  Gemüter  bei  uns  zu  beruhigen,  und 
die  Alliierten  könnten  darüber  gleichfalls  zufrieden 
sein. 

„Man  hat  mir  berichtet,  dass  der  Grossfürst  auf 
dem  Ball  am  vergangenen  Dienstag  mit  S.  K.  Hoheit 
dem  Prinzen  Karl  über  das  blaue  Band  gesprochen 
hat,  das  ich  noch  in  Händen  haue,  da  es  Stambke 
nicht  übergeben  werden  konnte,  und  dem  Prinzen 
andeutete,  dass  er  glaube,  der  König  werde  keine 
Schwierigkeiten  machen,  es  einem  seiner  ältesten 
Staatsräte  zu  verleihen.  Da  ich  aber  mit  völliger  Ge- 
wissheit erfahren  habe,  dass  der  Grossfürst  wünscht, 
wir  möchten  ihm  das  blaue  Band  einhändigen,  damit 
er  es  hernach  Brockdorf  übergeben  könne  (denn  er 
hat  Alexander  Schuwalow  beauftragt,  die  Kaiserin 
dieserhalb  zu  sondieren),  so  habe  ich  S.  K.  Hoheit 
dem  Prinzen  noch  einen  mir  zu  gleicher  Zeit  bekannt 
gewordenen  Umstand  mitgeteilt,  nämlich  dass  Iwan 
und  Peter  Schuwalow  sich  bereits  wegen  des  steigen- 
den Einflusses  Brockdorfs  auf  seinen  Herrn  beunru- 
higen und  daran  denken,  ihn  früher  oder  später  von 
hier  zu  entfernen;  solchermassen  wären  wir  nicht 
nur  lächerlich,  wenn  wir  uns  zum  Narren  halten 
Hessen  und  diesen  Mann  auszeichnen  würden,  der 
ganz  offensichtlich  der  Anwalt  des  Königs  von  Preus- 
sen  und  unser  Feind  ist  und  auch  im  übrigen  durch- 
aus kein  achtungswerter  Mensch,  sondern  wir  wür- 
den uns  vielleicht  sogar  mehr  schaden  als  nützen. 

„Einer  von  Bestuschews  Richtern  hat  geäussert, 
da  man  nichts  Schwerwiegendes  gegen  ihn  finden 
könne,  werde  man  die  ältesten  Sachen  ausgraben, 
sozusagen  das  ganze  Leben  dieses  Ministers.  Kayser- 

368 


ling  und  Panin  haben  ihre  Geheimkorrespondenz  mit 
ihm  hergeschickt,  man  muss  abwarten,  wie  sie  be- 
nutzt werden  wird.  Im  Palast  herrscht  noch  Unge- 
wissheit,  denn  Iwan  und  Peter  Schuwalow  behaup- 
ten, ihre  guten  Absichten  stössen  auf  Hindernisse  sei- 
tens Alexander  Schuwalows.  Das  ist  nicht  leicht  zu 
verstehen,  aber  so  ändern  sich  nun  einmal  alle  Dinge, 
und  sie  werden  sich  vielleicht   noch  mehr  ändern." 

Brief  an  denselben  vom  9.  Mai  1758. 
„Die  vorgestrige  Post  hat  mir  keinen  Brief  von  Ew. 
Exzellenz  gebracht.  Am  Samstag  ist  ein  Kurier  von 
der  russischen  Armee  angekommen  mit  der  ebenso 
erfreulichen  als  wichtigen  Nachricht,  dass  General 
Fermor  und  General  Browne1)  bei  Graudenz  zu- 
sammengekommen sind,  um  sich  in  aller  Freund- 
schaft über  die  Gründe  auszusprechen,  die  ihre  Ent- 
fremdung herbeigeführt  hatten;  nach  dieser  Aufklä- 
rung haben  sie  sich  vollständig  versöhnt  und  habeu 
einander  zugesagt,  in  allem  nach  Übereinkommen 
und  im  besten  Einvernehmen  vorzugehen  und  der 
Kaiserin  mit  gemeinsamem  Eifer  zu  dienen.  Diese 
glückliche  Versöhnung,  die  beiden  Generälen  den 
Austausch  ihrer  Kenntnisse  und  Meinungen  ermög- 
licht, lässt  für  die  Zukunft  alles  Gute  erhoffen,  um  so 
mehr,  als  sie  den  ihnen  zugestellten  Feldzugsplan 
durchaus  gebilligt  haben;  nach  genauer  Kenntnis- 
nahme des  Terrains  von  Stolp  bis  unterhalb  Küstrins 

x)  Georg  Reichsgraf  von  Browne  (1698 — 1792)  entstammte 
einer  irländischen  Familie,  trat  1730  in  russischen  Kriegs- 
dienst. Bei  Zorndorf  wurde  er  schwer  verwundet.  Peter  III. 
ernannte  ihn  zum  Feldmarschall.  Später  wurde  er  Statthalter 
von  Livland  und  Estland.   Anm.  d.  Herausg. 

24  Poniatowski  36o 


haben  sie  beschlossen,  sich  nicht  mit  der  Belagerung 
des  letzteren  aufzuhalten,  —  weil  man  in  Anbetracht 
seiner  starken  Befestigungen  und  der  es  umschliessen- 
den  Moräste  hierbei  mit  einem  grossen  Zeit-  und 
Menschenverlust  rechnen  müsste,  —  statt  dessen  aber 
all  ihre  Kräfte  zu  einem  direkten  Vorstoss  gegen  Ber- 
lin zu  vereinen. 

„Die  Recherchen  gegen  den  vorigen  Kanzler  sind 
nunmehr  beendet,  ihr  Resultat  ist  der  Kaiserin  un- 
terbreitet worden,  jetzt  erwartet  man  ihren  endgülti- 
gen Beschluss.  Sobald  diese  Sache  entschieden  sein 
wird,  wird  auch  die  Entscheidung  über  das  Los  der 
anderen  Gefangenen  fallen  und  man  wird  am  Hofe 
endlich  wieder  wissen,  woran  man  ist.  Seit  meiner 
letzten  Depesche  ist  absolut  nichts  Wichtiges  vorge- 
fallen. Herr  Brockdorf  muss  gemerkt  haben,  dass  es 
mit  ihm  abwärts  geht,  denn  seit  einigen  Tagen  be- 
kundet er  eine  sehr  grosse  Unruhe.  Peter  und  Iwan 
Schuwalow  geben  ihn  auf,  letzterer  hat  zweimal  ganz 
ausdrücklich  gesagt,  er  würde  ihn  entfernen;  jedoch 
Alexander  hält  ihn  immer  noch,  und  infolgedessen 
hat  der  Herr  Vizekanzler  vorgestern,  an  welchem 
Tage  S.  K.  Hoheit  bei  ihm  dinierte,  zu  unserem  Prin- 
zen gesagt,  der  Grossfürst  wünsche,  dass  S.  K.  Ho- 
heit vom  König  das  blaue  Band  für  Brockdorf  er- 
bitte. Der  Prinz  fragte,  ob  die  Kaiserin  damit  einver- 
standen sein  werde,  der  Vizekanzler  antwortete,  der 
Prinz  könne  ganz  unbesorgt  schreiben,  —  so  laute- 
ten wenigstens  die  Worte,  die  S.  K.  Hoheit  mir  wie- 
derholt hat.  Nach  der  Art  zu  urteilen,  wie  die  Kaise- 
rin kürzlich  über  diesen  Mann  gesprochen  hat,  ge- 
stattet sie  zwar,  dass  der  Grossfürst  ihm  seine  Gunst 
erweist,  sobald  die  Schuwalows  sie  darum  bitten,  um 

3^0 


beim  Grossfürsten  etwas  durchzusetzen,  aber  sie  ge- 
stattet es  nur  widerwillig.  Es  wäre  auch  beinahe  un- 
glaublich, dass  ein  anderer  Grund  sie  veranlassen 
sollte,  einen  unwissenden  und  schlechten  Menschen 
auszuzeichnen,  der  hier  vor  vier  oder  fünf  Jahren  so- 
zusagen als  Hofnarr  des  Grossfürsten  debütierte,  da 
doch  der  Grossfürst  selbst  sich  am  meisten  über  ihn 
lustig  machte,  und  der  nur  dadurch  sich  in  Gunst  zu 
setzen  verstanden  hat,  dass  er  den  Grossfürsten  zu 
allerlei  Ausschweifungen  verführte;  seit  er  in  Gunst 
steht,  vor  allem  jedoch  seit  dem  Kriege  ist  er  der 
hitzigste  Advokat  des  Königs  von  Preussen,  und  die 
höchsten  Gnadenstufen  konnte  er  nur  erklettern,  in- 
dem er  den  russischen  und  ausländischen  Feinden 
des  früheren  Kanzlers  als  Werkzeug  diente,  um  die- 
sen Minister  zu  verderben. 

„Daher  wage  ich  zu  behaupten,  dass  wenn  wir 
uns  weigern  würden,  Herrn  Brockdorf  diesen  Orden 
zu  geben,  wir  uns  all  jene  verpflichten  könnten,  de- 
nen dieser  Mensch  Böses  getan  hat,  —  und  deren 
Zahl  und  Rang  ist  recht  ansehnlich ;  wir  könnten  so- 
gar seine  Entfernung  beschleunigen,  wenn  der  König 
in  seiner  Antwort  an  den  Prinzen  noch  bemerken 
wollte,  wie  erstaunt  er  sei,  dass  man  von  ihm  eine 
solche  Auszeichnung  für  einen  Mann  von  ganz  offen- 
sichtlich preussischer  Gesinnung  verlange,  und  dass 
in  Anbetracht  der  Art,  wie  der  Grossfürst  die  Höf- 
lichkeit zurückgewiesen  hat,  die  der  König  ihm  in 
der  Person  seines  früheren  Ministers  Stambke  erwei- 
sen wollte,  Seine  Majestät  nicht  mehr  geneigt  sei, 
seinen  Orden  an  irgend  eine  Person  des  Hofes  S. 
Kaiserlichen  Hoheit  zu  verleihen;  dies  scheint  mir 
auch  die  günstigste  Gelegenheit  zu  sein,  unsere  ge- 

24*  371 


rechtfertigte   Empfindlichkeit  über  dieses  Vorgehen 
zu  äussern. 

„Es  würde  noch  angehen,  wenn  man  Brockdorf 
durch  diese  Auszeichnung  umstimmen  könnte;  aber 
dieser  Mann  ist  ein  viel  zu  niedriger  Schmeichler  und 
viel  zu  nichtswürdig,  um  jemals  einer  Neigung  seines 
Herren  entgegenzutreten,  auch  könnte  so  ein  Stück 
Band  bei  ihm  niemals  die  pekuniären  Vorteile  aus- 
stechen, die  er  zweifellos  vom  preussischen  Könige 
erhält,  und  es  hiesse  unserem  sonstigen  Unglück  noch 
die  Schmach  hinzufügen,  dass  wir  uns  narren  Hessen, 
indem  wir  einen  Menschen  mit  einem  Gunstbeweis 
auszeichneten,  der  stets  unser  Feind  war  und  es  auch 
ferner  sein  wird.  Meiner  Ansicht  nach  wäre  eine 
Rente  für  Brockdorf  viel  verlockender  und  für  uns 
von  weit  besserer  Wirkung,  und  die  beste  Art  sie 
ihm  anzubieten  wäre,  indem  der  Prinz  selbst  zum 
Grossfürsten  sagte,  es  gäbe  Gründe  (die  dem  Prinzen 
angeblich  unbekannt  wären),  die  den  König  verhin- 
derten, dem  Herrn  Brockdorf  diesen  Orden  zu  ver- 
leihen, dagegen  biete  er  ihm  eine  Rente  von  4000 
oder  5ooo  Talern  an;  auchmüsste  der  Prinz  alle  meine 
obigen  Ausführungen  dem  Vizekanzler  wiederholen, 
damit  sie  zur  Kenntnis  der  Kaiserin  gelangen.  Es 
könnte  zwar  sonderbar  scheinen,  dass  ich  den  Rat 
gebe,  einem  Fürsten  vorzuschlagen,  man  wolle  sei- 
nem Günstling  eine  Rente  aussetzen,  aber  es  gibt 
Fürsten,  die  eine  Ausnahme  von  jeder  Regel  bilden." 


372 


ACHTES     KAPITEL 

BRIEF  AN  DEN  GRAFEN  BRÜHL  VOM  14.  MAI. 
DIFFERENZ  MIT  DEM  TÜRKISCHEN  GESANDTEN 
WEGEN  DER  ETIKETTE.  IWAN  SCHUWALOW  BE- 
SUCHT KEITH.  PBINZ  KARL  SOLL  DEN  AUSTAUSCH 
VON  HOLSTEIN  NAHELEGEN.  —  BBIEF  AN  BRÜHL 
VOM  16.  MAI.  DIE  VEREINIGUNG  DER  SCHWE- 
DISCHEN ESKADER  MIT  DER  RUSSISCHEN  GE- 
SICHERT, ERENSO  EIN  NEUER  TRANSPORT  SCHWE- 
DISCHER TRUPPEN  NACH  POMMERN.  L'HÖPITALS 
KREDIT  SINKT.  —  BRIEF  AN  BRÜHL  VOM  19.  MAL 
DANZIG.  SÄCHSISCHE  KAVALLERIE.  FÜRST  WOL- 
KONSKI  KÜNFTIGER  ARMEEINTENDANT.  FRIE- 
DENSAUSSICHTEN. WIEDERAUFNAHME  DES  VER- 
FAHRENS GEGEN  APRAXIN.  AUFHEBUNG  DES  SE- 
QUESTEBS  VON  DEN  BESITZUNGEN  DER  VIER 
PREUSSISCHEN  MINISTER.  —  BBIEF  AN  BBÜHL 
VOM  23.  MAI.  16000  BUSSEN  HABEN  DIE  WEICHSEL 
PASSIEBT.  ELISABETHS  GEWISSENSBISSE  WEGEN 
BESTUSCHEW.  ICH  BEGLÜCKWÜNSCHE  BRÜHL 
ZUR  KASSATION  DER  VERWALTUNG  VON  OSTROG. 
—  BBIEF  AN  BRÜHL  VOM  3o.  MAI.  KORFF  GOU- 
VERNEUR VON  KÖNIGSBEBG.  WOLKONSKI  ÜBER- 
NIMMT EIN  KOMMANDO  BEI  SMOLENSK.  DER 
TÜRKISCHE  GESANDTE  BESTEHT  AUF  SEINEB 
WEIGERUNG.  OLSUFJEW  IM  AUFSTEIGEN,  ER 
ARBEITET  BEBEITS  GEGEN  WOBONZO  W.  —  BRIEF 
AN  BBÜHL  VOM  4.  JUNI.  DANZIG.  MEINE  BEMÜ- 
HUNGEN BEI  WORONZOW,  UM  DIE  RUSSEN  ZUM 
VORRUCKEN  ZU  VERANLASSEN.  SEINE  VERSPRE- 
CHUNGEN. ZWEITE  UNTERREDUNG  ELISABETHS 
MIT  DER  GROSSFÜRSTIN. 


Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  14.  Mai  1768. 

Der  hier  weilende  türkische  Gesandte  hat  seinen 
Geiz  so  weit  getrieben,  dass  er  für  all  seine  Die- 
ner täglich  nur  einen  Hammel  geben  wollte;  sie  re- 
voltierten und  wollten  ihn  töten  und  hätten  es  be- 
stimmt getan,  wäre  nicht  die  russische  Garde  ihm  zu 
Hilfe  geeilt;  sie  hat  auch  die  anderen  Leute  seines 
Gefolges  gebindert,  sich  den  zuerst  Revoltierenden 
anzuschliessen.  Abgesehen  von  seinem  Geiz,  der  die- 
sem Türken  beinahe  so  teuer  zu  stehen  gekommen 
wäre,  macht  er  seit  seiner  Ankunft  hier  am  Orte  un- 
ausgesetzt die  furchtbarsten  Schwierigkeiten  und 
Umstände.  Gegenwärtig  besteht  er  darauf,  sein  Be- 
glaubigungsschreiben nur  in  die  Hände  der  Kaiserin 
selbst  zu  übergeben,  bei  seiner  Audienz,  indessen 
man  von  ihm  verlangt,  er  solle  eine  schriftliche  Ver- 
sicherung abgeben,  er  werde  sie  dem  Vizekanzler 
als  erstem  Minister  übergeben,  denn  in  Konstanti- 
nopel nimmt  weder  der  Sultan  noch  der  Gross- 
wesir, sondern  ein  anderer  Mann  die  Beglaubigungs- 
schreiben der  russischen  Minister  in  Empfang,  um 
sie  dann  dem  Wesir  zu  übergeben;  keiner  seiner 
Vorgänger  hat  jemals  wegen  dieses  Punktes  Schwie- 
rigkeiten gemacht.  Der  Herr  Vizekanzler  hat  mir  ge- 
sagt, dass,  solange  er  diese  von  ihm  verlangte  Ver- 

374 


Sicherung  nicht  abgibt,  ihm  keine  Audienz  gewährt 
wird,  und  sollte  er  ein  halbes  Jahr  darauf  warten 
müssen.  Ich  habe  gefragt,  ob  man  einen  Kurier  in 
dieser  Angelegenheit  nach  Konstantinopel  geschickt 
habe,  er  verneinte  und  scheint  anzunehmen,  dass  die- 
ser Streit  keine  Folgen  nach  sich  ziehen  wird. 

„Vor  einigen  Tagen  ging  der  Kammerherr  Schu- 
walow  angeblich  den  Baron  Wolff  besuchen,  bei  dem 
Mister  Keith  logiert;  er  ist  mit  letzterem  über  eine 
Stunde  zusammen  gewesen.  Aus  diesem  Besuch  kön- 
nen zwar  in  Wirklichkeit  keine  Folgerungen  gezogen 
werden,  es  handelt  sich  aber  gewiss  um  Staatsaffäi^en, 
und  zum  mindesten  wird  daraus  das  Handelstraktat 
resultieren,  —  wenn  nicht  mehr.  Vor  drei  oder  vier 
Wochen  hat  Keith  mir  einige  Komplimente  gemacht 
und  damals  auch  bemerkt,  es  sei  recht  ärgerlich,  dass 
er  nicht  mit  mir  zusammenkommen  könne;  ich  er- 
widerte, mich  kränke  das  gleichermassen,  da  ich  doch 
die  Ehre  gehabt  hätte,  ihn  in  Wien  kennen  zu  ler- 
nen, jedoch  die  Umstände  erlaubten  es  nicht;  hier- 
auf wiederholte  er  zweimal:  „das  wird  schon  noch 
kommen".  Ich  habe  es  Ew.  Exzellenz  damals  nicht 
geschrieben,  weil  ich  dachte,  diese  Worte  würden 
keine  Konsequenzen  haben;  jedoch  dieser  Besuch 
Schuwalows  bringt  sie  mir  wieder  in  Erinnerung 
und  ich  glaube,  Sie  darüber  informieren  zu  müssen. 

„Es  ist  noch  in  keiner  Sache  irgend  eine  Entschei- 
dung gefallen;  jedoch  geniesst  der  frühere  Kanzler 
seit  einigen  Tagen  etwas  mehr  Freiheit;  die  Wachen, 
die  in  seinem  Zimmer  waren,  sind  entfernt  worden. 
Brockdorfs  Beunruhigungen  dauern  an.  Wenn  ich  es 
wagen  darf,  den  Bemerkungen,  die  ich  in  meiner 
letzten  Depesche  geäussert  habe,  noch  einige  hinzu- 

3^5 


zufügen,  so  könnte  unser  Prinz  hier  bei  Gelegenheit 
des  blauen  Bandes,  das  man  für  Brockdorf  verlangt, 
noch  sagen,  dass  es  von  Wichtigkeit  wäre,  Dänemark 
auf  unsere  Seite  zu  bekommen,  und  dies  könnte  nie 
geschehen,  solange  der  Austausch  von  Holstein  nicht 
durchgeführt  wäre;  Brockdorf  sei  derjenige,  der  sich 
seit  jeher  diesem  Austausch  am  meisten  entgegenge- 
setzt habe;  sollte  er  ihn  durchsetzen,  so  würde  er  der 
ganzen  Allianz  einen  bedeutenden  Dienst  leisten, 
man  mache  daher  seine  künftige  Dekoration  von  die- 
ser Bedingung  abhängig  wie  auch  davon,  dass  seine 
Gesinnung  jetzt  genau  so  gut  sächsisch  werde,  wie 
sie  bisher  preussisch  war. 

„Allem  Anschein  nach  wird  man  unseren  Prinzen 
frühestens  im  Monat  Juni  abreisen  lassen.  Der  Vize- 
kanzler anerkennt  alle  wichtigen  Gründe,  die  S.  K. 
Hoheit  zur  Armee  drängen,  aber  I.  K.  Majestät  wird 
sicherlich  nicht  ihre  Zustimmung  zu  einer  so  baldi- 
gen Abreise  geben  wollen,  vor  allem  auch  deshalb, 
weil  sie  infolge  ihrer  Unpässlichkeit  ihn  nicht  so  oft 
sehen  und  sich  mit  ihm  unterhalten  konnte,  wie  sie 
es  gewünscht  hätte. 

„Der  Woivvode  von  Lublin1)  will  übermorgen  ab- 
reisen, nachdem  er  sehr  viel  herumgeschwatzt  hat, 
jedoch,  wie  der  Herr  Vizekanzler  mir  versicherte, 
wenigstens  ihm  gegenüber  ohne  jeden  Effekt.  So- 
wohl er  wie  auch  der  Woiwode  von  Smoleiisk  2)  ha- 
ben sehr  oft  mit  dem  französischen  Gesandten  kon- 
feriert, diesem  hat  sein  letzter  Kurier  ein  grosses 
Paket  chiffrierter  Briefe  vom  Kronfeldhetman  über- 
bracht. " 

*)  Anton  Lubomirski. 
2)  Peter  Sapieha. 

376 


Michael  Larionowitsch  Graf  Woronzow,  Grosskanzler 
des  russischen  Reiches 


Brief  an  denselben  vom  16.  Mai  1758. 

„Da  ich  die  Ehre  hatte,  Ew.  Exzellenz  vorgestern 
durch  den  Kurier  des  französischen  Gesandten  zu 
schreiben,  so  weiss  ich  mit  heutiger  Post  nichts  In- 
teressantes zu  berichten.  Ew.  Exzellenz  werden  von 
Stockholm  direkt  Informationen  zugehen,  dass  die 
Verhandlungen  betreffs  Vereinigung  der  schwedi- 
schen Eskader  mit  der  russischen  Flotte,  gemäss  dem 
von  diesem  Hofe  geäusserten  Vorschlag,  dort  zu  einem 
glücklichen  Ende  geführt  wurden,  um  einen  Vor- 
stoss  Englands  von  der  See  aus,  zur  Begünstigung 
des  Königs  von  Preussen,  hintanzuhalten;  und  trotz- 
dem Gerüchte  besagten,  eine  englische  Eskader 
wäre  nach  der  Ostsee  beordert  worden,  hat  es  doch 
nicht  den  Anschein,  dass  das  britische  Ministerium 
ernsthaft  daran  denkt;  immerhin  ist  es  eine  gute 
Vorbeugungsmassnahme  und  ein  Beweis  völliger 
Einigkeit  der  Verbündeten.  Diese  Nachricht  sowie 
der  Eifer,  mit  dem  man  in  Schweden  den  neuen 
Truppentransport  nach  Pommern  zu  beschleunigen 
trachtet,  erfreuen  hier  ganz  besonders. 

„Es  scheint,  dass  Monsieur  de  THöpitals  Kredit  an 
diesem  Hofe  im  Begriff  ist  zu  sinken;  die  Kaiserin 
selbst  hat  in  einer  privaten  Äusserung  zu  verstehen 
gegeben,  dass  die  französische  Angewohnheit,  sich  in 
alles  hineinzumischen,  ihr  nicht  gefalle,  und  zwar 
geschah  dies  bei  Gelegenheit  einiger  Insinuationen, 
die  er  während  seiner  letzten  Audienz  an  unrechter 
Stelle  anzubringen  versuchte.  Auch  Graf  Esterhazys 
Zutrauen  zu  ihm  ist  im  Schwinden  begriffen.  Jedoch 
flehe  ich  Ew.  Exzellenz  an,  diese  Anekdoten  nicht 
weiterzugeben." 

377 


Brief  an  denselben  vom  19.  Mai  1768. 

„Der  Brief,  mit  dem  Ew.  Exzellenz  mich  am  8. 
d.  M.  beehrten,  wurde  mir  erst  mit  gestriger  Post 
zugestellt;  vorerst  habe  ich  Veranlassung  genommen, 
dem  Herrn  Vizekanzler  mitzuteilen,  was  mir  darin 
über  die  Danziger  Affäre  gesagt  wird;  er  hat  mir  ge- 
antwortet, ich  solle  mich  völlig  beruhigen,  er  hoffe, 
dies  werde  ein  gutes  Ende  nehmen,  und  er  versicherte 
unter  den  heftigsten  Beteuerungen,  man  werde  kei- 
nesfalls gewaltsam  vorgehen  und  werde  die  Wirkung 
der  Briefe  abwarten,  die  kürzlich  an  den  Magistrat 
geschrieben  wurden.  Ich  liess  nicht  locker  und  stellte 
ihm  vor,  dass  doch  der  Resident  Frankreichs1)  und 
Baron  Hall'-)  von  der  Unmöglichkeit  eines  Erfolges 
in  dieser  Sache  überzeugt  seien;  er  antwortete,  all 
dies  sei  ihm  bekannt,  jedoch  habe  man  die  Sache 
fälsch  angepackt,  und  er  wiederholte  die  positivsten 
Versicherungen  möglichster  Rücksichtnahme  bei  die- 
sen Verhandlungen. 

„Hierauf  habe  ich  mit  dem  Kammerherrn  Schu- 
walow  gesprochen,  um  ihn  über  die  Vorgänge  zu  un- 
terrichten und  seine  Ansicht  darüber  zu  vernehmen. 
Ich  habe  auch  nicht  verfehlt,  die  beiden  Gesandten 
von  allem  zu  unterrichten.  Graf  Esterhazy  schiebt 
die  Schuld  auf  den  russischen  Residenten  Puschkin, 
der  die  Sache  schlecht  angefangen  hat,  im  übrigen 
sagt  er,  dass  man  ihnen  zu  viel  Ehre  erweise,  wenn 
man  befürchte,  sie  würden  Danzig  belagern.  Marquis 
de  FHöpital  hingegen  sagte  nach  einigen  ausweichen- 

x)  Dumont,  französischer  Resident  in  Danzig. 

2)  General   Rall,   der  österreichische   Kommissar    in    Danzig. 

Anm.  d.  Herausg. 

378 


den  Redensarten :  „  Ah !  wenn  es  der  Republik  mög- 
lich wäre,  drei-  bis  viertausend  Mann  hineinzulegen!" 
Woraus  ich  schloss,  dass,  falls  nur  die  Danziger  sich 
weiter  so  entschlossen  zeigen,  sie  allem  Anschein  nach 
bald  von  ihren  Sorgen  befreit  sein  werden  und  man 
schliesslich,  wenn  man  hier  die  unüberwindlichen 
Hindernisse  sieht,  gezwungen  sein  wird,  das  ganze 
Projekt  aufzugeben ;  man  wird  unter  allerlei  Vor- 
wänden sich  aus  dieser  Sache  ehrenvoll  herauszu- 
ziehen suchen,  in  der  man  bereits  zu  weit  gegangen 
ist;  man  wird  sagen,  es  geschähe  nur  aus  Rücksicht 
auf  die  Stadt,  angesichts  der  Drohungen  des  Königs 
vonPreussen,  deren  Verwirklichung  befürchtet  werde, 
und  aus  Freundschaft  für  die  Republik,  —  deshalb 
wolle  die  Kaiserin  in  ihrem  Edelmut  und  ihrer  See- 
lengrösse  davon  abstehen  .  .  . 

„Was  die  Notwendigkeit  betrifft,  der  Armee  eine 
Verstärkung  an  regulärer  Kavallerie  zukommen  zu 
lassen,  so  hat  der  Herr  Vizekanzler  eingestanden, 
dass  es  ihnen  absolut  unmöglich  ist,  denn  es  ist  hier 
nur  das  Garderegiment  und  ein  Kürassierregiment 
vorhanden ;  er  war  aber  sehr  betroffen,  als  ich  ihm 
sagte,  mit  welcher  Langsamkeit  der  Pferdeankauf  in 
Preussen  vonstatten  geht  und  dass  man  keine  Dis- 
positionen trifft,  um  Vorräte  an  Heu  und  Hafer  an- 
zulegen, —  sei  es  aus  Geldmangel  oder  aus  irgend 
welchen  anderen  Gründen,  —  und  er  versicherte, 
es  sei  hierüber  bereits  Refehl  gegeben  worden  und 
man  habe  alles  nötige  Geld  geschickt.  Da  er  mich 
nach  unserer  sächsischen  Kavallerie  befragte,  stellte 
ich  ihm  vor,  dass  die  weite  Entfernung  ihre  Ankunft 
verzögern  müsse  und  dass  es  noch  ganz  ungewiss  sei, 
ob  sie  nicht  durch  den  Einfall  des  Königs  von  Preus- 

379 


sen  in  Mähren  überhaupt  daran  gehindert  werden 
würde,  denn  ich  wollte  ihm  die  Notwendigkeit  zu 
verstehen  geben,  mit  aller  Anstrengung  an  der  In- 
standsetzung ihrer  Kavallerie  für  den  Feldzug  zu  ar- 
beiten. Graf  Esterhazy  war  der  Meinung,  man  hätte 
sich  wohl  entschliessen  können,  das  Kürassierregi- 
ment hinzuschicken,  welches  von  allen  am  besten 
ausgerüstet  sei;  offenbar  habe  Peter  Schuwalow  sich 
aus  Eitelkeit  dem  widersetzt,  weil  er  eine  Kürassier- 
garde um  sich  haben  wolle;  Esterhazy  hat  des  ferne- 
ren bemerkt,  da  zu  befürchten  sei,  sie  würden  uns 
hier  Vorwürfe  wegen  der  Verzögerung  unserer  Ka- 
vallerie machen,  um  unter  diesem  Vorwand  ihre 
eigene  Langsamkeit  zu  entschuldigen,  so  solle  man 
alles  Erdenkliche  veranlassen,  um  ihr  Vorrücken  zu 
beschleunigen. 

„Fürst  Wolkonski,  der  Gouverneur  von  Königs- 
berg, ist  hier  eingetroffen,  woraufhin  sich  das  Gerücht 
verbreitet  hat,  man  habe  ihn  kommen  lassen,  damit 
er  Rechenschaft  über  seine  Verwaltung  ablege,  und 
er  sei  sogar  verhaftet  worden,  aber  dies  hat  sich  nicht 
bewahrheitet;  er  soll  sogar  bald  nach  Preussen  zu- 
rückkehren, um  die  Charge  eines  Generalintendanten 
der  Armee  zu  übernehmen. 

„Der  dänische  Gesandte  hat  dem  Vizekanzler  eine 
Nachricht  gemeldet,  die  er  von  seinem  Hofe  erhalten 
hatte:  Graf  Podewils1)  soll  an  den  König  von  Preus- 
sen geschrieben  haben,  um  von  ihm  die  Erlaubnis 
zum  Aufsuchen  eines  Bades  zu  erwirken,  worauf  ihm 

*)  Heinrich  Graf  von  Podewils,  preussischer  Minister  (i6g5 
bis  1760),  begleitete  Friedrich  II.  in  den  ersten  und  zweiten 
schlesischen  Krieg  und  schloss  1742  den  Breslauer,  1745  den 
Dresdener  Frieden  ab.   Anm.  d.  Herausg. 

38o 


die  Antwort  zuteil  wurde:  ,Mein  lieber  Podewils, 
sorgen  Sie  ordentlich  für  Ihre  Gesundheit,  damit  Sie 
bald  imstande  sind,  ein  drittes  Friedenstraktat  zu 
unterzeichnen,  denn  es  beginnt  sich  zu  klären.' 

„Indem  der  Vizekanzler  ihm  für  diese  Mitteilung 
dankte,  fügte  er  —  seinem  Vertrauen  mit  gleichem 
Vertrauen  begegnend  —  hinzu,  er  wisse,  dass  die 
Friedensangebote  ihm  nicht  durch  seineu  Hof,  son- 
dern durch  England  zukommen  würden.  Wenn  man 
diese  Antwort  mit  dem  Besuche  des  Kammerherrn 
Schuwalow  bei  Keith,  von  dem  ich  Ew.  Exzellenz 
bereits  Mitteilung  gemacht  habe,  zusammenstellt,  so 
gibt  dies  Stoff  zum  Nachdenken.  Übrigens  rief  der- 
selbe Schuwalow  bei  meiner  gestrigen  Unterredung 
mit  ihm  aus:  , Frieden!  Frieden!'  Worauf  ich  erwi- 
derte: , Gewiss,  er  ist  zu  wünschen,  es  muss  aber  ein 
guter  Frieden  sein,  und  er  kann  nur  durch  Siege  er- 
rungen werden,  die  den  Feind  zwingen,  den  Alliier- 
ten Gerechtigkeit  widerfahren  zu  lassen  und  alle  Un- 
bill, die  er  angerichtet  hat,  wieder  gut  zu  machen.' 

„Vor  drei  Tagen  hat  die  Kaiserin  mit  Bezug  auf 
den  früheren  Kanzler  geäussert:  ,Ein  grosser  Brand 
ist  entstanden,  ich  weiss  nicht,  wie  ihn  löschen.' 
Fürst  Trubetzkoi  war  vorgestern  bei  Apraxin,  der 
sich  noch  immer  in  jenem  Landhaus  befindet;  es 
scheint,  dass  man  diese  Sache  wieder  aufnimmt,  denn 
auch  Weymarns1)  Papiere  werden  jetzt  untersucht. 
Das  beunruhigt  —  so  behauptet  man  —  Apraxin, 
den  die  Sorge  um  seine  schwerkranke  Tochter  und 
seinen  Schwiegersohn  sowieso  schon  niederdrückt. 

x)  Iwan  Iwanowitsch  Wevmarn  (1722  — 1792),  lange  Zeit 
russischer  Emissär  in  Polen,  später  russischer  Gesandter  am 
polnischen  Hof.  Anra.  d.  Herausg. 

38i 


„Ich  habe  erfahren  (jedoch  nicht  vom  Vizekanzler), 
dass  man  sich  endlich  entschlossen  hat,  das  Sequester 
von  den  Besitzungen  der  vier  geflohenen  preussischen 
Minister  aufzuheben,  da  man  nach  reiflicher  Über- 
legung erkannt  hat,  welch  geringen  Vorteil  man  aus 
dieser  Sequestrierung  ziehen  und  welchen  Schaden 
sie  den  treuen  Dienern  des  Königs,  unseres  Herren, 
in  Sachsen  zufügen  könnte." 

Brief  an  denselben  vom  23.  Mai  1768. 

„Es  verlautet,  dass  die  16 000  Mann  der  Armee 
General  Fermors,  die  als  erste  vorrücken  sollen,  die 
Weichsel  bereits  überschritten  haben;  sie  sollen  vom 
Generalleutnant  Rezanow  befehligt  werden  und  ge- 
gen Stolp  marschieren,  um  zu  versuchen,  sich  dieses 
Ortes  zu  bemächtigen  und  die  Preussen  zu  vertreiben, 
sollten  sie  den  Versuch  machen,  sich  zu  widersetzen; 
man  will  dies  aber  noch  geheim  halten.  Seit  drei  Wo- 
chen hört  man  nichts  vom  Observationskorps,  jedoch 
aus  den  letzten  Briefen  des  Generalleutnants  Tscher- 
nischew  zu  schliessen,  glaubt  der  Vizekanzler,  dass 
diese  Truppen  in  kürzester  Frist  in  ]Nowy  Dvvör  an- 
kommen müssen,  wo  General  Browne  sie  bereits  er- 
warten soll. 

„Die  Kaiserin  hat  mit  Bezug  auf  den  früheren 
Kanzler  geäussert:  ,Nie  wieder  wird  man  mich  in 
einer  Angelegenheit  von  solcher  Wichtigkeit  zu  einem 
so  übereilten  Schritte  bewegen';  dies  scheint  der  Be- 
weggrund zu  sein,  dass  die  Entscheidung  in  allen  An- 
gelegenheiten noch  hinausgeschoben  wird  und  immer 
noch  die  gleiche  Un gewissheit  herrscht. 

„Was  mich  persönlich  anlangt,   so  hatte  ich  nur 

382 


den  Dienst  des  Königs  im  Auge,  als  ich  mich  ent- 
schloss,  erst  gegen  Ende  des  Monats  Juli  von  der  mir 
durch  Se.  Majestät  gnädigst  gewährten  Erlaubnis  Ge- 
brauch zu  machen,  mich  zu  den  Landtagswahlen 
nach  Polen  zu  begeben.  Inzwischen  kann  ich  Ew. 
Exzellenz  versichern,  dass  ich  weder  mit  dem  Vize- 
kanzler noch  mit  dem  Kammerherrn  Schuwalow 
schlecht  stehe,  wie  Sie  vielleicht  aus  einigen  mit  Ab- 
sicht so  gehaltenen  Berichten  schliessen  mussten.  Nur 
in  der  Person  des  Marquis  de  l'Höpital  bleibt  noch 
einige  Animosität  gegen  mich  bestehen,  deren  Fol- 
gen Ew.  Exzellenz  zu  befürchten  scheinen,  jedoch  ist 
sie  nicht  mehr  so  zu  fürchten,  seit  dieser  Ambassa- 
deur hier  am  Hofe  bedeutend  an  Ansehen  verliert, 
worüber  Ew.  Exzellenz  gewiss  von  so  vielen  Seiten 
bereits  informiert  sind,  dass  ich  von  einem  Bericht 
absehe,  da  doch  alles,  was  ich  sagen  würde,  allzu 
parteiisch  erscheinen  könnte. 

„P.  S.  Ich  habe  Ew\  Exzellenz  zu  danken,  dass  Sie 
so  freundlich  waren,  mir  im  Postskriptum  Ihrer  letz- 
ten Depesche  zu  berichten,  welche  Gnade  der  König, 
als  wirklicher  Vater  seiner  Untertanen,  ganz  Polen 
erwiesen  hat,  indem  er  die  Verwaltung  von  Ostrog 
kassierte.  Alle  Herzen,  die  ihr  Vaterland  und  die 
Freiheit  lieben,  werden  sich  für  diese  Wohltat  Sr. 
Majestät  mit  neuer,  ehrfurchtsvoller  Zärtlichkeit  zu- 
wenden. Ew.  Exzellenz  beglückwünsche  ich  hierzu 
im  besonderen,  da  Sie  doch  ausserordentlich  viel  da- 
zu beigetragen  haben.  Seit  langem  habe  ich  Ew.  Ex- 
zellenz die  Ehre  und  die  reellen  Vorteile  gewünscht, 
die  für  Sie  daraus  resultieren  werden." 


383 


Brief  an  denselben  vom  3o.  Mai  iy58. 

„Zwei  neue  Generalmajore  sind  zur  Armee  ge- 
schickt worden,  die  Herren  Grvgoriew  und  Mordwi- 
now,  die  sich  gestern  von  der  Kaiserin  verabschiedet 
haben,  wie  auch  Fürst  von  Holstein-Beck,  dem  Seine 
Majestät  die  Verwaltung  von  Reval  übertragen  hat, 
Baron  Korff,  der  zum  Gouverneur  von  Königsberg  er- 
nannt worden  ist,  und  Fürst  Wolkonski,  sein  Vor- 
gänger in  diesem  Amte,  der  sich  in  die  Gegend  von 
Smoleiisk  begibt,  wo  er  ein  Grenzkommando  erhalten 
soll.  Ich  war  nicht  genau  informiert,  als  ich  in  mei- 
nem Briefe  vom  19.  d.  M.  berichtete,  er  würde  nach 
Preussen  zurückkehren,  um  dort  das  Amt  eines  Ge- 
neralintendanten der  Armee  zu  übernehmen. 

„Graf  Esterhazy  hatte  bei  dieser  Assemblee  Gelegen- 
heit, mit  der  Kaiserin  zu  sprechen;  er  hat  aus  ihrem 
Munde  erneut  die  Versicherung  ihrer  besten  Absich- 
ten für  die  gemeinsame  Sache  erhalten;  auch  be- 
merkte die  Kaiserin,  es  wären  freilich  in  den  Dis- 
positionen und  Massnahmen  zwecks  energischer 
Durchführung  des  Krieges  manche  Nachlässigkeiten 
unterlaufen  und  ihre  Befehle  nicht  mit  der  erforder- 
lichen Promptheit  und  Genauigkeit  ausgeführt  wor- 
den. Da  sie  —  wie  sie  vor  jenem  Gesandten  zuge- 
geben hat  —  über  die  Fehler  unterrichtet  ist,  wo- 
durch die  Operationen  dieses  durch  die  Besetzung 
Brandenburgisch-Preussens  so  glücklich  begonnenen 
Feldzugs  verzögert  wurden,  ist  zu  erhoffen,  dass  sie 
nunmehr  geruhen  wird,  wirksame  Gegenmassregeln 
zu  ergreifen. 

„Der  türkische  Gesandte  besteht  auf  seiner  hart- 

384 


nackigen  Weigerung  und  hat  gesagt,  er  werde  sein 
Beglaubigungsschreiben  nur  den  Händen  der  Kaise- 
rin übergeben,  und  sollte  er  vom  Sultan  selbst  andere 
Weisung  erhalten.  Übrigens  haben  sich  zwanzig  sei- 
ner Dienstleute  unter  russischen  Schutz  begeben,  um 
nach  Konstantinopel  zurückzukehren;  sie  sagen,  der 
Gesandte  werde  seinen  Kopf  nicht  heimbringen.  Ich 
habe  aus  unverdächtiger  Quelle  erfahren,  dass  zwei 
seiner  Leute  gar  oft  den  Gesandten  Frankreichs 
heimlich  besuchen  und  dass  Abbe  Muratowicz  ihnen 
als  Dolmetsch  dient.  Im  übrigen  hat  man  gemäss 
Nachrichten  aus  Konstantinopel,  die  das  Ministerium 
vor  einigen  Tagen  durch  einen  Kurier  erhalten  hat, 
allen  Grund,  mit  dem  friedlichen  System  der  Pforte 
unter  dieser  Regierung,  genau  so  wie  unter  den  vor- 
herigen, durchaus  zufrieden  zu  sein. 

„P.  S.  Monsieur  Olsufjew1)  ist  im  Aufstieg  begrif- 
fen; er  steht  in  Gunst  und  man  behauptet,  dass  er 
bereits  den  Vizekanzler  angreift. 

„Alle  Bemühungen  des  Woiwoden  von  Smolensk 
und  sogar  seine  intimen  Beziehungen  zum  französi- 
schen Ambassadeur  werden,  so  glaube  ich,  nur  dazu 
führen,  dass  er  einiges  Geld  erhält,  worauf  ihm  an- 
geblich alte  Ansprüche  zustehen." 

Brief  an  denselben  vom  4-  Juni  1758. 
„Es  ist  mir  endlich  gelungen,  den  Herrn  Vizekanz- 
ler zu  sehen,  der  noch  immer  unwohl  ist  und  mich 
im  Schlafrock  und  Nachtmütze  empfing.  Zuerst 
sprach  ich  mit  ihm  über  Danzig  und  betonte  das  Ar- 
gument, dass  das  Vorgehen  des  preussischen  Königs 

*)  Adam  Wasiliewitsch  Olsufjew  ( 1 72  1  — 1784),  Staatssekre- 
tär. Anm.  d.  Herausg. 

2  5   Poniatowski  385 


in  Sachsen  gerechtfertigt  war,  wenn  eine  Kriegsrai- 
son  genügt,  um  eine  Armee  zu  ermächtigen,  eine 
neutrale  Stadt  zu  belagern  oder  gar  zu  bombardie- 
ren, damit  sie  gezwungen  wird,  ihre  Pforten  zu  öff- 
nen, ohne  dass  ein  Traktat  sie  hierzu  verpflichtete. 
Hierauf  wiederholte  er  mir  alle  früheren  Versiche- 
rungen, ich  könnte  doch  mit  aller  Bestimmtheit  auf 
sie  rechnen  und  es  würde  weder  zu  einer  Belagerung 
noch  zu  einem  Bombardement  kommen.  Woraufhin 
ich  sagte,  besser  wäre  es,  diese  Sache  möglichst  rasch 
zu  beendigen,  als  sie  ohne  Aussicht  auf  Erfolg  endlos 
hinzuziehen.  Er  widersprach  mir  nicht,  bemerkte  je- 
doch, es  wäre  notwendig,  die  Antwort  der  Danziger 
abzuwarten,  die  er  morgen  zu  erhalten  hoffte.  Soweit 
ich  mehr  nach  der  Art,  wie  er  sprach,  als  nach  sei- 
nen Worten  selbst  urteilen  kann,  bin  ich  überzeugt, 
dass  diese  Sache  wie  von  uns  erhofft  ein  gutes  Ende 
nehmen  und  die  Stadt  von  einer  Besetzung  durch 
russische  Truppen  verschont  bleiben  wird. 

„Hierauf  las  ich  ihm  den  Absatz  der  Depesche  vor, 
worin  mir  anbefohlen  wird,  die  im  allgemeinen  In- 
teresse liegende  Notwendigkeit  einer  raschen  Diver- 
sion seitens  dieses  Hofes  darzulegen  und  dass  es 
augenblicklich  der  günstigste  Moment  ist,  ohne 
grosses  Wagnis  ruhmreichen  Erfolg  zu  erlangen, 
da  der  König  von  Preussen  seine  Hauptkräfte  gegen 
die  Österreicher  führt  und  genötigt  ist,  ein  ziemlich 
ansehnliches  Korps  gegen  die  Schweden  aufzustellen, 
um  sie  in  Schach  zu  halten,  so  dass  er  im  gegenwär- 
tigen Zeitpunkt  den  Russen  nur  wenig  Truppen  ent- 
gegenstellen kann  (laut  ziemlich  sicheren  Mitteilun- 
gen sind  es  nicht  mehr  als  io — 12000  Mann).  Er 
erwiderte,  es  sei  nicht  die  Zahl  der  Feinde,  die  Ge- 

386 


neral  Fermor  aufhalte,  sondern  der  befürchtete 
Mangel  an  Subsistenzmitteln  in  Pommern.  Ich  erwi- 
derte, man  dürfte  diese  Ausflüchte  nicht  gelten  las- 
sen, es  wäre  nicht  schwer  alles  bereitzustellen,  man 
könnte  alles  Erforderliche  aus  Polen  und  aus  Preus- 
sen  herbeischaffen,  da  man  vor  allem  die  Weichsel 
hätte  und  übrigens  die  Lebensmittel  dem  Heere  auch 
nachgefahren  werden  könnten,  so  wie  die  andern  es 
machten.  Er  sagte,  dies  wolle  man  ja  auch  machen 
und  die  entsprechenden  Befehle  seien  bereits  erteilt 
worden. 

„Die  zweite  Unterredung  der  Kaiserin  mit  der 
Grossfürstin  hat  endlich  stattgefunden  und  zwar  in 
äusserst  zufriedenstellender  Weise.  Man  hat  sich  bei- 
derseits mit  grösstem  Vertrauen  und  ganz  offenherzig 
ausgesprochen;  man  hat  sich  gegenseitig  gerührt; 
I.  Majestät  hat  I.  K.  Hoheit  so  offensichtliche  Be- 
weise ihres  Wohlwollens  gegeben,  dass  man  sich 
hiervon  den  besten  Einfluss  auf  die  innere  Stimmung 
und  Verfassung  dieses  Hofes  und  infolgedessen  auch 
auf  das  Glück  dieses  Reiches  versprechen  kann.  Die 
Kaiserin  hat  sich  über  diese  Unterredung  bereits  in 
einer  Weise  geäussert,  die  ihre  völlige  Befriedigung 
offenbart.  Im  übrigen  kann  ich  Ew.  Exzellenz  ver- 
sichern, dass  Herr  Brockdorf  hierbei  nichts  gewon- 
nen hat." 


38> 


NEUNTES    KAPITEL 

BRIEF  AN  DEN  GRAFEN  RRÜHL  VOM  i3.  JUNI.  DAS 
UNTERNEHMEN  GEGEN  DANZIG  WIRD  FALLEN 
GELASSEN.  DER  KÖNIG  VON  DÄNEMARK  WIDER- 
SETZT SICH  DER  AUFSTELLUNG  DER  VEREINIG- 
TEN RUSSISCHEN  UND  SCHWEDISCHEN  FLOTTEN 
AUF  DER  REEDE  VON  KOPENHAGEN.  DAS  MO- 
TIV DES  SONDERBAREN  VERHALTENS  DES  TÜR- 
KISCHEN GESANDTEN.  ABREISE  DES  JUNGEN  HO- 
FES NACH  ORANIENBAUM.  —  BRIEF  AN  BRÜHL 
VOM  16.  JUNI.  DER  VORSCHLAG  DES  DÄNISCHEN 
KÖNIGS,  DIE  FLOTTEN  BEI  FALSTERBO-RIFF  ZU 
STATIONIEREN,  WIRD  ANGENOMMEN.  DIE  PFOR- 
TE ERTEILT  IHREM  GESANDTEN  DEN  REFEHL, 
SICH  IN  SEINEM  VERHALTEN  GANZ  NACH  SEI- 
NEM VORGÄNGER  ZU  RICHTEN.  —  BRIEF  AN 
BRÜHL  VOM  20.  JUNI.  BEGINN  DER  BELAGERUNG 
VON  OLMÜTZ.  AUFHEBUNG  DER  SEQUESTRATION 
VON  DEN  BESITZUNGEN  DER  VIER  PREUSSISCHEN 
MINISTER.  ALEXEJ  RAZÜMOWSKI  GIBT  EINEN 
BALL  FÜR  DEN  PRINZEN  KARL.  —  BRIEF  AN 
BRÜHL  VOM  23.  JUNI.  24000  DÄNEN  WERDEN 
NACH  HOLSTEIN  GESCHICKT,  UM  ES  VOR  EINER 
INVASION  ZU  SCHÜTZEN.  PETER  SCHDWALOW 
GIRT  EINEN  BALL  ZU  EHREN  DES  PRINZEN  KARL. 
STAPELLAUF  EINES  SCHIFFES  VON  100  KANO- 
NEN. —  BRIEF  AN  RRÜHL  VOM  27.  JUNI.  DER 
TÜRKISCHE  GESANDTE  WIRD  VON  DER  PFORTE 
ZURECHTGEWIESEN.  MEIN  STREIT  MIT  L'HÖPI- 
TAL  WEGEN  DANZIG. 


lllllMlIlllllltlllllllllllllllllMIIIIIIMIlIHlllllllllllI 


iirmiriifiltr: 


Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  i3.  Juni  1758. 

In  Beantwortung  der  Briefe  Ew.  Exzellenz  vom  3 1 . 
v.  M.  und  1.  d.  M.,  die  der  Kurier  Consoli  und  die 
Post  vom  Sonntag  mir  überbracht  haben,  gereicht  es 
mir  zu  besonderer  Befriedigung  Ihnen  mitteilen  zu 
können,  dass  man  soeben  an  General  Fermordie  aus- 
drücklichsten Befehle  expediert  hat,  sofort  und  ohne 
längeres  Zögern  in  Feindesland  einzubrechen  und  so- 
gar ohne  auf  das  neue  Korps  zu  warten.  Somit  wird 
natürlich  das  Unternehmen  gegen  Danzig  fallen  ge- 
lassen und  unsere  heissesten  Wünsche  werden  in  Er- 
füllung gehen. 

„Die  Höfe  von  Russland  und  Schweden  haben  dem 
Hof  von  Dänemark  die  zwischen  ihnen  abgeschlossene 
Konvention  zwecks  Vereinigung  ihrer  Flotten  beim 
Sund  mitgeteilt,  um  ihn  zu  sondieren,  ob  er  sich  ihr 
anschliessen  würde;  es  wurde  ihnen  eine  zwar  in  all- 
gemeinen Phrasen  gehaltene,  jedoch  sehr  freund- 
schaftliche Antwort  zuteil,  hingegen  ist  Baron  von 
Osten  beauftragt  worden,  hier  mündlich  darzulegen, 
dass  die  von  den  beiden  Höfen  ihren  Flotten  ange- 
wiesene Station  —  nämlich  der  Kanal  zwischen  der 
Insel  Seeland  und  der  Insel  Saltholm  —  gerade  die 
Reede  von  Kopenhagen  bildet  und  der  König  von 
Dänemark  unmöglich  seine  Zustimmung  geben  kann, 

390 


dass  sie  sich  an  einem  Orte  aufhalten,  wo  sie  ihm  in 
seinem  eigenen  Machtbereich  Gesetze  vorschreiben 
könnten;  jedoch  ist  der  König  von  Dänemark  offen- 
bar fest  entschlossen,  die  Immunität  der  Ostsee  gegen 
jede  fremde  Macht  zu  verteidigen,  und  so  schlägt  er 
den  beiden  Kronen  vor,  ihre  Flotten  an  der  Skani- 
schen  Küste  zu  stationieren,  an  jenein  berühmten 
Orte  namens  Falsterbo-Riff,  ohne  sich  jedoch  zu  ir- 
gend einem  offensiven  oder  seiner  bisher  befolgten 
Neutralität  widersprechenden  Vorgehen  zu  ver- 
pflichten. 

„Der  wunderliche  türkische  Gesandte  hat  von 
dem  Offizier,  der  für  seinen  Unterhalt  sorgt,  er- 
fahren, dass  ein  Kurier  nach  Konstantinopel  ge- 
sandt worden  ist,  um  ihn  wegen  der  Zurückhaltung 
seines  Beglaubigungsschreibens  zurechtweisen  zu 
lassen;  er  wollte  die  Richtigkeit  dieser  Mitteilung 
feststellen  und  hat  sich  deshalb  vor  einigen  Tagen 
zum  Herrn  Vizekanzler  begeben,  um  die  Bestätigung 
aus  dessen  eigenem  Munde  zu  hören.  Da  der  Minister 
es  ihm  bestätigt  hat,  kann  er  jetzt  die  Folgen  seiner 
Weigerung  voraussehen. 

„Seine  Hoheit  der  Grossfürst  und  Ihre  Hoheit  die 
Grossfürstin  sind  vergangenen  Sonnabend  nach  Ora- 
nienbaum  abgereist.  Die  Kaiserin  wird  sich  vielleicht 
gegen  Ende  dieser  oder  zu  Beginn  der  nächsten  Woche 
nach  Peterhof  begeben.  Im  Gefolge  I.  Majestät  wird 
sich  auch  S.  Hoheit  Prinz  Karl  befinden,  der  nunmehr 
den  Termin  seiner  Abreise  heranrücken  sieht." 

Brief  an  denselben  vom  16.  Juni  1768. 
„Der  Brief  Ew.  Exzellenz  mit  Datum  vom  5.  Juni 
d.  M.,  den  ich  mit  letzter  Post  erhalten  habe,  erfor- 

391 


dert  keine  Antwort,  so  beehre  ich  mich  nur  mitzutei- 
len, dass  der  Herr  Vizekanzler  die  Vorstellungen  des 
dänischen  Gesandten  wegen  Stationierung  der  russi- 
schen und  schwedischen  Flotten  im  Kanal  zwischen 
der  Insel  Seeland  und  der  Insel  Saltholm,  welche  die 
Reede  von  Kopenhagen  bilden,  gerechtfertigt  gefunden 
und  den  Vorschlag  angenommen  hat,  die  Flotten  an 
der  Skanischen  Küste  zu  stationieren,  bei  Falsterbo- 
Riff;  man  wird  daher  die  gemeinsamen  Abmachun- 
gen der  beiden  Höfe  dahin  abändern  und  letzteren 
Ort  zu  diesem  Zwecke  bestimmen.  Es  ist  anzunehmen, 
dass  der  Hof  von  Stockholm  mit  gleicher  Leichtig- 
keit darauf  eingehen  wird. 

„Die  neue  Deklaration  über  den  Handel  mit  den 
Staaten  des  Königs  von  Preussen  wurde  soeben  ver- 
öffentlicht, wie  Ew.  Exzellenz  es  in  der  beigefügten 
Gazette  dieser  Stadt  lesen  können. 

„Ich  werde  morgen  mit  dem  Herrn  Vizekanzler 
wieder  über  die  seit  langem  versprochene  Aufhebung 
des  Sequesters  in  Preussen  sprechen. 

„Beim  türkischen  Gesandten  ist  ein  Kurier  aus  Kon- 
stantinopel angekommen,  durch  den  man  ihm  seine 
Ungeschicklichkeiten  und  seine  Schikanen  vorwirft, 
die  schon  auf  dem  Wege  hierher  begonnen  hatten;  im 
übrigen  wird  ihm  ausdrücklich  anbefohlen,  sich  in 
allem  nach  dem  Verhalten  seines  Vorgängers  zu  rich- 
ten, nur  auf  solche  Weise  könne  er  die  Billigung  des 
grossmächtigen  Sultans  erlangen;  nun  wird  er  sich 
also  genötigt  sehen,  sein  Beglaubigungsschreiben,  wie 
verlangt,  dem  Herrn  Vizekanzler  auszuhändigen. 

„In  diesem  Augenblick  erhalte  ich  durch  einen 
französischen  Kurier  den  Brief,  mit  dem  Ew.  Exzel- 
lenz mich  am  io.  dieses  Monats  beehrten,  und  mit 

392 


Grossfürstin  Katharina 
(von  Anna  Rosina  Liscewska  um  1747) 
(Original  im  Herzogl.  Anhalt.  Schlosse  Zerbst) 


wahrer  Freude  nehme  ich  Kenntnis  von  dem  Eintref- 
fen eines  Teils  der  russischen  Truppen  des  Korps  der 
3oooo  Mann  in  Xowv  Dwör. 

„Was  die  wiederholte  Bemerkung  Ew.  Exzellenz 
bezüglich  meiner  Abreise  betrifft,  so  flehe  ich  Sie  an, 
direkt  an  den  Herrn  Vizekanzler  zu  schreiben,  um 
von  ihm  selbst  zu  erfahren,  ob  meine  Anwesenheit 
hier  am  Orte  in  der  kurzen  Zeitspanne,  die  mir  noch 
bis  Ende  Juli  verbleibt,  dem  Dienst  des  Königs  von 
Nutzen  sein  kann  oder  schaden  könnte  und  wie  dieser 
Minister  über  mich  denkt;  ich  nehme  mir  die  Frei- 
heit, Ew.  Exzellenz  diesen  Vorschlag  zu  machen,  da- 
mit Sie  feststellen  können,  dass  ich  in  meinen  frü- 
heren Berichten  hierüber  gewiss  nicht  zu  viel  gesagt 
habe." 

Brief  an  denselben  vom  20.  Juni  iy58. 

„Die  vorgestrige  Post  hat  mir  den  Brief  Ew.  Exzel- 
lenz vom  7.  und  den  Auszug  eines  Briefes  aus  Wien 
überbracht,  über  den  Marsch  der  Reichstruppen  zwecks 
Vereinigung  mit  dem  Korps  des  Generals  Serbelloni 
und  mit  der  Fortsetzung  des  Journals  des  mährischen 
Feldzugs  bis  zum  2.  d.  M.,  worin  der  Beginn  der  Ka- 
nonade von  Olmütz  durch  die  Preussen  verzeichnet  ist. 

„Wenn  mau  all  diese  Neuigkeiten  zusammen  kom- 
biniert, so  lässt  sich  erkennen,  dass  der  Feind  gegen- 
wärtig seine  Operationen  nicht  mit  solcher  Leichtig- 
keit ausführen  kann,  wie  zu  Beginn  der  vorjährigen 
Kampagne,  dass  aber,  um  ihn  noch  mehr  zu  beun- 
ruhigen und  um  den  Österreichern  Luft  zu  schaffen, 
eine  rasche  Diversion  der  Alliierten  vonnöten  ist.  Wir 
haben  keinen  Anlass  zu  zweifeln,  dass  sie  seitens  der 
russischen  Armeen  bald  effektuiert  wird. 

393 


„Vergangenen  Sonnabendhabeich  auch  endlich  eine 
Note  erhalten,  worin  gesagt  wird,  dass  die  Kaiserin 
mit  Rücksicht  auf  das  Ersuchen  des  Königs,  unseres 
Herren,  General  Fermor  den  Befehl  erteilt  habe,  nicht 
allein  das  Sequester  aufzuheben,  mit  dem  die  Güter 
der  preussischen  Minister,  die  sich  aus  Königsberg  zu- 
rückgezogen hatten,  belegt  waren,  —  obgleich  sie 
durch  ihr  Verhalten  die  Konfiskation  verdient  hatten, 
—  sondern  ihnen  auch  die  Einkünfte  wieder  zu  erstat- 
ten, die  in  die  Kasse  I.  K.  Majestät  geflossen  waren. 

„Vorgestern,  Sonntag,  hat  Feldmarschall  Graf  Ra- 
zumowski  für  S.  Hoheit  den  Prinzen  Karl  einen  Ball 
gegeben,  auf  dem  I.  K.  Majestät  erschienen  ist.  Die 
ausländischen  Minister  sind  nicht  eingeladen  worden, 
aus  Kompetenzgründen,  denen  man  aus  Rücksicht 
auf  die  beiden  Gesandten  bei  dieser  Gelegenheit  aus 
dem  Wege  gehen  wollte.  Ich  als  Pole  hatte  die  Ehre, 
dem  Ball  ä  la  suite  S.  K.  Hoheit  beizuwohnen.  Mor- 
gen findet  bei  Hofe  eine  Maskerade  statt.  Der  Tag  der 
Abreise  I.  K.  Majestät  nach  Peterhof  steht  noch  nicht 
fest. " 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  a3.  Juni  1708. 

„Ich  füge  eine  Kopie  der  dem  dänischen  Gesandten 
zuteil  gewordenen  Antwort  bei,  betreffs  der  mit  Schwe- 
den abgemachten  Massnahmen  zwecks  Sperrung  des 
Zugangs  zur  Ostsee  für  eine  englische  Eskader,  worin 
gemäss  dem  Vorschlag  S.  Majestät  des  Königs  von  Dä- 
nemark der  zur  Stationierung  der  vereinigten  Flotten 
beider  Kronen  festgesetzte  Ort  abgeändert  wird.  Die- 
ser Minister  hat  übrigens  den  Auftrag  erhalten,  hier 
zu  erklären,  dass,  obwohl  der  König,   sein  Herr,  auf 

394 


seinem  unabänderlichen  Entschlüsse  besteht,  in  diesem 
Kriege  die  exakteste  Neutralität  zu  bewahren  und  in 
keiner  Weise  daran  teilzunehmen,  er  sich  dennoch 
nicht  enthalten  konnte,  24  000  Mann  seiner  Truppen 
nach  Holstein  zu  entsenden,  doch  sei  dies  nur  eine 
Vorsichtsmassnahme  zur  Sicherung  der  Grenzen  sei- 
ner in  Deutschland  gelegenen  Staaten,  in  Anbetracht 
der  kritischen  Umstände,  worin  sie  sich  befänden, 
nämlich  in  Nähe  der  Operationen  der  sich  bekriegen- 
den Mächte.  Vielleicht  hat  das  Beispiel  Mecklenburgs, 
das  die  Preussen  ohne  Grund  besetzt  haben,  den  Kö- 
nig von  Dänemark  zu  dieser  Massnahme  zwecks  Si- 
cherung seiner  Staaten  bestimmt,  sollte  es  den  König 
von  Preussen  gelüsten,  dort  etwas  zu  unternehmen. 
„Als  ich  den  Herrn  Vizekanzler  bat,  mir  über  Dan- 
zig  zu  berichten,  und  ihm  sagte,  die  Entfernung  der 
Armee  des  Generals  Fermor  aus  Preussen  werde  zwei- 
fellos die  Einwohner  dieser  Stadt  beruhigen  und  dies 
sei  in  der  Tat  eine  gute  Gelegenheit,  ehrenvoll  und 
mit  Anstand  aus  dieser  Sache  herauszukommen,  da 
erwiderte  er  mir:  man  wolle  sie  noch  in  Ungewissheit 
lassen,  ohne  ihnen  während  einiger  Zeit  Antwort  zu 
geben,  um  sie  —  so  lautete  der  von  ihm  gebrauchte 
Ausdruck  —  zwischen  Hammer  und  Amboss  zu  hal- 
ten; dies  werde  jedoch  den  Weitermarsch  der  Armee 
nicht  aufhalten,  deren  Avantgarde,  nach  den  letzten 
Berichten,  nur  noch  drei  Meilen  von  der  Netze  ent- 
fernt sei.  Es  scheint,  dass  man  es  sich  auf  diese  Weise 
vorbehalten  will,  gegebenen  Falles  dieses  Projekt,  für 
das  man  bisher  so  viele  fruchtlose  Bemühungen  auf- 
gewendet hat,  weiter  zu  verfolgen,  aber  man  muss 
hoffen,  dass  diese  Vorsichtsmassnahme  nicht  mehr 
nötig  sein  wird. 

395 


„Die  Neuigkeiten,  die  in  dem  mir  gestern  zuge- 
kommenen Briefe  Ew.  Exzellenz  vom  12.  enthalten 
sind  und  die  sich  nicht  nur  auf  den  Marsch  dieser 
Truppen  beschränken,  sondern  besagen,  dass  sogar 
das  Korps  General  Browne  ohne  Rast  seinen  Weg 
fortsetzt,  lassen  uns  nicht  mehr  daran  zweifeln, 
dass  unser  Wunsch  einer  raschen  Diversion  in  Erfül- 
lung gehen  wird,  die  für  die  gemeinsame  Sache  von 
grösstem  Nutzen  sein  muss  in  einem  Augenblick,  wo 
der  König  von  Preussen  sich  in  Mähren  festgelegt 
hat  und  seine  eigenen  Staaten  gegen  eine  so  ansehn- 
liche Armee  nur  schwach  verteidigen  kann. 

„S.  Hoheit  Prinz  Karl  nahm  gestern  am  Ball  und 
Souper  beim  Grafen  Peter  Schuwalow  teil.  Die  vor- 
gestrige Maskerade  bei  Hofe  war  prachtvoll.  Heute 
wird  S.  K.  Hoheit  dem  Stapellauf  eines  Schiffes  bei- 
wohnen, das  mit  hundert  Kanonen  ausgerüstet  wer- 
den soll  und  erst  kürzlich  auf  der  hiesigen  Werft 
fertiggestellt  wurde. 

„Die  Kaiserin  soll  dieser  Tage  nach  Peterhof  auf- 
brechen." 

Brief  an  denselben  vom  27.  Juni  1758. 
„Der  Herr  Vizekanzler  hat  mir  eine  Kopie  gezeigt, 
die  man  sich  von  dem  Brief  zu  verschaffen  gewusst 
hat,  den  der  türkische  Gesandte  neulich  vom  Gross- 
vesir  erhalten  hat.  Er  ist  nicht  im  Stil  der  Orienta- 
len geschrieben,  man  könnte  fast  sagen,  ein  Europäer 
habe  ihn  diktiert.  Der  Premierminister  macht  ihm  erst 
Vorwürfe,  dass  er  sich  unterwegs  so  ungebührlich  be- 
tragen, belehrt  ihn  dann,  wie  er  sich  künftighin  ver- 
halten solle,  um  dem  Wunsche  des  allgewaltigen  Sul- 
tans zu  genügen,  der  die  Freundschaft  und  das  gute 

396 


Einverständnis  mit  Russland  zu  erhalten  bestrebt  sei, 
wie  er  auf  solche  Weise  vor  den  Augen  seines  Mei- 
sters Beifall  und  Gnade  finden  werde,  und  macht 
ihn  darauf  aufmerksam,  dass  gegenteilige  Schritte  ihm 
seinen  gerechtfertigten  Unwillen  zuziehen  würden. 
Es  scheint  nun,  dass  er  von  seinem  Verlangen  ablas- 
sen wird,  sein  Beglaubigungsschreiben  während  der 
Audienz  in  die  Hände  der  Kaiserin  selbst  zu  über- 
geben, er  macht  nur  noch  einige  minder  wichtige 
Schwierigkeiten,  wie  zum  Beispiel  dass  man  ihn  nur 
an  einer  Hand  halten  darf,  wenn  er  den  Audienzsaal 
betritt. 

„Man  glaubt,  dass  seine  Chikanen  einem  Plan  ent- 
springen, den  er  sich  zu  seinem  eigenen  Vorteil  er- 
dacht hatte.  Seinerzeit  hat  er  in  der  Eigenschaft  eines 
Kiaja  den  Gesandten  begleitet,  der  nach  dem  letzten 
Friedensschluss  mit  der  Türkei  hierher  kam.  Die  Kai- 
serin Anna  war  nicht  mehr  am  Leben,  die  Regent- 
schaft der  Prinzessin  von  Braunschweig  war  noch 
nicht  stabil,  man  wollte  die  Pforte  in  jeder  Weise 
schonen,  und  sobald  jener  Gesandte  irgendwelche 
Prätentionen  erhob  oder  Schwierigkeiten  machte, 
gab  man  ihm  Geld,  um  ihn  zu  beschwichtigen.  Der 
jetzige  Gesandte  hatte  sich  wohl  vorgenommen,  den 
Spuren  jenes  Ministers  zu  folgen,  entweder  weil  er 
sich  Geld  verschaffen  wollte  oder  um  sich  der  Pforte 
verdienstlich  zu  machen,  indem  er  noch  höhere  An- 
forderungen stellte  als  seine  Vorgänger.  Man  hat  ihm 
aber  deutlich  zu  verstehen  gegeben,  dass  die  Dinge 
im  gegenwärtigen  Augenblick  ganz  anders  liegen, 
dass  der  Thron  der  Kaiserin  durchaus  fest  steht  und 
nichts  Ähnliches  wie  damals  zu  befürchten  ist,  dass 
er  infolgedessen  sich  nicht  einbilden  solle,  er  werde 

397 


durch  seine  Opposition  etwas  erpressen  oder  auf  sol- 
che Weise  zu  Geld  kommen. 

„P.  S.  Ich  muss  Ew.  Exzellenz  Rechenschaft  able- 
gen über  einen  kleinen  Zwischenfall,  der  sich  heute 
beim  französischen  Ambassadeur  ereignet  hat,  als  wir 
im  Gefolge  S.  Hoheit  des  Prinzen  Karl  uns  zum  Di- 
ner dorthin  begeben  hatten.  Graf  Esterhazy,  bei  dem 
gestern  ein  Kurier  angekommen  war,  begab  sich  in 
das  Schlafzimmer  des  französischen  Gesandten,  um 
S.  K.  Hoheit  den  Inhalt  seiner  Depesche  bekannt  zu 
geben.  Der  französische  Ambassadeur  und  der  schwe- 
dische Gesandte  folgten  ihm;  ich  sah,  dass  man  auch 
Baron  de  Wittin ghoff  herbeirief,  einen  Chevalier  der 
französischen  Gesandtschaft.  Ich  folgte  ihm  dicht  auf 
den  Fersen  und  Herr  Marquis  de  lHöpital  musste 
mich  sicherlich  gesehen  haben,  denn  ich  stand  ihm 
gegenüber,  face  ä  face,  dennoch  stiess  er  die  Türe  zu, 
als  wollte  er  das  Zimmer  vor  mir  verschliessen.  Ich 
fragte  den  Ambassadeur,  ob  die  Türe  sich  vor  mir 
schliessen  sollte?  Er  sagte  in  einer  gewissen  Verle- 
genheit: ,nein,  im  Gegenteil.1  So  trat  ich  denn  ein. 
Graf  Esterhazy  begann  das  am  Tage  vorher  erhal- 
tene Reskript  vorzulesen,  dessen  erste  Paragraphen 
sich  auf  die  Danziger  Affäre  bezogen,  und  es  war  dar- 
in unter  anderem  gesagt,  man  wünsche  sie  ohne  Ge- 
waltmassregeln beendet  zu  sehen.  Bei  dieser  Stelle 
sagte  Graf  Esterhazy,  zu  mir  gewandt:  ,Ich  habe  Ih- 
nen von  allem  Anfang  an  gesagt,  es  würde  so  kommen.1 
Ich  erwiderte:  ,Sie  allein  haben  mich  damals  in  dieser 
Hinsicht  beruhigt.'' 

„Daraufhin  bemerkte  Marquis  de  lHöpital,  auch 
er  habe  stets  dasselbe  gesagt.  Ich  fühlte,  dass  er  mit 
mir  anbinden  wollte,  und  ich  versuchte,  einen  Streit 

398 


zu  vermeiden  (denn  ich  wäre  genötigt  gewesen,  im 
Falle  einer  Diskussion  ihm  nachzuweisen,  dass  er  mir 
erst  viel  später  als  Graf  Esterhazy  Hoffnungen  ge- 
macht hatte  und  anfänglich  das  Ganze  als  Bagatelle 
behandelt  hatte,  genau  so  wie  in  der  Elbinger  Sache). 
Also  wie  gesagt,  um  einen  Streit  zu  vermeiden,  gab 
ich  mir  den  Anschein ,  als  wäre  ich  völlig  in  das  Anhö- 
ren der  Lektüre  dieses  Schriftstücks  vertieft,  doch 
Monsieur  de  FHöpital  erhob  die  Stimme  und  sagte: 

„, Monsieur  le  comte  Poniatowski,  ich  spreche  zu 
Ihnen.' 

„Ich  antwortete,  mich  leicht  verneigend: 

„,Ieh  habe  die  Ehre,  Sie  zu  hören.' 

„Er  wiederholte  noch  lebhafter: 

„,Aber  ich  sage  doch,  dass  ich  Ihnen  hier,  in  diesem 
selben  Zimmer  gesagt  habe,  Russland  werde  niemals 
Gewaltmassregeln  ergreifen.' 

„Und  ich  antwortete: 

„,  Ja  wohl,  aber  anfänglich  haben  Sie  mir  in  dieser 
Sache  nicht  den  erbetenen  Beistand  geleistet.' 

„Jetzt  vergass  er  sich  so  weit,  zu  sagen : 

„,Das  ist  nicht  wahr!' 

„Da  ergriff  ich  seine  Hand  und  sagte  im  selben 
Tonfall: 

„,Man  spricht  nicht  so  zu  mir!' 

„Er  wurde  ruhiger  und  sagte  in  nicht  mehr  so  lau- 
tem Ton: 

„,Aber  ich  behaupte  ja  bloss,  dass  ich  gesagt  habe, 
Russland  werde  nicht  zu  Gewaltmassnahmen  schrei- 
ten.' 

„Da  diese  peinliche  Szene  lange  genug  gedauert 
hatte  und  ich  es  nicht  zu  Schlimmerem  kommen 
lassen  wollte,  sagte  ich :  ,Das  ist  wahr,'1  —  und  schwieg, 

399 


um  in  Rübe  und  kaltblütig  nachdenken  zu  können, 
dann  wollte  ich  sehen,  was  zu  machen  war.  Graf 
Esterhazy  setzte  die  Lektüre  fort:  an  Neuigkeiten  er- 
fuhren wir  bloss,  dass  das  Lager,  welches  man  für 
alle  Fälle  bei  Wien  versammelt  hatte,  als  der  König 
von  Preussen  bis  nach  Deschna  vorgestossen  war,  jetzt 
aufgelöst  wird;  die  10 000  Mann  sächsischen  Fuss- 
volks  ziehen  gegenwärtig  weiter  und  die  3ooo  Tos- 
kaner  und  andere  kroatische  Truppen  sind  nach 
Mähren  aufgebrochen,  da,  allem  Anschein  nach,  der 
König  von  Preussen  bald  gezwungen  sein  wird,  aus 
freien  Stücken  sich  aus  der  misslichen  Lage  zu  lösen, 
in  die  er  geraten  ist.  Das  Schriftstück  schloss  mit  ei- 
ner äusserst  dringenden  Anspornung  der  Russen. 

„Während  der  Lektüre  war  der  Herr  Vizekanzler 
herbeigekommen,  kurz  nach  meinem  Rencontre  mit 
dem  französischen  Ambassadeur;  sobald  die  Lektüre 
beendigt  war,  ging  er  hinaus,  und  in  diesem  Augen- 
blick wandte  sich  Monsieur  de  lHöpital  mit  äusserst 
höflicher  Miene  zu  mir  und  sagte: 

„, Monsieur,  es  schickt  sich  nicht  für  uns,  mitein- 
ander Streit  zu  haben  oder  gar  scharfe  Worte  zu 
wechseln,  und  schon  gar  nicht  in  Gegenwart  S.  Ho- 
heit des  Prinzen,  und  es  tut  mir  sehr  leid,  dass  dies 
vorgefallen  ist.'  Worauf  ich  entgegnete: 

„,lch  weiss  nicht,  was  ich  Ihnen  antworten  soll,  es 
sei  denn,  dass  die  Schuld  nicht  auf  meiner  Seite  liegt." 

„Hieraufsagte  er  noch  höflicher  und  milder: 

„,Nun,  wenn  die  Schuld  an  mir  lag,  so  schmerzt  es 
mich  um  so  mehr,  hauptsächlich  deshalb,  weil  ich 
durchaus  und  in  allem  als  Ihr  Freund  und  Diener 
handeln  will.' 

„Er  nahm  mich  bei  der  Hand  und  machte  mir  noch 

4oo 


einige  Komplimente,  sich  weiter  entschuldigend;  ich 
berichte  jedoch  nur  die  Ausdrücke,  deren  ich  mich 
ganz  deutlich  entsinne  und  die  ich  wirklich  als  Ent- 
schuldigung gelten  lassen  konnte,  worauf  ich  ihm 
denn  auch  erwiderte:  ,/Vwn,  so  lassen  wir  es  gut  seini; 
und  da  er  wiederholte:  ,als  Freund  und  Diener1,  so 
fügte  ich  hinzu :  ,In  diesem  Falle  habe  ich  Ihnen  sogar 
zu  danken.1  Hiermit  endete  diese  Szene,  ohne  dass  einer 
der  Anwesenden  sich  eingemengt  hatte,  und  wir  alle 
verliessen  das  Zimmer. 

„Da  wir  beide  in  amtlicher  Eigenschaft  hier  sind, 
Monsieur  de  THopital  sogar  das  Amt  des  französi- 
schen Ambassadeurs  bekleidet  und  es  gerade  um 
eine  so  heikle  Sache  wie  Danzig  ging,  so  habe  ich 
geglaubt,  jeden  weiteren  Skandal  vermeiden  zu  müs- 
sen, und  habe  mich  mit  der  Art,  wie  dieser  Handel 
beendet  wurde,  zufrieden  gegeben." 


26   Poniatowski 


4oi 


ZEHNTES     KAPITEL 

BRIEF  AN  DEN  GRAFEN  BRÜHL  VOM  4.  JULI.  ICH 
VERLANGE  EINEN  PASS  FÜR  MEIN  SILBER.  ER- 
STER ZUSAMMENSTOSS  DER  PREUSSEN  MIT  DEN 
RUSSEN  FERMORS.  RATIFIKATION  DER  FLOT- 
TENKONVENTION VON  ELISABETH  UNTERZEICH- 
NET. PRINZ  KARL  REI  DER  RUSSISCHEN  FLOTTE 
IN  KRONSTADT.  —  BRIEF  AN  DEN  GRAFEN  RRÜHL 
VOM  1  1 .  JULI.  ERNEUERUNG  DES  TRAKTATS  MIT 
SCHWEDEN.  WEIGEBUNG,  DIE  RÜCKSTÄNDIGEN 
GELDER  ZU  ZAHLEN.  BESTUSCHEW  ERHÄLT 
i5oo  RUBEL  UND  5  RUBEL  TÄGLICH.  —  RRIEF 
AN  BRÜHL  VOM  1  4.  JULI.  AUFHEBUNG  DER  BE- 
LAGERUNG VON  OLMÜTZ.  DIE  SCHLACHT  BEI 
KREFELD.  AUSFAHRT  DER  RUSSISCHEN  FLOTTE. 
AUDIENZ  DES  TÜRKISCHEN  GESANDTEN.  ARBEISE 
DES  PRINZEN  KARL.  —  BRIEF  AN  BRÜHL  VOM 
18.  JULI.  IWAN  SCHUWALOW  WILL  NICHT 
VIZEKANZLER  WERDEN.  RZEWUSKI  UND  ICH 
GEHEN  NOCH  EINMAL  NACH  PETERHOF.  —  BRIEF 
AN  BRÜHL  VOM  25.  JULI.  NÄHERES  ÜRER  DIE 
AUFHEBUNG  DER  BELAGERUNG  VON  OLMÜTZ. 
SCHWEDISCHE  REKRUTEN  WERDEN  VON  DEN 
PREUSSEN  IN  EINER  DANZIGEB  VORSTADT 
AUFGEHOBEN.  —  BRIEF  AN  RRÜHL  VOM  28. 
JULI.  GENERAL  REZANOW  IST  AN  DER  AUF- 
HEBUNG DIESER  SCHWEDISCHEN  REKRUTEN 
SCHULD.  FERMORS  LANGSAMKEIT.  RROCKDORFS 
UND  NARISCHKINS  KREDIT  IM  SINKEN.  —  BRIEF 
AN  BRÜHL  VOM  4.  AUGUST.  L'HÖPITAL  GIBT 
BBOCKDOBF  DEN  RAT,  SICH  ZU  ENTFERNEN. 


IIHlmilMIIIIIIIIIIM  HIHIHI 


Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  4-  Juli  1758. 

Mit  vorgestriger  Post  habe  ich  den  Brief  Ew. 
Exzellenz  vom  21.  d.  M.,  Nr.  46,  erhalten. 

„Was  mir  darin  bezüglich  meiner  bevorstehenden 
Abreise  aufgetragen  wird,  habe  ich  bereits  ausge- 
führt, indem  ich  dem  Herrn  Vizekanzler  schon  vor 
drei  Wochen  meine  Abreise  mitgeteilt  habe ;  ich  habe 
sogar  die  ersten  Reisevorbereitungen  bereits  getrof- 
fen und  den  erforderlichen  Pass  verlangt,  um  mein 
Silber  ausführen  zu  können. 

„Gestern  kam  hier  die  Kunde  von  einem  Zusam- 
menstoss  zwischen  einem  Detachement  der  Armee 
des  Generals  Fermor  und  einem  Teil  der  Preussen, 
zum  Nachteil  der  letzteren,  die  28  Mann  verloren, 
ausserdem  hat  man  ungefähr  3o  Gefangene  gemacht, 
darunter  einen  Kornett,  der  Rest  wurde  zersprengt 
und  die  Verfolgung  bis  gegen  Stettin  aufgenommen. 

„Die  Kaiserin  hat  die  Ratifikation  der  Konven- 
tion mit  Schweden  bezüglich  Vereinigung  der  Flot- 
ten beider  Kronen  unterzeichnet,  gleichzeitig  auch 
die  Vollmacht  des  Herrn  Vizekanzlers  für  die  Er- 
neuerung des  Traktats  zwischen  diesem  Hofe  und 
Stockholm,  das  im  Jahre  174^  abgeschlossen  wurde 
und  jetzt  abgelaufen  ist.  Auf  die  Anfrage  des 
schwedischen   Gesandten  wegen  eines   Ankaufs   von 

4o4 


4 ooo  Lasten  Getreide  in  Livland  für  Schweden  wurde 
ihm  jedoch  eine  ablehnende  Antwort  zuteil,  weil  die 
Russen  es  selber  brauchten.  Man  wird  aber  hierbei 
nicht  mit  aller  Strenge  verfahren  und  unter  der 
Hand  die  Ausfuhr  einer  gewissen  Menge  zum  Profit 
einiger  Privatleute  begünstigen. 

„S.  K.  Hoheit  Prinz  Karl  hat  sich  gestern  mit  sei- 
nem ganzen  Gefolge  auf  einer  Yacht  der  Kaiserin 
nach  Kronstadt  begeben;  bei  ihrer  Annäherung  an 
die  dort  vor  Anker  liegende  Flotte  hat  die  Yacht  elf 
Salutschüsse  abgegeben,  worauf  das  Admiralschiff 
mit  neun  Salutschüssen  erwiderte.  Admiral  Miszu- 
kow  empfing  S.  K.  Hoheit  mit  allen  Ehren  auf  sei- 
nem Flaggschiff,  das  den  Namen  St.  Nikolaus  führt 
und  mit  84  Kanonen  armiert  ist.  Die  Matrosen  ma- 
növrierten und  die  ganze  Flotte  entfaltete  die  Segel. 
Wir  dinierten  dort  an  einer  Tafel  von  3o  Gedecken. 
Unter  Kanonendonner  trank  man  auf  das  Wohl 
I.  K.  Majestät,  S.  K.  Hoheit  des  Prinzen,  des  Admirals 
und  der  ganzen  Admiralschaft,  auf  den  Erfolg  der 
Flotte  und  den  der  Kampagne  S.  K.  Hoheit  des  Prin- 
zen mit  den  kaiserlich  russischen  Armeen.  Nach  dem 
Diner  begab  sich  S.  K.  Hoheit  mit  seiner  ganzen 
Suite  auf  Schaluppen  nach  dem  Hafen,  um  ihn  sowie 
den  berühmten  Kanal  zur  Ausbesserung  der  Schiffe 
zu  besichtigen,  einem  Werk  der  alten  Römer  würdig. 
1 2  Linienschiffe  und  eine  Fregatte  liegen  auf  der 
Reede,  fast  alle  bereit  in  See  zu  stechen,  und  im  Ha- 
fen werden  noch  einige  equipiert.  Hiervon  abgesehen, 
ist  Vizeadmiral  Polanskij  in  Reval  gleichfalls  be- 
reit, mit  einer  Eskader  auszufahren,  so  dass  die  ganze 
Seemacht  einige  zwanzig  Segel  beträgt.  Es  wird  ver- 
sichert, dass  sie  bald  in  See  stechen  soll. 

4o5 


„Monsieur  le  baron  Lefort,  von  I.  K.  Majestät  Gna- 
den zum  Oberzeremonienmeister  ernannt,  hat  sein 
Amt  vorgestern  angetreten,  den  Titel  führt  Graf 
Santy  indes  noch  weiter." 

Brief  an  denselben  vom  11.  Juli  1758. 

„Das  im  Jahre  174^  für  12  Jahre  abgeschlossene 
Traktat  der  Defensiv-Allianz  und  des  Handels  mit 
Schweden  ist  erneuert  und  von  den  Ministern  bei- 
der Höfe  hiei  unterzeichnet  worden;  es  soll  durch- 
weg dem  ersten  gleichlauten,  die  Ratifikationen  sol- 
len in  Stockholm  ausgewechselt  werden.  Auf  Schwe- 
dens Aufforderung  an  Russland,  das  Geld  zu  zahlen, 
das  es  noch  zu  fordern  hat,  wurden  jedoch  nur  die 
ungeheuren  Ausgaben  dieses  Krieges  als  Entschuldi- 
gung vorgebracht  und  die  Zahlung  nach  Friedens- 
schluss  versprochen. 

„Vor  einigen  Wochen,  als  es  der  Kaiserin  zu  Ohren 
kam,  dass  es  dem  früheren  Kanzler  an  Geld  zur  Be- 
streitung seines  Haushaltes  fehle,  liess  sie  ihm  tau- 
send Rubel  übergeben  und  befahl  sie  zu  benachrich- 
tigen, sobald  das  Geld  ausgegeben  sein  würde.  I.  K. 
Majestät  hat  ihm  soeben  wieder  i5oo  Rubel  auszah- 
len lassen  und  ihm  ausserdem  fünf  Rubel  pro  Tag 
angewiesen,  zum  täglichen  Unterhalt.  Im  übrigen 
schwebt  sein  Los  sowie  das  Los  aller  zur  selben  Zeit 
arretierten  Personen  immer  noch  in  derselben  Unge- 
wissheit,  abgesehen  davon,  dass  die  Aktiva  und  Pas- 
siva des  Juweliers  Bernardi  liquidiert  werden." 

Brief  an  denselben  vom  14.  Juli  1768. 

„Die  Aufhebung  der  Belagerung  von  Olmütz,  der 
4o6 


die  Niederlage  eines  ansehnlichen  preussischen  Korps 
vorangegangen  ist,  das  einen  Konvoi  für  das  bei  die- 
ser Stadt  aufgeschlagene  Lager  eskortierte,  ist  von  so 
grosser  Bedeutung,  dass  man  hiervon  die  segensreich- 
sten Folgen  für  die  gerechte  Sache  erhoffen  darf.  Es 
bereitet  mir  eine  persönliche  Genugtuung,  dass  ge- 
rade mein  Bruder1)  beauftragt  wurde,  diese  erfreu- 
liche Nachricht  dem  König,  unserem  allergnädigsten 
Herren,  zu  überbringen.  Was  die  Schlacht  zwischen 
den  Franzosen  und  den  Hannoveranern  betrifft,  so 
sind  hier  noch  keine  anderen  Details  bekannt,  als  sie 
die  Berliner  Gazette  bringt,  jedoch  um  sie  richtig 
zu  beurteilen  muss  man  den  Bericht  der  anderen 
Parteien  abwarten  und  ob  in  der  Folge  Graf  de  Cler- 
mont  noch  in  der  Lage  sein  wird,  den  erlittenen  Ver- 
lust wettzumachen  oder  zum  mindesten  die  weite- 
ren Fortschritte  des  Feindes  zu  verhindern. 

„Die  russische  Flotte,  die  wir  in  Kronstadt  gese- 
hen haben,  ist  nicht  mehr  dort;  sie  ist  gestern  früh 
unter  Segel  gegangen,  bei  günstigstem  Winde  und 
herrlichstem  Wetter. 

„In  meinem  letzten  Briefe  habe  ich  vergessen,  die 
Audienz  des  türkischen  Gesandten  zu  erwähnen,  die 
vergangenen  Sonntag  in  Peterhof  stattgefunden  hat, 
als  er  endlich  von  seinen  lächerlichen  Forderungen 
Abstand  nahm  und  sich  dem  Brauch  unterordnete, 
gemäss  der  strikten  Ordre,  die  er  diesetwegen  von 
Konstantinopel  erhalten  hat.  Mit  seinem  jetzigen  Be- 
nehmen ist  man  ziemlich  zufrieden;  morgen  wird 
man  ihn  in  die  italienische  Oper  führen,  und  es  wird 
nur  an  ihm  liegen,  alle  Annehmlichkeiten  zu  genies- 

*)  Andreas  Poniatowski.   Anm.  d.  Herausg. 

4o7 


sen,  die  man  ihm  zeit  seines  ferneren  Aufenthaltes 
hier  zu  gewähren  geneigt  ist. 

„S.  Hoheit  Prinz  Karl  reist  heute  ab,  mit  dem 
Sankt-Andreas-Orden  beschenkt  und  von  I.  K.  Ma- 
jestät mit  Wohltaten  überschüttet.  Da  er  selbst  dem 
König  über  alles  Rechenschaft  ablegen  wird,  was 
man  für  ihn  und  die  königliche  Familie  getan  hat, 
so  dispensiere  ich  mich  von  dieser  Wiederholung.  Es 
steht  fest,  dass  ihm  jede  erdenkliche  Auszeichnung 
zuteil  wurde;  doch  hinterlässt  auch  er  in  allen  Her- 
zen Trauer  über  seine  Abreise. 

„Ich  habe  zugleich  mit  S.  K.  Hoheit  Urlaub  ge- 
nommen und  rechne  damit,  in  drei  Wochen  abreisen 
zu  können.  Während  der  kurzen  Zeit,  die  mein  Auf- 
enthalt hier  noch  währen  wird,  werde  ich  mich  auch 
ferner  bemühen,  dem  Könige  mit  all  meinem  Eifer 
und  aller  Sorgfalt  zu  dienen  in  jeder  Sache,  wo  es 
noch  vonnöten  sein  wird,  denn  seine  allerhöchste 
Anerkennung  zu  verdienen  wird  stets  mein  grösstes 
Glück  sein." 

Brief  an  denselben  vom  18.  Juli  1758. 

„Da  hier  das  Gerücht  verlautete,  das  Amt  des 
Grosskanzlers  werde  alsbald  dem  Grafen  Woronzow 
verliehen  und  Kammerherr  Schuwalow  an  seiner 
Statt  zum  Vizekanzler  ernannt  werden,  so  habe  ich 
letzteren  um  Aufklärung  gebeten;  er  gab  mir  zur 
Antwort,  dies  sei  durchaus  nicht  sein  Wunsch,  er 
habe  ohnedies  genug  Sorgen  und  wolle  sich  nicht 
noch  in  neue  Verlegenheiten  stürzen.  Vielleicht  wäre 
es  gut,  wenn  er  diesen  Posten  annähme,  denn  dann 
würde  man   mit  ihm  als  Minister  verhandeln,  wäh- 

4o8 


HA  TL  I  IH  K  I!  Hl- 


rend  er  sich  gegenwärtig  zwar  in  alles  einmengt, 
wenn  man  jedoch  mit  ihm  über  eine  Sache  sprechen 
will  stets  behauptet,  ihm  sei  hierüber  nichts  bekannt 
und  er  könne  sich  auf  nichts  einlassen.  Andererseits 
käme  man  wieder  in  die  gleiche  Verlegenheit  wie  zu 
Zeiten  des  Grosskanzlers  Bestuscbew,  weil  der  Mini- 
ster zweiten  Ranges  der  erste  im  Ansehen  wäre  aber 
noch  viel  mehr  Einfiuss  hätte,  als  Graf  Woronzow 
ihn  damals  besass,  woraus  notwendigerweise  gegen- 
seitige Eifersucht  entspringen  müsste. 

„Da  die  Kaiserin  wissen  liess,  die  Kavaliere  der 
Suite  S.  K.  Hoheit  des  Prinzen  Karl,  die  sich  noch 
hier  befänden,  könnten,  obgleich  sie  sich  bereits  be- 
urlaubt haben,  vorgestern,  Sonntag,  zum  Empfang 
nach  Peterhof  kommen,  so  hat  sich  der  Feldsekretär 
Rzewuski,  der  erst  morgen  abreist,  hinbegeben;  der 
Herr  Starost  von  Warschau  blieb  weg,  weil  er  sonst 
nicht  hätte  gestern  abreisen  können,  wie  es  gesche- 
hen ist.  Ich  bin  hingegangen,  weil  es  mir  ganz  be- 
sonders nahegelegt  wurde,  und  wahrscheinlich  werde 
ich  genötigt  sein,  jedesmal,  so  oft  Cour  stattfindet, 
hinzugehen,  bis  zu  meiner  Abreise,  —  spätestens  in 
drei  Wochen.  I.  K.  Majestät  hat  sich  jedoch  nicht  in 
der  Öffentlichkeit  gezeigt,  da  sie  einen  leichten 
Rheumatismus  im  Arm  verspürt,  die  Folge  einer  Er- 
kältung durch  Zugwind." 

Brief  an  den  Grafen  Brühl  vom  20.  Juli  1758. 

„Die  Depesche  Ew.  Exzellenz  vom  12.  d.  M.,  die 
mich  mit  den  Folgen  der  Aufhebung  der  Belagerung 
von  Olmütz  bekannt  macht,  ist  um  so  interessanter, 
als  es  den  Anschein  hat,  dass  der  König  von  Preus- 
sen  sogar  noch  auf  seinem  Rückzug  ein  Unternehmen 

4o9 


gegen  Böhmen  plant;  vielleicht  aher  beabsichtigt  er 
nur,  über  Leutomischel  nach  der  Grafschaft  Glatz 
zurückzukehren;  wie  auch  sein  Plan  sein  mag,  es  ist 
zu  hoffen,  dass  die  Dispositionen  des  Marschalls  Daun 
ihm  bei  der  Ausführung  seines  Planes  grosse  Schwie- 
rigkeiten bereiten  werden. 

„Nach  den  letzten  Nachrichten,  die  das  Ministerium 
von  der  Armee  General  Fermor  erhielt,  war  das 
Hauptquartier  in  Meseritz,  und  wenn  ich  dies  mit  den 
uns  von  Ew.  Exzellenz  zugekommenen  Informationen 
zusammenstelle,  so  muss  ich  annehmen,  dass  die  Ar- 
mee sich  gegenwärtig  bereits   in  Schlesien  befindet. 

„Der  Herr  Vizekanzler  hat  mir  mitgeteilt,  dass 
eine  Abteilung  preussischer  Husaren,  von  dem  verklei- 
deten preussischen  Residenten  angeführt,  43  schwe- 
dische Rekruten  in  einer  Vorstadt  Danzigs  überrascht 
und  aufgehoben  hat  und  dass  der  Resident  hernach 
sich  in  der  Stadt  rühmte,  diesen  Coup  trotz  der  Nähe 
der  russischen  Armee  ausgeführt  zu  haben ;  der  Herr 
Vizekanzler  gab  mir  zu  verstehen,  dass  wenn  die 
Danziger  seitens  der  Preussen  solche  Unbill  dulde- 
ten, man  eines  schönen  Tages  auf  gleichem  Wege 
die  Preussen  aus  ihrer  Stadt  herausholen  würde.  Ich 
glaube  also,  man  muss  den  Danzigern  befehlen,  sie 
sollen  unverzüglich  beim  König  von  Preussen  hef- 
tigste Klage  erheben  wegen  dieser  durch  seine  Hu- 
saren begangenen  Gebietsverletzung  und  gleichzeitig 
in  aller  Öffentlichkeit  Schritte  unternehmen,  um  den 
Russen  und  den  übrigen  Verbündeten  bekannt  zu 
geben,  dass  sie  sich  beschwert  haben  und  dass  sie 
mit  dem  oben  erwähnten  Attentat  durchaus  nicht 
einverstanden  sind,  sondern  sich  im  Gegenteil  da- 
durch aufs  äusserste  verletzt  fühlen." 

4  10 


Brief  an  denselben  vom  28.  Juli  1708. 

„Ich  danke  Ew.  Exzellenz  für  die  mir  im  Brief 
vom  27.  d.  M.  freundlichst  übermittelten  Nachrich- 
ten über  die  Operationen  des  Marschalls  Daun,  die 
den  Zweck  haben,  den  König  von  Preussen  auf  sei- 
nem Rückzug  aus  Mähren  möglichst  zu  belästigen. 
Den  16000  Mann,  die  er  nach  Oberschlesien  deta- 
chiert hat,  wird  gewiss  irgend  ein  Unternehmen  ge- 
lingen, indes  die  grosse  Armee  den  Feind  beobachtet. 

„Ich  habe  Ew.  Exzellenz  in  meinem  letzten  Briefe 
mitgeteilt,  was  der  Herr  Vizekanzler  bezüglich  der 
Aufhebung  schwedischer  Rekruten  in  Danzig  gesagt 
hat,  wovon  Sie  Erwähnung  machen;  ich  werde  ihm 
morgen  sagen,  dass  Sie  mir  geschrieben  haben  um 
mich  aufzuklären,  dass  es  General  Rezanows  Schuld 
ist,  wenn  preussische  Husaren  so  weit  vordringen 
konnten,  da  man  ihn  doch  ausdrücklich  zur  Deckung 
des  Landes  dort  gelassen  hat.  Die  Berichte,  die  hier 
angeblich  von  General  Fermor  einlaufen,  decken  sich 
nicht  mit  jenen,  die  ich  von  Ew.  Exzellenz  erhalte. 
Jene  lassen  die  Truppen  rascher  marschieren,  als  es 
in  Wirklichkeit  der  Fall  ist.  Vor  acht  Tagen  wurde 
gesagt,  die  Vereinigung  mit  dem  Korps  General 
Brownes  sei  bereits  vollzogen,  und  hernach,  das 
Hauptquartier  befinde  sich  bereits  in  Meseritz,  aber 
die  Depesche  Ew.  Exzellenz  belehrt  mich,  dass  Fer- 
mor, der  am  1 1 .  das  Lager  bei  Posen  aufgehoben 
hat,  nur  eine  halbe  Meile  vorgerückt  ist  und  dass 
man  nicht  genau  unterrichtet  ist,  wo  Browne  sich 
eigentlich  befindet.  Wie  dem  auch  sei,  sie  müssen 
doch  endlich  vorrücken  und  können  nicht  ewig  in 
Polen  stecken  bleiben. 

„Ich    glaube    Ew.   Exzellenz    einen    interessanten 

4n 


Umstand  berichten  zu  müssen.  Brockdorfs  Ansehen, 
das  bei  der  Kaiserin  schon  völlig  zerstört  war,  als 
sie  von  seinem  Charakter  und  seinen  Handlungen 
Kenntnis  erhielt,  ist  jetzt  auch  beim  Grossfürsten 
stark  im  Sinken  begriffen  und  seine  Reden  machen 
keinen  Eindruck  mehr.  Eines  Tages  hat  er  sich 
herausgenommen,  an  der  Tafel  S.  Kaiserlichen  Ho- 
heit ganz  öffentlich  zu  sagen,  Prinz  Karl  sei  her- 
gekommen, um  Kurland  zu  erhalten,  er  werde  es  je- 
doch nicht  bekommen;  dass  er  wiederkommen  wolle, 
man  würde  aber  Mittel  finden,  ihn  daran  zu  hin- 
dern; und  er  fügte  hinzu,  obzwar  er  den  polnischen 
Orden  durch  den  Prinzen  nicht  erhalten  habe,  würde 
er  ihn  dennoch  bekommen,  denn  der  Gesandte 
Frankreichs  habe  es  ihm  versprochen.  Kammerherr 
Lew  Alexandro witsch  Narischkin,  ein  anderer  Günst- 
ling des  Grossfürsten,  sieht  das  Vertrauen,  das  S.  K. 
Hoheit  ihm  entgegenbrachte,  gleichfalls  schwinden. 
Die  Dinge  haben  sich  am  jungen  Hofe  in  gar  man- 
cher Hinsicht  verändert  und  werden  sich  allem  An- 
schein nach  noch  mehr  ändern." 

Brief  an  denselben  vom  4-  August  1 758. 

„Ich  habe  gestern  die  beiden  Briefe  erhalten,  mit 
denen  Ew.  Exzellenz  mich  am  24.  und  27.  v.  M.  be- 
ehrten, obgleich  Sie  im  Zweifel  waren,  ob  die  Briefe 
mich  noch  hier  antreffen  würden.  Es  werden  wohl 
auch  die  letzten  sein,  obgleich  ich  erst  in  acht  Tagen 
abreisen  kann,  diesmal  aber  unwiderruflich;  ich  habe 
meine  Dienerschaft  und  Equipage  bereits  heute  ab- 
geschickt. 

„Die  Nachrichten,  die  Ew.  Exzellenz  mir  über  die 
weiteren  Operationen  der  österreichischen  Armee  in 

4i  2 


Böhmen  mitzuteilen  belieben,  sind  ziemlich  günstig 
und  versprechen  für  den  weiteren  Verlauf  der  Kam- 
pagne der  gemeinsamen  Sache  den  besten  Erfolg. 

„Es  kommen  hier  ziemlich  oft  Kuriere  von  der 
Armee  General  Fermors  an,  so  erst  vor  einigen  Tagen, 
und  man  sagt,  sie  rücke  vor;  Ew.  Exzellenz  sind  in 
der  Lage,  raschere  und  exaktere  Berichte  zu  erhalten. 

„Ich  danke  Ew.  Exzellenz  für  die  Übermittlung 
der  Nachricht,  dass  S.  Hoheit  Prinz  Karl  in  bester 
Gesundheit  in  Warschau  angelangt  ist;  er  muss  die- 
sen weiten  Weg  mit  grösster  Beschleunigung  zurück- 
gelegt haben. 

„Gestern  war  in  Peterhof  nichts  los;  es  verlautet, 
dass  vielleicht  übermorgen,  Sonntag,  die  russische 
Oper  spielen  soll,  doch  für  gewöhnlich  erfährt  man 
solche  Dinge  hier  mit  Bestimmtheit  erst  kurz  vor  der 
Aufführung. 

„Ich  habe  nicht  zu  viel  gesagt,  als  ich  Ew.  Exzel- 
lenz berichtete,  dass  Brockdorfs  Kredit  bei  der  Kaise- 
rin zerstört  und  beim  Grossfürsten  im  Sinken  begrif- 
fen ist;  es  ist  jetzt  schon  so  weit  gekommen,  dass  der 
französische  Ambassadeur,  sein  Protektor,  ihm  sogar 
den  Rat  gegeben  hat,  sich  so  rasch  als  möglich  zu  ent- 
fernen. " 


I  o 


ELFTES    KAPITEL 

ANEKDOTEN  ÜBER  BERNARDI  ÜNDBESTUSCHEW. 
—  HOCHZEIT  EINES  HOFFRÄÜLEINS.  —  MEINE 
KRANKHEIT.  BOERHAVE.  —  PRINZ  KARL  VON 
SACHSEN.  —  DER  CHEVALIER  D'EON.  —  EINSIE- 
DEL.  —  DIE  GERECHTIGKEIT,  DIE  ER  MIR  TROTZ 
PRASSE  WIDERFAHREN  LIESS.  DAS  ABENTEUER 
DES  VIZESPIONS.  —  RZEWUSKI.  ZWISCHENFALL 
BEIM  GESELLSCHAFTSSPIEL  „SEKRETÄR".  BRA- 
NICKI.  MEIN  MISSGESCHICR  VOM  6.  JULI.  — 
MEINE  RÜCKKEHR  NACH  POLEN. 


I  r"'" "■■■miiiiniiiriniiiiiiiiiimiiiiiiiimmiim lliinnmniiiiiiiimniiiiHnniiiiiiiiiiiiniiiuim,,,,,,,,,,,,,! 


Ich  habe  die  obigen  Schriftstücke  zusammengestellt, 
um  ein  Bild  meiner  Tätigkeit  als  Minister  zu  ge- 
ben. Nun  fahre  ich  im  Bericht  der  Anekdoten  fort, 
die  mich  persönlich  näher  betrafen. 

Am  25.  Februar  1708,  bei  meiner  Rückkehr  aus 
dem  Theater  um  10  Uhr  abends  fand  ich  Bernardi 
bei  mir  vor;  er  war  ein  venezianischer  Juwelier,  der 
oftmals  die  Briefe  des  Kanzlers  und  die  meinigen  der 
Grossfürstin  übermittelt  und  uns  ihre  Antworten 
überbracht  hatte.  Dieser  Mann  sagte  mir:  „alles  ist 
verloren ;  der  Kanzler  Bestuschew  ist  verhaftet  worden ; 
mein  Haus  wird  bereits  bewacht;  ich  war  bei  Dalo- 
glio,  als  es  mir  hinterbracht  wurde.  Ich  flehe  Sie  an, 
haben  Sie  Mitleid  mit  mir,  lassen  Sie  mich  in  den 
Brunnen  Ihres  Hauses  werfen,  damit  mir  wenigstens 
die  Folter  erspart  bleibt, die  hierbei  Staatsverbrechern 
angewandt  wird." 

Ich  überlegte  einen  Augenblick,  dann  fragte  ich 
ihn:  „Befindet  sich  in  Ihrem  Hause  irgend  ein  Schrift- 
stück von  der  Hand  des  Kanzlers  oder  der  Gross- 
fürstin?" 

„Nein,  kein  einziges,"  erwiderte  er. 

„Nun,  so  ist  es  am  besten,  Sie  gehen  jetzt  sogleich 

nach  Hause,   ohne  Furcht  oder  Besorgnis  zu  zeigen. 

Die  Milde  der  gegenwärtigen  Regierung  und  alles, 

was  ich  von  dem  Verhalten  des  Grosskanzlers  und 

4i6 


der  Grossfürstin  weiss,  lässt  mich  voraussehen,  dass 
nach  dem  ersten  Sturm  alles  bedeutend  weniger  tra- 
gisch verlaufen  wird,  als  Sie  jetzt  glauben;  sollten  Sie 
aber  versuchen  sich  zu  verstecken  (was  übrigens  nach 
einer  Stunde  schon  zwecklos  wäre),  so  würde  gerade 
dieser  Umstand  Ihr  Los  verschlimmern,  wenn  man 
Sie  finden  und  vorführen  würde." 

Lange  beratschlagte  ich  mit  Bernardi  und  sprach 
ihm  Mut  zu,  und  schliesslich  gelang  es  mir  auch  ihn 
zu  bestimmen,  dass  er  meinem  Rat  folgte.  Zeit  meines 
Lebens  hat  mich  keine  andere  Szene  so  sehr  ergriffen; 
abgesehen  davon,  dass  Bernardi  mir  manchen  Dienst 
erwiesen  hatte,  war  er  ein  ehrlicher  und  liebenswür- 
diger Mensch.  Seine  Gefangenschaft  war  leicht;  be- 
reits nach  einigen  Wochen  war  es  beinahe  entschie- 
den, dass  er  freigelassen  werden  sollte,  da  beeinflusste 
der  Zwischenfall,  derBestuschews  Los  verschlimmerte, 
auch  sein  Schicksal,  so  dass  er  mit  einer  Rente  von 
einigen  hundert  Rubeln  nach  Kasan  verbannt  wurde, 
wo  er  starb;  seine  Frau  und  seine  Kinder  erhielten  in 
Venedig  von  mir  eine  Rente. 

Nach  manchen  vorbereitenden  Insinuationen,  die 
Bestuschews  Feindevon  allen  Seiten  heranholten,  um 
ihn  bei  Elisabeth  anzuschwärzen,  übernahm  es  der 
französische  Ambassadeur  Marquis  de  l'Hopital,  der 
Kaiserin  an  einem  Hoftag  zu  sagen  (indem  er  sich  ihr 
näherte,  als  wollte  er  ihr  Gewand  bewundern):  „Ma- 
dame, ein  Mann  ist  an  Ihrem  Hofe,  der  Ihnen  sehr 
gefährlich  werden  kann."  Er  sprach  diese  Worte  mit 
bedeutungsvoller  Miene.  Elisabeth  fragte  erschrocken, 
wer  es  denn  sei?  L'Hopital  nannte  Bestuschew  und 
entfernte  sich. 

Bestuschew,  der  vor  dem  im  Anzug  befindlichen 

27    Poniatowski  4'7 


Gewitter  gewarnt  wurde,  sah  alle  seine  Papiere  durch 
und  verbrannte  alles,  was  zu  vernichten  ihm  richtig 
schien;  nun  war  er  der  Meinung,  er  hätte  für  seine  Si- 
cherheit durchaus  genügend  gesorgt,  so  dass  er,  als 
man  ihn  im  Vorzimmer  der  Kaiserin  verhaftete,  ganz 
ruhig  und  beinahe  heiter  schien  und  seinen  Feinden 
sogar  mit  seiner  künftigen  Rache  drohte. 

Als  die  Kaiserin  sah,  dass  nichts  gefunden  wurde, 
woraus  man  Bestuschew  ein  Staatsverbrechen  nach- 
weisen konnte,  tat  es  ihr  leid,  dass  sie  ihn  hatte  ver- 
haften lassen;  schon  zitterten  seine  Feinde,  da  Hess 
Elisabeth  ihn  fragen,  ob  er  vom  Grafen  Brühl  das 
blaue  Band  des  Polnischen  Ordens  für  Baron  Stambke 
—  den  Minister  des  Grossfürsten  für  Holstein  —  er- 
beten hatte?  Stambke  war  eine  Kreatur  Bestuschews 
und  der  Grossfürstin  sehr  ergeben.  Es  ist  mir  nicht 
bekannt,  warum  Bestuschew  obige  Tatsache  leugnen 
wollte;  aber  er  leugnete  sie.  Elisabeth  liess  ihn  wie- 
derholt darnach  fragen  und  Bestuschew  verneinte  im- 
mer hartnäckiger;  er  ging  so  weit  zu  sagen,  er  sei  be- 
reit, die  Wahrheit  seiner  Aussage  auf  seinen  Eid  zu 
nehmen  und  zur  Bekräftigung  noch  das  Allerheiligste 
zu  empfangen.  Jetzt  wurde  ihm  ein  mit  Bleistift  ge- 
schriebenes Billett  vorgelegt,  das  er  selbst  an  seinen 
Sekretär  Kanzler  geschrieben  hatte  und  worin  er  ihm 
anbefahl,  ja  nicht  zu  vergessen,  was  er  ihm  in  dieser 
Hinsicht  aufgetragen.  Offenbar  war  dieser  Papierfetzen 
Bestuschew  bei  Durchsicht  seiner  Papiere  entgangen 
und  er  glaubte,  alles  verbrannt  zu  haben.  Jedoch  die- 
ser Meineid,  zu  dem  er  sich  wegen  einer  solchen  Ge- 
ringfügigkeit angeboten,  vernichtete  sein  Ansehen  in 
Elisabeths  Augen  völlig;  ihm  selbst  sank  der  Mut 
und  er  änderte  seinen  Ton,  als  er  sich  überführt  sah. 

4i8 


Da  man  ihm  jedoch  nichts  anderes  nachweisen 
konnte,  begnügte  sich  Elisabeth  damit,  ihn  nach  einer 
seiner  Besitzungen  in  der  Nähe  von  Moskau  zu  ver- 
bannen, von  wo  ihn  erst  Katharina  II.  zurückberief. 

Am  Tage  nach  der  Verhaftung  des  Kanzlers  musste 
ich  mich  zu  Hofe  begeben,  da  ein  Hoffräulein  der 
Kaiserin  verheiratet  wurde;  dies  war  ein  Hoffest,  dem 
beizuwohnen  die  Etikette  alle  ausländischen  Minister 
verpflichtete.  Ich  hörte  dort  einen  Höfling,  den  Gra- 
fen I.  C,  damit  prahlen,  dass  er  dem  armen  Bernardi 
den  Brillantenstern  nicht  bezahlen  werde,  den  er 
kürzlich  von  ihm  erhalten  hätte. 

Dem  Leser  wird  es  nicht  unwillkommen  sein,  die 
Beschreibung  der  Hochzeitsgebräuche  an  diesem  Hofe 
bei  Vermählung  eines  Hoffräuleins  zu  lesen,  so  wie 
sie  damals  üblich  waren. 

Sobald  die  Bewerbung  des  Freiers  von  den  Eltern 
und  der  Kaiserin  genehmigt  war,  verbrachte  er  täg- 
lich einige  Stunden  mit  seiner  Braut  in  solcher  In- 
timität, dass  es  erstaunlich  war,  wenn  dabei  keine 
Unzuträglichkeiten  vorfielen,  um  so  mehr,  als  für 
gewöhnlich  eine  beträchtliche  Zeitspanne,  manchmal 
über  ein  Jahr,  zwischen  der  Verlobung  und  dem 
Hochzeitstag  verstrich. 

Am  Abend  vor  dem  Vorabend  der  Hochzeit  wurde 
die  Ausstattung  des  Fräuleins  in  feierlichem  Aufzug 
nach  dem  Hause  des  Bräutigams  verbracht  und  dort 
aufgestellt,  und  die  ganze  Stadt  kam  sich  diese 
Ausstattung  ansehen  wie  in  einem  Kaufladen. 

Während  der  kirchlichen  Trauungszeremonie  hiel- 
ten zwei  assistierende  Verwandte  über  den  Köpfen 
des  Brautpaares  vergoldete  Kronen  aus  Holz.  Nach 
der  Trauung  führten  die  Hofmarschälle  mit  ihren 

27*  .      4i9 


silberverzierten  Stäben,  auf  deren  Spitze  Adler  thron- 
ten, einige  zeremonielle  Tänze  an,  gefolgt  von  den 
Neu  vermählten . 

Ein  kleiner  Baldachin,  der  über  der  Mitte  der 
Abendtafel  aufgehängt  war,  bezeichnete  den  Platz 
der  jungen  Frau;  der  junge  Ehemann  musste  über 
den  Tisch  steigen,  um  den  Platz  neben  ihr  einzu- 
nehmen, und  unterwegs  musste  er  einen  Blumen- 
kranz erhaschen,  der  über  der  jungen  Frau  aufge- 
hängt war.  Bei  der  Hochzeit,  von  der  ich  hier  be- 
richte, wurde  dieser  Teil  der  Zeremonie  vergessen, 
und  im  Publikum  verlautete,  genau  so  sei  es  auch 
mit  dem  anderen  Kränzchen  gegangen,  dessen  Raub 
das  Hemd  der  Neuvermählten  beweisen  sollte,  wel- 
ches der  Etikette  gemäss  am  darauffolgenden  Mor- 
gen in  einer  silbernen  Schachtel  der  Kaiserin  ad  hoc 
überbracht  wurde. 

Man  bat  mir  gesagt,  diese  Sitte  sei  durch  Peter  den 
Grossen  eingeführt  worden,  in  Anlehnung  an  Ge- 
bräuche, die  zu  seiner  Zeit  in  der  Schweiz  gepflogen 
wurden. 

Heute  sollen  alle  diese  Zeremonien  abgeschafft  und 
geändert  sein. 

Bestuschews  Ungnade  ging  mir  sowohl  wegen  der 
Dankbarkeit,  die  ich  ihm  schuldete,  als  auch  wegen 
des  Rückschlags  auf  die  Grossfürstin  so  nahe,  dass 
ich  einige  Wochen  hindurch  ernstlich  krank  war; 
damals  befielen  mich  zum  ersten  Mal  diese  heftigen 
Kopfschmerzen,  die  mich  seither  so  oft  quälten  und 
noch  jetzt,  wo  ich  dies  schreibe,  oft  heimsuchen. 
Mein  damaliger  Arzt  war  Boerhave,  ein  Neffe  jenes 
Arztes,  den  Holland  und  unser  Jahrhundert  den  mo- 
dernen Hippokrates  genannt  haben.  Der  Petersbur- 

420 


ger  Boerhave  war  taub;  um  sich  mit  seinen  Kran- 
ken verständigen  zu  können,  hatte  er  sich  einen 
Dolmetscher  angeschafft,  dessen  Worte  er  an  einem 
Alphabet  ablas,  das  durch  seine  fünf  Finger  und  ver- 
schiedene Stellungen  derselben  gebildet  wurde.  Er 
verstand  rasch  und  antwortete  mündlich,  äusserst 
geistreich  und  präzise,  so  dass  seine  Konversation  wirk- 
lich angenehm  war.  Eines  Tages  fand  er  auf  meinem 
Tische  Racines  Tragödien,  er  wollte  sie  mir  wegneh- 
men, indem  er  sagte:  „Sie  sind  schon  genugSchwarz- 
seher  und  Sie  brauchen  eine  lustigere  Lektüre." 

Obgleich  Lew  Alexandrowitsch  Narischkin  der 
Grossfürstin  seit  einiger  Zeit  Anlass  zum  Misstrauen 
gegeben  hatte,  musste  sie  sich  nach  der  Verhaftung 
Bernardis  wieder  an  ihn  wenden,  um  die  Verbindung 
mit  mir  von  neuem  aufzunehmen;  bald  war  es  wie- 
der ganz  wie  früher.  Übrigens  fand  auch  eine  An- 
näherung zwischen  der  Kaiserin  Elisabeth  und  der 
Grossfürstin  statt,  die  so  weit  ging,  dass  wir  beinahe 
hofften,  sie  begünstige  unsere  Liaison.  Diese  Hoff- 
nung trug  noch  mehr  zu  meiner  Wiederherstel- 
lung bei  als  die  Medizinen  Boerhaves.  Als  ich  jedoch 
dem  Prinzen  Karl  von  Sachsen,  der  damals  nach  Pe- 
tersburg kam,  einige  Werst  entgegenreiste,  war  ich 
noch  Rekonvaleszent  und  mein  Freund  Rzewuski  er- 
kannte mich  kaum.  Der  Frühling  und  die  Bewegung 
brachten  mich  aber  bald  wieder  auf  die  Beine. 

Dieser  Prinz  Karl,  der  Lieblingssohn  Augusts  III., 
war  gekommen,  weil  er  von  Elisabeth  die  Einwilli- 
gung zu  erlangen  hoffte,  an  Stelle  Birons  Herzog  von 
Kurland  werden  zu  dürfen,  sollte  dieser  nicht  mehr 
aus  dem  Exil  zurückberufen  werden.  Meine  Familie 
und  ich  selbst  sahen  zwar  dieses  Projekt  als  ungesetz- 

421 


lieh  an,  da  es  in  der  Öffentlichkeit  jedoch  nicht  be- 
kannt war  und  das  einzige  eingestandene  Ziel  der 
Reise  des  Prinzen  der  Wunsch  war,  sich  der  Kaiserin 
vorzustellen,  ehe  er  die  Kampagne  in  ihrer  Armee 
mitmachte,  so  glaubte  ich  dem  Sohne  meines  Herr- 
schers mit  grösster  Ehrfurcht  begegnen  zu  müssen. 
Prinz  Karl  war  von  eleganter  Gestalt,  äusserst  ge- 
wandt in  allen  körperlichen  Übungen,  und  obgleich 
er  im  übrigen  eine  recht  schlechte  Erziehung  genos- 
sen hatte,  erschien  er  an  der  Seite  des  Grossfürsten 
wie  ein  Phönix;  der  Grossfürst  fühlte  gar  bald,  wie 
nachteilig  ein  Vergleich  mit  dem  Prinzen  für  ihn  aus- 
fiel, ausserdem  sah  er  in  dem  Prinzen  mit  Unwillen 
einen  Sachsen,  einen  Feind  des  Königs  von  Preussen. 
Während  der  drei  Monate,  die  der  Prinz  in  Peters- 
burg zubrachte,  teilte  er  seine  Zeit  in  die  Stunden 
der  Cour  bei  der  Kaiserin  und  die  Stunden  seiner 
häuslichen  Vergnügungen.  Hauptsächlich  übte  er  sich 
im  Fechten;  bei  diesen  Übungen  kam  er  im  Florett- 
fechten auch  öfters  mit  der  berühmten  „Chevaliere" 
dEon1)  zusammen,  die  damals  als  Attache  der  Gesandt- 
schaft des  Marquis  de  THöpital  sich  in  Petersburg 
aufhielt  und  Dragoneruniform  trug.  Ich  selbst  habe 
auch  mit  ihr  —  oder  ihm  —  gefochten,  ohne  jemals 

J)  Charles  Genevieve  Eon  de  Beaumont,  bekannt  unter  dem 
Namen  Chevalier  d'Eon,  eine  mysteriöse  Persönlichkeit,  de- 
ren Geschlecht  unbestimmt  war.  Als  Knabe  erzogen,  wurde 
er  vom  Prinzen  Conti  Ludwig  XV.  zu  diplomatischer  Ver- 
wendung empfohlen,  der  ihn  1755  in  geheimer  Sendung 
nach  Petersburg  schickte,  wo  er  schon  wiederholt  in  weib- 
licher Kleidung  auftrat.  Unter  Ludwigs  XVI.  Regierung  musste 
er  in  Frankreich  auf  ausdrücklichen  Befehl  weibliche  Kleider 
tragen.   Anm.  d.  Herausg. 

422 


einen  Verdacht  wegen  ihres  Geschlechts  zu  hegen, 
das  jedoch,  wie  verlautete,  Elisabeth  bekannt  war. 

Unter  den  Kavalieren  des  prinzlichen  Gefolges  be- 
fand sich  auch  der  junge  Graf  Einsiedel 1),  ein  Sachse, 
in  dem  die  Anmut  der  Gestalt  sich  mit  dem  lie- 
benswürdigsten und  prächtigsten  Charakter  paar- 
ten. Der  sächsische  Resident  in  Petersburg,  Prasse, 
ein  dünkelhafter  Geck,  der  glaubte,  auf  mich  eifer- 
süchtig sein  zu  müssen,  hatte  Einsiedel  anfänglich 
gegen  mich  eingenommen,  weil  angeblich  meine 
Anglomanie  mich  von  meinen  Pflichten  hatte  ab- 
weichen lassen;  bald  jedoch  wurde  Einsiedel  aufge- 
klärt, liess  mir  Gerechtigkeit  widerfahren,  berichtete 
Günstiges  über  mich  an  seinen  Hof  und  wurde  mein 
Freund.  Ich  kann  nur  mit  aufrichtigstem  Bedauern 
daran  denken,  dass  ein  solcher  Untertan  durch  den 
Fanatismus  dieses  Zweiges  der  Herrnhuter,  die  „die 
Stillen  im  Lande"  genannt  wurden  und  denen  er 
blindlings  folgte,  seinem  Lande  und  der  Welt  ver- 
loren ging;  vielleicht  geschah  es  infolge  einer  ererb- 
ten Geistesstörung,  der  auch  seine  Mutter  unterlag. 

Auf  einer  kleinen  Reise,  die  wir  in  Begleitung  des 
Prinzen  Karl  nach  Schlüsselburg  unternahmen,  um 
den  dortigen  Kanal  zu  sehen,  logierte  ich  mit  ihm. 
Wir  bemerkten,  dass  einer  der  Hoflakaien,  die  man 
zum  Dienste  des  Prinzen  bestimmt  hatte,  unabläss- 
lich  hin  und  her  ging,  so  dass  wir  ihn  endlich  nach 
dem  Grund  fragten,  nachdem  wir  ihm  erst  ein  Ge- 
schenk übergeben;  er  sagte  uns  ganz  naiv:  „ich  bin 
sehr   beschäftigt,   denn  ich   bin   für  diese  Reise  zum 

a)  Graf  Johann  Georg  Friedrich  Einsiedel  (i73o — i  8  i  i), 
Kammerherr,  später  Gesandter  in  England  und  zuletzt  Kabi- 
nettsminister  des  Königreichs  Sachsen.  Anm.  d.  Herausg. 

423 


Vizespion  ernannt,  da  der  Konfiseur,  das  Oberhaupt 
der  Spione,  erkrankt  ist." 

Diese  kleine  Anekdote  scheint  mir  für  den  Geist 
und  die  Gewohnheiten  dieses  Hofes  zu  jener  Zeit 
charakteristisch. 

Sicherlich  konnten  weder  der  Prinz  noch  einer  von 
uns  der  Grund  irgend  einer  politischen  Beunruhigung 
sein,  vor  allem  an  diesem  Orte  und  auf  dieser  Reise, 
bei  der  übrigens  Graf  Iwan  Tschernischew  präsidierte 
und  bei  der  zweimal  soviel  Russen  jeden  Ranges  an- 
wesend waren  als  Ausländer.  Aber  Peter  I.  hatte  ge- 
sagt, es  muss  spioniert  werden,  also  wurde  spioniert, 
im  grossen  wie  im  kleinen. 

Der  schönste  Mann  des  prinzlichen  Gefolges  war 
zweifellos  Graf  Franz  Rzewuski,  damals  Kronsekretär. 
Elisabeth  schien  seinen  Reizen  gegenüber  nicht  un- 
empfindlich zu  sein,  jedoch  setzte  die  eifersüchtige 
Aufmerksamkeit  Iwan  Schuwalows  dieser  keimenden 
Neigung  Hindernisse  in  den  Weg.  Ein  peinlicher 
Vorfall  hätte  es  beinahe  zu  einem  unangenehmen 
Eklat  zwischen  ihnen  gebracht. 

Eines  Nachmittags  waren  wir,  einige  Polen  und 
Russen,  bei  Iwan  Schuwalow,  wo  es  unglücklicher- 
weise gerade  mir  einfiel,  ein  Gesellschaftsspiel  vorzu- 
schlagen, das  „Sekretär"  genannt  wird. 

Jeder  bekam  ein  Blatt  Papier,  worauf  der  Name 
irgend  eines  der  Mitspielenden  geschrieben  stand, 
und  durfte  über  den  Träger  dieses  Namens  mit  ver- 
stellter Handschrift  auf  das  Blatt  niederschreiben, 
was  ihm  beliebte;  nach  der  ersten  Verteilung  wurde 
als  erste  Karte  jene  verlesen,  die  den  Namen  Iwan 
Schuwalow  trug,  und  da  stand  geschrieben:  „iver 
ihn  von   Grund  auf  kennt,  wird  zugeben,  dass  er  der 

424 


-C 
X. 


Freundschaft  eines  anständigen  Menschen  nicht  wür- 
dig ist.'1 

Schuwalow  war  wütend  und  erging  sich  in  den 
schrecklichsten  Drohungen  gegen  den  Urheber  die- 
ser Beleidigung;  ich  sah  es  seinen  Blicken  an,  dass 
er  Rzewuski  verdächtigte.  Da  sagte  ich  zu  ihm:  „Ich 
werde  Ihnen  den  Namen  jenes  Mannes,  der  diese  Worte 
geschrieben  hat,  nicht  nennen,  obgleich  ich  es  gesehen 
habe;  ich  will  ?nich  darauf  beschränken  Ihnen  zu  ver- 
sichern, dass  es  kein  Pole  war." 

Nach  einigen  Minuten  des  Schweigens  sah  ich, 
dass  Schuwalow  und  Iwan  Tschernischew  in  Streit 
gerieten,  und  wir  erfuhren  später,  dass  Tschernischew 
sich  als  der  Autor  dieser  Worte  bekannt  hatte.  Schu- 
walow hatte  ihm  nicht  nach  Wunsch  gedient,  als  er 
bei  der  Kaiserin  um  eine  Gnade  nachsuchte,  obgleich 
Schuwalow  ihm  zu  Dank  verpflichtet  war,  weil  er 
ihm  bei  einer  Intrige  mit  einer  Frau  beigestanden 
hatte,  auf  die  die  Kaiserin  stets  sehr  eifersüchtig  ge- 
wesen war.  Tchernischew  hielt  Schuwalow  du  ich 
dieses  Geheimnis  in  Schach,  und  so  geschah  es,  dass 
Schuwalow  mit  allen  Mitteln  dieses  Rencontre  zu 
verheimlichen  suchte,  das  Tschernischew  absichtlich 
heraufbeschworen  hatte. 

Im  Gefolge  des  Prinzen  Karl  befand  sich  auch 
Branicki,  der  heutige  Grosshetman.  Damals  noch  sehr 
jung,  hatte  er  sich  doch  bereits  in  zwei  Kampagnen 
ausgezeichnet,  die  er  als  Freiwilliger  in  der  öster- 
reichischen Armee  mitgemacht  hatte,  im  Gefolge  des 
Prinzen  Karl.  Gleich  nach  der  Ankunft  in  Petersburg 
bezeugte  er  mir  ein  so  grosses  und  ritterliches  Ver- 
langen, meine  Freundschaft  zu  gewinnen,  dass  ich 
ihn     bei     einem     sonderbaren     Abenteuer     auf    die 

425 


Probe  zu  stellen  gedachte,  worüber  ich  hier  berich- 
ten will. 

Da  die  Wendung,  die  die  Angelegenheit  des  Kanz- 
lers genommen  hatte,  und  alle  anderen  Umstände 
am  Petersburger  und  am  Warschauer  Hofe  für  mich 
immer  misslicher  wurden,  hielt  ich  es  für  richtig, 
mich  auf  einige  Zeit  aus  Russland  beurlauben  zu 
lassen,  unbeschadet  meiner  späteren  Rückkehr. 

Dies  veranlasste  mich,  meine  nächtlichen  Resuche 
nach  Oranienbaum,  wo  der  junge  Hof  damals  resi- 
dierte, noch  häufiger  zu  unternehmen,  vor  allem  als 
mein  Aufenthalt  in  Peterhof  ä  la  suite  des  Prin- 
zen  Karl  mich  dem  Ziel  meiner  Ausflüge  um  zwei 
Drittel  des  Weges  näher  brachte. 

Da  bisher  alles  immer  gut  abgelaufen  war  und  ich 
mich  an  die  Verkleidung  und  an  alle  Einzelheiten, 
die  diese  Ausflüge  ermöglichten,  schon  völlig  ge- 
wöhnt hatte,  schien  mir  jede  Gefahr  entschwunden, 
und  so  wagte  ich  am  6.  Juli  einen  Ausflug,  ohne 
mich  vorher  mit  der  Grossfürstin  verständigt  zu  ha- 
ben, wie  ich  es  bisher  immer  getan.  Ich  mietete,  wie 
gewöhnlich,  einen  kleinen  verdeckten  Wagen,  den 
ein  russischer  Iswoschtschik  fuhr,  ohne  mich  zu  ken- 
nen; auf  dem  Rücksitz  des  Wagens  sass  derselbe  ver- 
kleidete Läufer,  der  mich  bisher  stets  begleitet  hatte. 

In  dieser  Nacht  (in  Russland  war  es  keine  Nacht) 
begegneten  wir  unglücklicherweise  im  Walde  von 
Oranienbaum  dem  Grossfürsten  mit  seinem  ganzen 
Gefolge,  alle  halb  betrunken.  Man  fragt  den  Iswosch- 
tschik, wen  er  da  fahre?  Er  antwortet,  er  wisse  es 
nicht.  Mein  Läufer  erwidert,  ich  sei  ein  Schneider. 
Man  lässt  uns  vorbei,  aber  Elisabeth  Woronzow,  ein 
Hoffräulein  der  Grossfürstin  und  die  Maitresse  des 

426 


Grossfürsten,  spricht  über  diesen  angeblichen  Schnei- 
der Vermutungen  aus,  die  den  Grossfürsten  in  die 
schlechteste  Laune  versetzen. 

x\h  ich  einige  Stunden  bei  der  Grossfürstin  ver- 
bracht hatte  und  den  abseits  gelegenen  Pavillon  ver- 
liess,  den  sie  damals  unter  dem  Vorvvand  der  Bäder 
bewohnte,  wurde  ich  nach  einigen  Schritten  von  drei 
berittenen  Männern  mit  gezückten  Säbeln  angefallen, 
die  mich  am  Kragen  packten  und  dem  Grossfürsten 
vorführten;  als  er  mich  erkannte,  gab  er  meinen  Be- 
gleitern bloss  den  Befehl,  ihm  zu  folgen.  Wir  gingen 
einen  Weg,  der  zum  Meer  führte.  Ich  dachte  mein 
Ende  gekommen;  am  Ufer  jedoch  wendeten  wir  nach 
rechts  und  gingen  nach  einem  anderen  Pavillon,  wo 
der  Grossfürst  mich  mit  unzweideutigen  Worten 
fragte,  ob  ich  Beziehungen  zu  seiner  Frau  hätte. 

Ich  verneinte. 

Er:  „Sagen  Sie  die  Wahrheit,  denn  wenn  Sie  die 
Wahrheit  sagen,  so  kann  man  noch  alles  arrangieren, 
wenn  Sie  leugnen,  so  wird  es  Ihnen  übel  ergehen." 

Ich:  „Ich  kann  doch  nicht  gestehen,  dass  ich  etwas 
getan  habe,  was  ich  nicht  getan  habe." 

Jetzt  ging  er  in  das  angrenzende  Zimmer,  wo  er 
sich  mit  den  Leuten  seines  Gefolges  zu  besprechen 
schien;  kurz  darauf  trat  er  wieder  ein  und  sagte: 

Er:  „Nun,  da  Sie  nicht  reden  wollen,  so  werden 
Sie  bis  auf  weiteres  hier  bleiben."  Und  er  verliess 
mich.  An  der  Tür  stand  ein  Posten,  mit  mir  im  Zim- 
mer blieb  nur  General  Brockdorf  zurück. 

Wir  verharrten  im  tiefsten  Schweigen  während 
zwei  Stunden,  nach  deren  Ablauf  Graf  Alexander 
Schuwalow  eintrat,  der  Vetter  des  Günstlings.  Es 
war  der  Grossinquisitor,  der  Chef  jener  fürchterlichen 

427 


Staatseinrichtung,  die  man  in  Russland  „die  Geheim- 
kanzlei" nannte.  Als  wollte  die  Natur  das  Entsetzen, 
das  schon  allein  die  Nennung  seines  Amtes  erweckte, 
noch  vergrössern,  hatte  sie  ihn  mit  nervösen  Zuckun- 
gen behaftet,  die  sein  schon  sowieso  hässliches  Ge- 
sicht in  der  fürchterlichsten  Weise  verzerrten,  sobald 
er  sich  mit  irgend  etwas  ernsthaft  beschäftigte. 

Sein  Erscheinen  brachte  mir  die  Gewissheit,  dass  die 
Kaiserin  von  allem  wusste.  Er  stammelte  mit  verlege- 
ner Miene  einige  Worte,  aus  denen  ich  erriet,  dass  er 
von  mir  Aufklärung  über  das  Vorgefallene  verlangte. 

Anstatt  ihm  Einzelheiten  zu  berichten,  sagte  ich : 

„Ich  glaube,  Sie  werden  verstehen,  dass  die  Ehre 
Ihres  Hofes  verlangt,  dies  hier  mit  dem  geringsten 
Aufsehen  zu  beenden,  und  dass  Sie  mich  möglichst 
rasch  aus  dieser  Situation  befreien." 

Er  (immer  noch  stammelnd,  da  er  noch  zum  Über- 
fluss  ein  Stotterer  war):  „Sie  haben  Recht,  ich  werde 
mich  damit  befassen." 

Er  entfernte  sich  und  kehrte  nach  weniger  als  ei- 
ner Stunde  wieder  um  mir  zu  sagen,  mein  Wagen 
sei  bereit  und  ich  könne  nach  Peterhof  zurückkehren. 

Es  war  eine  elende  Karosse,  ganz  aus  Glas,  viel- 
mehr rund  herum  aus  Scheiben,  wie  eine  Laterne. 
In  diesem  angeblichen  Inkognito  musste  ich,  um 
sechs  Uhr  morgens,  am  hellichten  Tage,  mit  den 
beiden  Rossen  langsam  durch  den  tiefen  Sand  dahin- 
ziehen, und  diese  Reise  schien  mir  eine  Ewigkeit  zu 
dauern. 

In  einiger  Entfernung  von  Peterhof  liess  ich  hal- 
ten: ich  schickte  den  Wagen  zurück  und  legte  den 
Rest  des  Weges  zu  Fuss  zurück,  in  meinem  grossen 
Kragen  und  meiner  grauen  Mütze,  die  ich  mir  tief 

428 


über  die  Ohren  herabzog.  Man  hätte  mich  für  einen 
Räuber  halten  können,  aber  immerhin  lenkte  ich  die 
Aufmerksamkeit  der  Neugierigen  jetzt  weniger  auf 
mich,  als  in  jenem  Wagen. 

An  dem  hölzernen  Gebäude  angelangt,  wo  ich  mit 
mehreren  Kavalieren  der  Suite  des  Prinzen  Karl  in 
den  niederen  Zimmern  des  Erdgeschosses  logierte, 
dessen  Fenster  alle  offen  standen,  wollte  ich  nicht 
durch  die  Türe  eintreten,  um  niemandem  zu  begeg- 
nen; ich  dachte  weiss  Gott  wie  klug  zu  handeln,  in- 
dem ich  mein  Zimmer  durchs  Fenster  betrat;  aber  ich 
irrte  mich  im  Fenster  und  sprang  mit  einem  Satz  in 
das  Zimmer  meines  ISachbars,  des  Generals  Roniker, 
der  sich  gerade  rasieren  Hess.  Er  glaubte  ein  Phantom 
vor  sich  zu  sehen:  einige  Augenblicke  standen  wir 
einander  stumm  gegenüber,  dann  brachen  wir  in 
Gelächter  aus.  Ich  sagte: 

„Fragen  Sie  nicht,  woher  ich  komme,  auch  nicht, 
weshalb  ich  durch  das  Fenster  gesprungen  bin,  aber 
als  treuer  Landsmann  müssen  Sie  mir  Ihr  Ehrenwort 
geben,  dass  Sie  nichts  hiervon  erwähnen  werden." 

Er  gab  mir  sein  Wort,  und  ich  legte  mich  nieder, 
aber  ich  konnte  nicht  einschlafen. 

Zwei  Tage  verbrachte  ich  in  der  schrecklichsten 
Ungewissheit.  Ich  sah  es  allen  Mienen  ao,  dass  mein 
Abenteuer  bekannt  war,  aber  kein  Mensch  sprach  mit 
mir  darüber.  Schliesslich  fand  die  Grossfürstin  Mittel 
und  Wege,  mir  ein  Billett  zukommen  zu  lassen,  aus 
dem  ich  ersah,  dass  sie  Schritte  unternommen  hatte, 
um  die  Maitresse  des  Grossfürsten  zu  gewinnen.  Am 
übernächsten  Tage  kam  der  Grossfürst  mit  seiner 
Frau  und  seinem  ganzen  Hofe  nach  Peterhof,  um 
den  St.  Peterstag  (den  29.  Juni  a.  St.,  II.  Juli  n.  St.) 

429 


dort  zu  verbringen,  einen  Hoffesttag  zu  Ehren  des 
Begründers  dieses  Ortes. 

Am  gleichen  Abend  war  Hofball;  ich  tanzte  mit 
Elisabeth  Woronzow  Menuett  und  sagte  ihr  bei  die- 
ser Gelegenheit :  „Sie  könnten  einige  Menschen  glück- 
lich machen."  Sie  antwortete:  „Es  ist  so  gut  wie  ge- 
schehen, kommen  Sie  eine  Stunde  nach  Mitternacht 
mit  Lew  Alexandro witsch  zum  Pavillon  Monplaisir, 
wo  I.  K.  Hoheiten  logieren,  in  den  unteren  Garten." 
Ich  drücke  ihr  die  Hand;  ich  bespreche  mich  mit 
Lew  Alexandrowitsch  Narischkin.  Er  sagt:  „Kommen 
Sie,  Sie  werden  den  Grossfürsten  dort  treffen." 

Ich  überlegte  einen  Augenblick,  dann  sagte  ich  zu 
Branicki:  „Willst  du  es  riskieren,  heute  Nacht  mit 
mir  im  unteren  Garten  zu  promenieren?  Gott  weiss, 
wohin  diese  Promenade  uns  führen  wird,  voraussicht- 
lich aber  wird  sie  ein  gutes  Ende  nehmen."  Er  willigt 
ein  ohne  zu  zögern  und  wir  begeben  uns  zu  besagter 
Stunde  nach  dem  besagten  Orte.  Einige  zwanzig 
Schritte  vor  dem  Salon  begegne  ich  Elisabeth  Wo- 
ronzow, die  zu  mir  sagt:  „Sie  müssen  etwas  warten, 
denn  einige  Leute  rauchen  noch  ihre  Pfeifen  mit  dem 
Grossfürsten  und  er  will  sie  erst  los  sein,  ehe  er  Sie 
sehen  will."  Sie  entfernt  sich  mehrmals,  um  den 
richtigen  Moment  zu  erspähen.  Schliesslich  sagt  sie: 
„Treten  Sie  ein!"  Und  der  Grossfürst  kommt  mit  hei- 
terer Miene  auf  mich  zu  und  sagt: 

„Du  bist  ein  grosser  Narr,  dass  du  dich  mir  nicht 
rechtzeitig  anvertraut  hast.  Hättest  du  es  getan,  so 
wäre  dieser  Eklat  nicht  passiert!" 

Ich  ging  auf  alles  ein  (wie  man  wohl  glauben  wird) 
und  begann  mich  sofort  über  die  tiefe  Weisheit  der 
militärischen  Anordnungen  S.  K.  Hoheit  auszulassen, 

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denen  ich  unmöglich  hatte  entrinnen  können.  Das 
schmeichelte  ihm  ausserordentlich  und  versetzte  ihn 
in  die  beste  Laune,  so  dass  er  nach  einer  Viertelstunde 
sagte: 

„Da  wir  nun  also  gute  Freunde  sind,  so  fehlt  uns 
hier  noch  jemand." 

Daraufhin  geht  er  in  das  Zimmer  seiner  Frau, 
zieht  sie  aus  dem  Bette,  lässt  ihr  nur  so  viel  Zeit, 
Strümpfe  anzuziehen  und  einen  Schlafrock  überzu- 
werfen (nicht  einmal  Schuhe  noch  einen  Unterrock 
darf  sie  anlegen),  führt  sie  in  diesem  Aufzug  herein 
und  sagt  zu  ihr,  auf  mich  weisend : 

„Nun  also,  hier  ist  sie.  Ich  hoffe,  man  wird  mit  mir 
zufrieden  sein." 

Sie  benützt  die  Gelegenheit  und  sagt  schlagfertig: 
„Es  bedarf  nur  noch  einiger  Zeilen  von  Ihnen  an  den 
Vizekanzler  Woronzow,  um  ihn  zu  bitten,  er  solle  in 
Warschau  die  schleunigste  Rückkehr  Ihres  Freundes 
an  unseren  Hof  erwirken." 

Der  Grossfürst  verlangt  einen  Tisch  zum  Schreiben. 
Man  findet  nur  ein  Brett,  das  man  ihm  über  die 
Kniee  legt;  und  er  schreibt  mit  Bleistift  ein  dringli- 
ches Billett  an  Woronzow  in  dieser  Sache;  mir 
übergibt  er  einen  gleichfalls  mit  Bleistift  geschriebe- 
nen Zettel,  von  seiner  Maitresse  mit  unterzeichnet, 
den  ich  noch  im  Original  besitze: 

„Sie  können  versichert  sein,  dass  ich  alles  unter- 
nehmen werde,  damit  Sie  hierher  zurückkehren  kön- 
nen. Ich  werde  mit  jedermann  darüber  sprechen  und 
werde  Ihnen  beweisen,  dass  ich  Sie  nicht  vergesse. 

„Ich  bitte  Sie,  mich  nicht  zu  vergessen  und  zu 
glauben,  dass  ich  stets  Ihre  Freundin  bleiben  und 
dass   ich    mein    möglichstes   tun    werde,    um    Ihnen 

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zu  dienen.  Ich  verbleibe  Ihre  Ihnen  sehr  gewogene 
Dienerin  Elisabeth  de  Woronzow." 

Hierauf  plauderten  wir  alle  sechs  miteinander, 
machten  allerhand  Scherze  mit  einer  kleinen  Fon- 
täne, die  sich  im  Salon  befand,  als  hätten  wir  nicht 
die  geringsten  Sorgen  gehabt,  und  trennten  uns  erst 
gegen  vier  Uhr  morgens. 

So  verrückt  dies  wohl  erscheinen  mag,  —  ich  ver- 
sichere, dass  es  die  reine  Wahrheit  ist;  hier  begann 
meine  Intimität  mit  Branicki. 

Am  nächsten  Tage  machten  mir  alle  wieder  freund- 
liche Mienen.  Der  Grossfürst  veranlasste  mich  noch 
viermal,  meine  Ausflüge  nach  Oranienbaum  zu  wie- 
derholen. Ich  kam  des  Abends  an;  ich  begab  mich 
auf  einer  heimlichen  Treppe  nach  dem  Appartement 
der  Grossfürstin;  dort  traf  ich  den  Grossfürsten  mit 
seiner  Maitresse.  Wir  soupierten  gemeinsam,  dann 
entführte  er  seine  Maitresse,  indem  er  zu  uns  sagte: 
,fNun,  meine  Kinder,  ich  glaube,  ihr  braucht  mich 
nicht  mehr"  ;  und  ich  blieb,  solange  ich  wollte. 

Iwan  Iwanowitsch  sagte  mir  nur  Angenehmes, 
ebenso  Woronzow.  Ich  hatte  jedoch  Gelegenheit  zu 
bemerken,  dass  dies  alles  nicht  ganz  aufrichtig  war 
und  dass  ich  abreisen  musste.  Die  Bewilligung  hatte 
ich  bereits ;  endlich  verliess  ich  Petersburg  am 

Auf  meiner  Reise  wurde  ich  vom  Unglück  ver- 
folgt; alle  Unfälle,  die  einem  Reisenden  begegnen 
können,  hielten  mich  auf.  Erst  nach  drei  Wochen 
langte  ich  in  Siedice  an,  wohin  mein  Vater  und  meine 
Mutter  sich  nach  dem  Tode  meiner  am  20.  Februar 
dieses  Jahres  verstorbenen  Grossmutter  Czartoryska 
zurückgezogen  hatten. 

Schluss  des  ersten  Bandes. 


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Gedruckt  für  den  Verlag  Georg  Müller  in  München 
bei  Mänicke  und  Jahn  in  Rudolstadt,  nach  Entwür- 
fen von  Paul  Renner  gebunden  von  Hübel  &  Denck 
in  Leipzig.  Zweihundertfünfzig  Exemplare  wurden 
auf  holländischem  Bütten  abgezogen  und  in  Ganz- 
leder gebunden.  Einhundertfünfzig  Exemplare  hiervon 
werden  für  die  Gründer  des  Unternehmens  reserviert. 


Stanislaw   II  August 
Die  Memoiren 


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